Literaturzeitschrift alba08: „Literatura chilena emergente / Aufstrebende chilenische Literatur“

alba08

In der Rezension zu Antonia Torres: Umzug – Mudanza habe bereits über die Literaturzeitschrift alba. lateinamerika lesen gesprochen. Die Ausgabe alba 08 widmet sich der zeitgenössischen chilenischen Literatur und bietet mit einer Sammlung von Kurzprosa, Romanausschnitten, Lyrik sowie Interviews und literaturhistorischen Essays eine kompakte Annäherung an die Literatur dieses südamerikanischen Landes.

Die Mehrzahl der 28 Autorinnen und Autoren sind in den siebziger oder achtziger Jahren geboren. In annähernd allen Beiträgen wird die Erinnerung beschworen. Es wird auch dem Außenstehenden deutlich, wie die chilenische Gesellschaft durch die Pinochet-Diktatur unterjocht wurde.

Ich werde anhand einiger Textbeispiele aufzeigen, wie dieses belastete Erbe durch die junge Generation verarbeitet wurde. Doch zuvor möchte ich Benjamin Loy, verantwortlicher Redakteur von alba 08 und Übersetzer mehrere Texte in dieser durchgängig zweisprachigen Ausgabe, fragen, wo er Unterschiede im Umgang mit dem totalitären Erbe erkennt. Er schreibt mir:

„Für die Generation der sog. Nachgeborenen stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dem Erbe der Diktatur natürlich auf eine ganz andere Art und Weise als für die Generation, die als direkte Zeugen dieser Ereignisse darüber geschrieben haben bzw. durch Exil oder Verfolgung sehr viel unmittelbarer betroffen waren. In diesem Sinne lässt sich beobachten, dass die nach 1970 geborenen Autorinnen und Autoren sich dem Thema häufig auf verschlungeneren, indirekten Wegen nähern: Das ist etwa der Fall bei Alejandro Zambra, der in seinem Roman Formas de volver a casa (bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung erschienen) der Frage nach dem oberflächlich ’normalen‘ Leben in einer Diktatur aus der Perspektive eines Kindes nachgeht; auf andere Weise auch bei Autorinnen wie Alia Trabucco Zerán, in deren Roman die Beerdigung einer in Berlin lebenden Exilchilenin zum Anlass für die Generation der Töchter und Söhne wird, sich vor allem auch mit der diskursiven Herrschaft der Eltern über die Vergangenheit auseinanderzusetzen; oder im vorliegenden Heft auch in einem Text wie dem von Andrea Jeftanovic, die eben nicht über den bombadierten Präsidentenpalast La Moneda als dem symbolischen Erinnerungsort schlechthin spricht, sondern über die Verwüstung des Privathauses von Allende. Aber natürlich gibt es auch ganz andere Formen des Schreibens über die Diktatur: eine ganz direkte etwa wie bei Marcelo Leonart, der sich in den Kopf eines der brutalsten Schergen der Diktatur versetzt; oder auf ganz indirektem Weg wie etwa in den vielen Texten, die nur auf den ersten Blick über eher alltägliche Probleme der menschlichen Existenz schreiben, denen aber in Chile auf eine andere Art und Weise immer schon der Stempel der Diktatur aufgedrückt ist, nämlich in Form einer fundamental nach neoliberalen Prinzipien funktionierenden Gesellschaft, die als solche erst durch die radikale Wirtschafts- und Sozialpolitik der Militärs und der ökonomischen Eliten ermöglicht wurde.“

La noche valpúrgica / Walpurgisnacht der 1978 in Santiago geborenen Mónica Ríos verwendet Zitate aus Goethes Faust frei, um eine apokalyptische Szenerie auszubreiten, in der jede Form von Normalität ausgelöscht ist:

Ein Purist würde sagen: Was herrscht hier bloß für eine Fäulnis. Aber ihr seid Menschen, wie die Kamera beweist. Allein sie kann euch einfangen, allein das rote Licht. Ohne Dirigenten stimmen wir Chorsänger mit dem Getier ein, mit den Würmern und den Todesschwadronen, auf dass es vorangeht: zu den Müllhalden, zu den Laboratorien. Dort wird er Tod geboren. Auch in Büchern, schreien wir, und zählen all die Körper auf, die bereit sind, gekocht, geflickt und gegessen zu werden, und die erst mit fremden Worten bezeichnet werden, bis sie zum Leben erwachen und ihr Name erklingt. Spinnen tauchen auf. Sie tragen die Gesichter von Jungfrauen und rechten Politikern. Ameisen tauchen auf. Sie tragen das Gesicht von Aufwieglern. Wir bemalen Kakerlaken mit pelzigen Beinen, die einstimmig ein schwachsinniges Lied leiern.

