Eva Bourke und Vincent Woods (Hrsg.): „fermata. Writings inspired by Music“

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Die Zeit anzuhalten, in der Bewegung innezuhalten, dem Fluss des Lebens eine (Lese-)Pause zu verschaffen, dabei die Vielfältigkeit und -stimmigkeit der Musik erlebbar zu machen, das ist das Ziel der gerade bei Artisan House (Letterfrack, Connemarra) erschienenen Anthologie fermata, die zeitgenössiche irische Lyrik und Prosa versammelt.

Die Herausgeber der Anthologie, Eva Bourke und Vincent Woods, haben auf über 250 Seiten bedeutende irische Stimmen, etwa Nobelpreisträger Seamus Heaney, Eiléan Ní Chuilleanáin, Paula Meehan, Moya Cannon, Rita Ann Higgins, Vona Groarke, Theo Dorgan, Matthew Sweeney, Colm Tóibín, gesammelt und zu einem großen Orchester aufgestellt, ergänzt um den von Eva Bourke übersetzten deutschen Lyriker Jan Wagner.

Die Heraushebung der genannten Autorinnen und Autoren belegt nur meine immer noch unzureichende Kenntnis der irischen Literatur, denn es sind viele Namen mehr, die mit ihren Beiträgen das Orchester bereichern.

Und so sitze ich nun gespannt im Publikum und erwarte das Konzert. Ich werde es nicht auf einmal konsumieren, bewältigen können. Ich muss meine Ohren schulen, damit sie die Feinheiten heraushören. Daher werde ich nach Konzertschluss diese Anthologie eine Weile mit mir herumtragen, willkürlich die Partitur aufschlagen und versuchen, mir die Melodiefolgen einzuprägen.

Buchdetails und Bestellung

Arundhathi Subramaniam: „Die Stadt brandete gegen mich“

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Die edition offenes feld legt mit Die Stadt brandete gegen mich Gedichte der indische Autorin Arundhathi Subramaniam in deutscher Übersetzung vor.

Die Auswahl aus den englischsprachigen Bänden Where I Live. Selected Poems und When God is a Traveller (Bloodaxe, 2009 bzw. 2014) lag in den Händen des Übersetzers und Schriftstellers Jürgen Brôcan.

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Erika Kronabitter: „La Laguna“

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Auch La Laguna von Erika Kronabitter ist, wie viele Bücher, die ich auf diesem Blog bespreche, ein Roman, der eine Familiengeschichte abhandelt. Abhandeln ist das falsche Wort. Das klingt nach nüchterner Analyse, großer Distanz, klingt nach Kopf, nicht nach Bauch.

Die Protagonistin Elena ist auf der Suche. Sie möchte als erwachsene Frau endlich verstehen, was damals in ihrer Familie geschehen ist. Ihr Vater Beppo war bereits verheiratet, als er auf Elenas Mutter Hanna, auf seine große Liebe, trifft, im Wien der fünfziger, sechziger Jahre.

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John Burnside: „Anweisungen für eine Himmelsbestattung“

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John Burnsides Anweisungen für eine Himmelsbestattung

Iain Galbraith, 2015 für seine Arbeit als Übersetzer mit dem Popescu European Translation Prize ausgezeichnet, mutmaßt in seinem Nachwort zu der von ihm ausgewählten und übersetzten Lyrik des schottischen Schriftstellers John Burnside, dass die Übersetzung von „home“ als „Zuhause“ oder „Heimat“ zu gemütlich anmutet und die Komplexität des Wortes für Burnside nicht abbildet. Gerne möchte ich Galbraith mitnehmen ins Kunstmuseum Moritzburg nach Halle (Saale) und ihm Einar Schleefs Gemälde „Zuhause“ zeigen. Der Text, den Schleef auf dem Gemälde festgehalten hat, tilgt jeden Gedanken an Gemütlichkeit und lässt einem einen kalten Schauer den Rücken runterlaufen.

Zuhause das sind die Eltern, der Vater, die Mutter, der Schulweg, das Kino, die Dörfer, das Gestrüpp, die Stadt, die man sein Leben nicht loswird. Nie mehr zurück, das verwinden, fliehen bis man ein eigenes Zuhause hat, was einen erstickt und auffrißt.

Die Worte des Deutschen beschreiben mit dem Generationssprung von Kind zum Erwachsenen das, worum es auch dem Schotten geht: Die Spiegelung des Ich in den Rollen, die das System Familie zur Verfügung stellt.

Man kann dies aus Burnsides berührenden Roman „Lügen über meinen Vater“ (2011) ebenso wie aus der hier vorliegenden Lyrikauswahl Galbraiths, als Schnellnachweis mögen die beiden Gedichte „Hall of Mirrors, 1964“ und „Spiegelkabinett, Berlin, 2012“ genannt sein, herauslesen.

