James Salter: „Alles, was ist“

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Verloren zwischen Small-Talks und Sex

Der 1925 geborene, US-amerikanische Schriftsteller James Salter starb im Sommer dieses Jahres. Sein Roman „Alles, was ist“, 2013 als sechster Roman nach über 30 Jahren Pause geschrieben, muss demnach als Spätwerk und literarisches Vermächtnis gelesen werden. Das Werk wurde im Jahr des Erscheinens von Beatrice Howeg ins Deutsche übersetzt.

Meine Kenntnis der US-amerikanischen Literatur ist durch große Lücken gekennzeichnet, weshalb mir eine Einordnung des Autors und seines Werk in einen Gesamtzusammenhang schwer fällt. Auf der Coverrückseite wird Salter in einem Atemzug mit Philip Roth genannt, der schon lange als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gilt.

Salter entwirft eine Gesellschaftsbild der amerikanischen Mittelschicht, das vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhundert reicht.

Der Erzähler begleitet Philip Bowman durchs Leben, wie er im Krieg gegen die Japaner kämpft, wie er nach dem Krieg sich beruflich orientiert, wie er, mehr Zufall als Absicht, eine Lektorenstelle in einem Verlag bekommt und fortan von diesem Beruf leben kann. Bowman heiratet, die Ehe scheitert. Affären und Liebschaften zeichnen sein Privatleben aus, die Arbeit an Texten anderer sein berufliches Schaffen. Schnittpunkte dieser Welten sind oft Partys, bei denen aus geschäftlichen Kontakten private werden.

Der Erzähler verlässt gerne seine Figur und weilt für kurze Zeit bei anderen Menschen, stellt sie vor, lässt sie sprechen, wechselt dann den Standort. Ein Verfahren, das diesen Partys mit den sie anfüllenden Small-Talks gleich kommt. Das führt zu einer schnell anwachsenden Anzahl von Personen, ein Geäst von Gesprächen, die sich jedoch sehr schnell verflüchtigen, weil sie im Grunde keine Substanz haben. Der Small-Talk als Kitt des Bildungsbürgertums, das weitgehend wohlbehalten durch wirtschaftliche Krisen kommt und sich existenziellen Ängsten nicht stellen muss.

Freilich schmerzt es Bowman. als er per Gerichtsbeschluss jenes Haus an seine Geliebte Christine verliert, für das er doch die letzten Reserven zusammengeholt hat. Nein, aus der Portokasse wurde dieser Altbau auf dem Land nicht bezahlt. Bowman musste sich strecken, einen Kredit aufnehmen. Dann verlässt sie ihn für einen anderen und betrügt ihn ums Haus.

Doch der Job im Verlag, das Leben in New York, geht weiter. Eines Tages trifft er Anet, Christines 20-jährige Tochter. Es kommt, wie es im Roman kommen muss. Sie reden, er lädt sie zu sich ein, er zaubert plötzlich ein Stück Shit hervor, beide dröhnen sich zu und am Ende hat er Sex mit ihr. Er lädt sie nach Paris ein – wir erinnern uns: die Stadt der Liebe, ein viel bemühtes Klischee. Anet geht mit und irgendwie denken wir Lesenden während weiterer Ejakulationen über Henry Miller nach, über „Stille Tage in Clichy“ und die Möglichkeit einer Verwandtschaft von »Clichy« und »Klischee«. Er lässt die junge Frau mit etwas Geld für die Rückreise zurück, macht sie aus dem Staub. Christine wird ihre Tochter am JFK abholen und sagen: „Er wollte dir zeigen, was für eine kleine Hure du bist. Wirklich schwer hast du es ihm ja nicht gemacht.“

Bowmans Libido ist noch nicht abgekühlt. Mit Ann will er nach Italien, eine weitere Verortung romantischer Klischees. Der Roman endet mit den Sätzen:

Seine Gedanken trieben weiter, zu der großen Trauerstadt mit ihren palazzos und unbewegten Kanälen und den Löwen, die ihr gefürchtetes Wahrzeichen waren.
„Weißt du“, sagte er. „Ich habe an Venedig gedacht. Ich weiß nicht, ob Wells recht hat, was die richtige Zeit betrifft. Der Januar ist verdammt kalt. Ich glaube, es wäre besser, früher zu fahren. Und was die Leute angeht, und wenn schon. Ich kann ihn nach Hotels fragen.“
„Meinst du wirklich?“
„Ja. Lass uns im November fahren. Es wird großartig werden.“

In diesem Panoramabild der US-amerikanischen Gesellschaft dürfen bestimmte Themen nicht fehlen. Wie Salter diese in die Substanzlosigkeit des Small-Talks reinpresst, mag vielleicht eine Metapher des Lebens sein: Schön, dass wir darüber gesprochen haben! Meine Wertschätzung erfährt dieses Verfahren nicht.

„Ich muss sagen, das Wort »gay« gefällt mir irgendwie nicht“, sagte er. „Dafür sind sie zu gewichtig. Vielleicht nennen sie sich ja untereinander »gay«. Oder die römischen Kaiser, die kann man auch nicht wirklich »gay« nennen. Sie vertrieben sich vielleicht ihre Zeit in Bädern mit irgendwelchen Jünglingen, die für ihre Gelüste aufkamen, aber sie »gay« zu nennen, kommt mir komisch vor. Verkommen, vergnügungssüchtig, pädophil, aber nicht »gay«. Es zerstört die Würde ihrer Perversion.“

Bei einem Dinner mit dem Verlagschef Baum und seiner Gattin lernt Bowman ein weiteres Paar kennen und deren jüdische Identität spielt plötzlich eine Rolle in Bowmans Gedanken:

„Während sie beisammensaßen, wurde Bowman immer bewusster, dass er nicht dazugehörte, dass er ein Außenseiter war. Sie waren ein Volk, sie erkannten und verstanden einander, sogar als Fremde. Sie trugen es in ihrem Blut, etwas, das man nicht lernen konnte. Sie hatten die Bibel geschrieben mit allem, was daraus hervorging, das Christentum, die ersten Heiligen, und doch war da etwas an ihnen, dass Hass auf sich zog, weswegen sie geschmäht wurden, vielleicht waren es die alten Bräuche, ihre Kenntnisse in Gelddingen […].“

Sofern ich lesen kann, werden hier homophobe und antisemitische Klischees ausgebreitet.