In Hojas de afeitar / Rasierklingen von Lina Meruane (*1970 in Santiago) geht es um Schülerinnen, die sich heimlich in der Schultoilette treffen, um sich gegenseitig einer Intimrasur zu unterziehen. Was scheinbar eine unpolitische Teenager-Geschichte ist, eine, bei der es um die Entdeckung eigener und fremder Weiblichkeit und also um das Entfesseln einer Erotik im Zustand der Unschuld geht, wird zu einer Metapher für Gewalt, die die Einzelne durch die entfesselte Gewalt der Gruppe durchleidet. Die Übereinkunft der Schülerinnen die neue Mitschülerin Pilar zu rasieren, erinnert mich an Tagebuch eines Sturzes von Michel Laub. Der Brasilianer zeigt exemplarisch, dass hinter vermeintlichen dummen Schülerstreichen, eine Gewalt steckt, die, über Generationen getragen, der simplen Logik folgt: Der Einzelne ist der Masse ausgeliefert. Auch Meruane spricht also über die Bedingungen einer Diktatur, wenn sie schreibt:

Sie rührte sich nicht, doch als wir die Rasierklingen hervorholten, wurde sie blass: Wir wussten, sie würde schreien, wir mussten sie an Füßen und Händen packen, sie fest auf den Boden drücken und ihr eine Taschentuch in den Mund stopfen. Sie wehrte sich, aber wir schoben ihre Uniform hoch, zogen sie Strümpfe herunter und die schwarzen Schuhe aus. Sie hatte sogar Haare auf dem Spann, und das erregte unsere Leidenschaft für sie noch mehr: Wie nackt sie sein würde, wenn wir fertig wären.

In El 34 / Die 34 stellt uns Alejandro Zambra (* 1975 in Santiago) einen Sitzenbleiber vor, der die vorgebenen Ordnung auf den Kopf stellt und auch im Rückblick auf die längst vergangene Schulzeit die Kraft der Irritation nicht verloren hat:

Für uns war Sitzenbleiben etwas, wofür man sich zu schämen hatte. Niemals in unserem kurzen Leben waren wir in die Nähe dieser Art von Versagern gekommen. Wir waren elf oder zwölf jahre alt und gerade auf das Instituto Nacional gekommen, die prestigereichste Schule Chiles, und unsere Zeugnisse waren entsprechend makellos. Aber da war nun die 34: Seine Anwesenheit bewies, dass das Scheitern möglich war, dass es sogar erträglich war, denn er nahm sein Stigma mit einer Selbstverständlichkeit hin, als ob er im Grunde froh wäre, den gleichen Stoff noch einmal durchzunehmen.

Plan de evacuación / Flucht- und Rettungsplan des 1971 in Santiago geborenen Autors Nicolás Poblete führt uns ins Zimmer 302 einer Reha-Station. Auf wenigen Seiten wird ein Konflikt zwischen Vater und Tochter geschildert, die Rebellion der jungen Generation, die in der Gesellschaft verborgene Krankheit:

Man kann sich alles ausdenken, was man will, aber auf einmal passiert es, sagte mein Vater. Unerwartet, weil die Zeit, so weiß ich jetzt, dem Bewusstsein entspricht. Genau wie bei diesem einzigen Epilepsieanfall: ohne Bewusstsein oder etwa ohne Zeit, ohne Erinnerung. Also, ohne Seele? Den Faden wieder aufnehmen lernen, in den Traum eintauchen und weitermachen wie bei einem Roman mit Lesezeichen in der Mitte, am Anfang eines Kapitels. Wozu sich erinnern. Es ist notwendig, sich zu erinnern, an jenen Tag, ich laufe los, und mein Vater folgt mir, die Sonne geht schon fast unter, aber sogar dann: Hitzewellen, wie Botschaften, auf dem Dach des Autos. Auf dem Asphalt. Erinnerung schreiben. EPILEPSIE.

Enrique Winter (*1982 in Santiago) geht in seinem Gedicht El cielo es más pequeño que los rascacielos / Der Himmel ist kleiner als die Wolkenkratzer den Weg in die Familie, in dem er das Verhältnis zu den Eltern sprachlich knapp und präzise ausleuchtet:

[…] Und der abwesende Vater existiert nur im Kopf. Begehren und noch / ein Kind. Widerwille und schon wieder im Knast. Ich bin nicht verbittert. Wenn ich mich schmutzig mache, wasche ich mich / nicht dort: Es geht mir um die Reinheit des Waschlappens. Mein Vater und ich bleiben allein, der Rahmen steht fotolos da, / das Fenster weit offen ohne die Herrin des Hauses. Und dieser saubere Teller sagt nichts über die Gäste oder das Gegessene.
[…]

Maleza / Unkraut von Matías Celedón, 1981 in Santiago geboren, erzählt von einer Rückkehr, die das Verlorensein dokumentiert.

Santos erreichte den Zaun, der den Sumpf von den Feldern trennte, die sich im Sommer zeigten. Er stellte den Motor ab und machte die Blinker aus. Er nahm einen Lappen, wischte über die Windschutzscheibe und saß still da, bis der Motor Ruhe gab. Hinter dem Stacheldraht die Erinnerungen eines bewegten Lebens; die vertrocknete Schlammspur, die Einsamkeit und Regen verriet.

Marcelo Leonart, (*1970 in Santiago) lässt in Pascua / Weihnachten  – Benjamin Loy hat diesen Text übersetzt und weiter oben darauf hingewiesen – Álvaro Corbalán Castilla zu Wort kommen:

Und jetzt gib endlich den verfickten MIR-Kämpfer raus, du Scheißkommunistenpriester. Gehorche mir wie ein Dobermann seinem Herrn, die Beterei nützt hier nämlich nichts. Der einzige Gott ist meine Parabellum Klassik. Sie und meine chilenischen Soldateneier, die nicht zögern werden, Sie umzulegen, wenn Sie hier den Rebellen geben.


alba. lateinamerika lesen erscheint zweimal jährlich in Berlin. Einzelverkaufspreis 7,50 €, Jahresabonnent 13 €. Sehr zu empfehlen!
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