Drago Jančar: „Die Nacht, als ich sie sah“

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Der slowenische Schriftsteller Drago Jančar, 1948 im Maribor geboren, nimmt ein historisches Ereignis des Zweiten Weltkriegs auf, um in seinem neuen Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ die Frage nach Schuld und Wahrheit zu stellen.

Zu Beginn des Jahres 1944 wird ein Ehepaar von Partisanen aus einem Schloss in Slowenien gebracht. Die beiden werden der Kollaboration mit den SS verdächtigt. Leo Zarnik stirbt an Schlägen und Folterungen, Veronika, diese junge, attraktive, lebenshungrige und unabhängige Frau mehrfach vergewaltigt und schließlich getötet.

Die Geschichte wird aus fünf Perspektiven erzählt, die Jančar in einem Interview mit KunstundKultur (Print-Ausgabe 5|15) als eigentlich fünf Poeme verstanden haben möchte.

1950 hat der japanische Regiesseur Akira Kurosawa mit seinem Film „Rashōmon“ eine Vorlage für diese auf Perspektivwechsel beruhende Erzählweise etabliert. Ich bin mir sicher, Jančar kennt diesen Filmklassiker. Obwohl der Slowene seine Geschichte weiter ausbreitet als Kurosawa die Ereignisse in seinem Wald der Dämonen, ist doch verblüffend, wie sich die Charakterisierung des Films mit der Intension des Buches deckt. Auch im Film geht es um die Vergewaltigung der Frau und die Ermordung des Mannes in einer Endzeit, in der der bevorstehende Untergang Werte auslöscht und die Macht mit nackter Gewalt gesichert bzw. erobert wird.

In wikipedia lesen wir über den japanischen Klassiker: „[…] Die tragenden Themen des Films sind die Begriffe der Erinnerung, der Wahrheit und der Faktizität. […] Gibt es überhaupt die Wahrheit? Oder nur mehrere ganz persönliche Teilwahrheiten? […] Aus psychologischer Sicht steht die Existenz der Realität nicht zur Debatte, aber ihre Widerspiegelung durch direkte und indirekte Beobachter, die sich vom Geschehen ihre eigenen gedanklichen Konstrukte bilden. Das Phänomen wird heute mitunter als Rashomon-Effekt bezeichnet, ist jedoch in wissenschaftlich ausgearbeiteter Form in anderen Theorien, zum Beispiel als kognitive Verzerrung oder selektive Wahrnehmung, bekannt.“

KunstundKultur: „[…] Ein vielschichtiges Gesellschaftsbild zur Zeit des Faschismus entsteht. Hatten Sie dabei im Sinn, dass es keine absolute Wahrheit gibt?
Drago Jančar: „Genau das. Alle haben ihre Wahrheit, und alle wissen genau Bescheid, aber alle irren sich […].“

Die sich irren sind: der serbische Offizier Stevan Radanovic, der Veronika noch zu Friedenszeiten das Reiten beibringt und sich dabei in sie verliebt; Veronikas Mutter, die bereut, Veronika und Stevan auseinandergebracht zu haben; der Wehrmachtsarzt Horst Hubmayer, der von Veronika gebeten wird, die Freilassung eines Bauern, der von der SS verhaftet wurde, zu erreichen; die Haushälterin auf dem Schloss von Leo und Veronika; schließlich Ivan Jeranek, jener Bauer, der nichts von der Fürsprache Hubmayers weiß, im Gefängnis beobachtet, wie dieser mit dem verhassten SS-Kommandanten Wallner spricht, daraus seine Schlüsse zieht, sich nach der Freilassung den Partisanen anschließt und die Geschehnisse ins Rollen bringt.

In dem Interview sagt Jančar: „[…] Wir sollten uns erinnern, dass in Deutschland erst in den 60er Jahren begonnen wurde, mit diesen Dingen reinen Tisch zu machen. In Slowenien und anderen ehemals kommunistischen Ländern haben wir erst jetzt, 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, begonnen, die Vergangenheit aufzuarbeiiten.“

Das ist deckungsgleich mit den Aussagen der Kroatin Daša Drndić (*1946) und des Slowenen Dušan Šarotar (* 1968), die im Café Europa auf der Leipziger Buchmesse 2015 in einer gemeinsamen Lesung ein Plädoyer gegen das Vergessen gehalten haben.

„Die Nacht, als ich sie sah“ wurde von Daniela Kocmut und Klaus Detlef Olof übersetzt.