György Dragomán: „Der Scheiterhaufen“

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Endlich mal ein Buch, das sich nicht über eine mangelnde Wahrnehmung und Anerkennung durch das deutsche und deutschsprachige Feuilleton zu beklagen braucht!

Einen Rezensionüberblick des 2015 auf Deutsch veröffentlichten Romans „Der Scheiterhaufen“ (Übersetzung: Lacy Kornitzer) des 1973 in Târgu-Mureş (Siebenbürgen, Rumänien) geborenen, der ungarischen Minderheit zugehörigen Autors György Dragomán, findet sich bei Perlentaucher.

Auf der Leipziger Buchmesse 2016 war ich zugegen, als Dragomán im Café Europa einen Ausschnitt aus seinem Roman las. Zu sagen, diese Lesung hätte mich neugierig gemacht und ich hätte das Buch deswegen erstanden, wäre eine Untertreibung. Der gelesene Ausschnitt griff mich ob seiner Intensität an, ich reagierte mit einem Zittern am Körper, einem Beben.

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive Emmas, einer dreizehnjährigen Waisen, die ihre Eltern durch einen Verkehrsunfall verloren hat. Eines Tages taucht eine Frau in der Schule auf und behauptet, ihre Großmutter zu sein. Und hier beginnt, eingebettet in die Unsicherheit der ersten Jahren nach Ceaușescus Hinrichtung, eine Geschichte, von der Emma nichts weiß und erst ganz langsam aus der Ahnungslosigkeit herauswächst.

Als Leser wünsche ich mir zumeist eine schnelle Orientierung. Um was geht es, was ist geschehen? Dem verweigert sich Dragomán geschickt, in dem er seine jugendliche Erzählerin erst am Ende in die Lage versetzt, das Geschehen in seiner Komplexität zu begreifen, dann jedoch in einer Präzision, die, unbelastet von Verstrickungen ins historische Erbe des Nazismus und Stalinismus, den Erwachsenen zu wünschen gewesen wäre.

Die neue Freiheit packt Dragomán in ein starkes Bild, das sich als Gegenpol zur Eingangsszene des Stücks Jochen Schanotta von Georg Seidel (UA 1985, Berliner Ensemble) erweist.

Zeichenstunde. Der Lehrer wartet, bis wir unsere Plätze eingenommen haben, dann geht er herum und verteilt große leere Blätter. Er setzt sich, ohne ein Wort zu sagen, wippt mit dem Stuhl nach hinten, streckt die Beine aus, verschränkt die Arme im Nacken und betrachtet die Decke. […] Alle starren auf die leeren Blätter und warten, dass er sagt, was wir zeichnen sollen.

Bei Jochen Schanotta lesen wir hingegen:

„Wir malen alle den gleichen Vogel aus“, hat der Lehrer gesagt, gab mir ein neues Stück Pappe, stempelte, „und daß du nicht über den Rand malst!“ Ich Idiot hab’s so gemacht, und am Ende hatte ich den gleichen Vogel wie alle.

Emmas Zeichenlehrer bekommt ein Wutanfall, weil die Schüler nicht zeichnen, sondern disziplinlos und laut sind.

Wie es scheint, können sie aber doch nur herumblödeln und herumbrüllen wie die Ochsen. Es sieht so aus, als könne hier keiner mit der Freiheit etwas anfangen. […] Er sagt, er habe sein Leben aufs Spiel gesetzt, damit nicht länger ein paar Idioten allen anderen irgendeinen Blödsinn befehlen könnten, doch wenn wir von uns aus Idioten sein sollten, dann hätten wir es nicht besser verdient. Dann geschehe uns recht, dass man uns herumkommandiere, und wenn es wieder so weit komme, wie es früher war, hätten wir uns das selbst zuzuschreiben.

Emma ist eine von zwei Schülern, die kein leeres Blatt abgegeben haben. Sie hatte versucht, ihren Lehrer zu zeichnen, sieht sich aber gescheitert. Die Zeichnung ist ihr ungenügend. Und doch ruht genau hier, im Versuch wie im vorläufigen Scheitern, die Hoffnung auf eine Jugend, die fähig sein wird, dieses leere Blatt Freiheit sinnvoll zu füllen und in eine ausgewogene Komposition zu verwandeln.

Des Zeichenlehrers Furor sollten wir indes uns dick markieren und nicht meinen, er spreche nicht zu uns, er sprechen nicht von hier und heute.