Was ist „home“ für Burnside, wenn es sich nicht um einen Ort süßlich-klebriger Erinnerungen handelt? Und welche Trigger eröffnen die (Ein-)Sicht auf den Kampf, der, ausgetragen in fernen Tagen, noch heute lebendiges Echo generiert? Mit diesen beiden Fragen, die so etwas wie einen Gegenentwurf zu den „Madeleines de Proust“ provozieren, möchte ich bei der Lektüre der Gedichte auf die Suche gehen nach etwas,

das nicht mehr und nicht weniger angemessen ist als alles andere
das wir brauchen, um in der Welt zu Hause zu sein.
(aus: Häfen)

Um bei dieser Suche Erfolge vorweisen zu können, muss ich die Ordnung durchbrechen, jene, die die Herausgeber vorgegeben haben in der Anordnung der Gedichtauswahl. Nicht mehr die Qualität des Einzelgedichts – sie ist durchgehend hoch, gleich, ob es sich um kurze Gedichte oder zyklische Langgedichte handelt – spielt eine Rolle, sondern die Qualität der Zwischenräume, die die Bilderwelt Burnsides eröffnet. Weil eben mehr dahinter steckt, als eine äußere Ordnung, die uns Menschen ohnehin fremd ist, von der wir uns aber dennoch allzu leicht, allzu gern beherrschen lassen, müssen wir an Stellen suchen, die uns abwegig erscheinen. „Home“ ist nicht die Anordnung von Wänden und Decken, nicht diese Art Behaustsein, die noch keine Identität, keine Geborgenheit liefert – solcherlei wird in keinem Architektenvertrag zugesagt, sondern das Wechselspiel von An- und Abwesenheit, das Hin- und Hergeworfenwerden in einer fühlenden Welt, deren Auslöser leblose Gegenstände oder oftmals Geräusche und Gerüche sind. Was ich versuche, meine eigene Haltlosigkeit in jenem Haus meiner Familie umkreisend, auszudrücken, etwas ratlos, hilfsbedürftig, sagt John Burnside beispielsweise so:

Es steckt mehr dahinter, als ich dachte –
mehr als das Haus oder unser stilles Bett,
wenn keiner da ist,
mehr als das Buch mit der Schrift nach unten,
das du auf den Küchentisch gelegt hast,
das Haarknäuel in der Bürste, der Wust an Klamotten
– zu einem Zuhause gehört mehr,
als ich je erwartet hätte:
ein Prozess des Ausgrabens, Suchens
nach etwas in mir, das gegen
die Kälte des anderen zu setzen wäre,
gegen das Echo, das du nicht hörst, wenn ich lauschend innehalte,
[…]
(aus: Siedlungen, III Brunnen)

Was ist unter dem Stapel Klamotten abgelegt? Was findet sich zum Beispiel an schmutzigen Kindersocken, die tagelang in den Ecke darauf warten, dass einer kommt, um sich zu erinnern. Sich zu erinnern an das eigene Kinderzimmer, die gleichlautenden Mahnungen aufzuräumen, die Socken nicht aufgerollt in die Waschmaschine zu stecken, denn der Knotentest, höre ich meine Mutter, als stünde sie gerade jetzt neben mir, das sei nur ein Trick aus der Werbung.

Es finden sich abgelegte Emotionen, die sich plötzlich Bahn brechen, absichtslos und ungeschminkt. Diesen Satz schreibe ich mit einer gehörigen Portion Ratio, während ich versuche, meine Kindersocken-Emotion unter Kontrolle zu bringen, die Tränen, die gar nicht wissen, ob sie eine glückliche oder tieftraurige Erinnerung beweinen, trocken zu wischen. Das gelingt, zweifelsohne, aber dieses kurze Beben, das meinen Körper eben erfasste, war da und wirft die Frage auf, ob ich weiterhin äußeren Ordnungen folgen will (also die Socken meiner Kinder entrollt in die Waschmaschine gebe: Kontinuität) oder es aber einfach anders mache (rein, wie es kommt, vielleicht hat die Werbung ja doch recht: Diskontinuität).

Ich könnte mich der Tränen schämen,

doch Zuhause ist der Ort, wo alles geschieht: Panik und Freude,
die Begegnung mit dem Gott, der Gestank des Ziegenbocks;
haarlose Engel, die aus dem Regen treten;
hier, in einem Waldstreifen auf der Fahrt nach Norden,
durch alles, was ich schon einmal gesehen und gehört habe
(aus: Ny-Hellesund, IV Rückkehr)

mit diesen und den folgenden Worten stärkt der Schotte meinen Rücken

und nichts ist wahrer als das Dunkel von Zuhause:
Verandalampen, denen wir Namen gaben, Erbsenfelder, Kreuzungen;
Rehweg und Laichstelle, Vogelwanderung und Todesskurve,
wie sich die weite Nacht
auf Lagerfeuer und Molkereien reduziert,
oder Hockey-Juniorenteams in Rot und Blau
das perfekte Spiel
in einem Kreis von Regen proben.
Das ist eine Karte der Ewigkeit, alles Beben und Fallen:
ein Körper aus Feuer, ein Funkeln der Sterne in der Ferne,
Aale auf einem Treidelpfad, die das Gras zwischen Flüssen aufzeichnen,
die verblassende Schönheit des langen Heimwegs
und, irgendwo im Traum von diesem Traum,
das Haus hinter den Häusern, an die ich mich erinnere,
Froschhaus, Sternhaus, Haus aus Seide und Knolle,
die Scharen der Besucher, die hier kommen und gehen,
mit ihrem Hauch von Waldgrün oder Wassergrün:
Gestalten, die ich durch Panik oder Freude hindurch erblickte:
Handflächen und Blicke, die ein Scheinwerfer streifte,
Stachelgräten, weißer als Kalk, in den Nähten des Wetters
(aus: Ny-Hellesund, IV Rückkehr)

Bei der Verortung von „home“ geht es ja um nichts weniger als eine Abgrenzung von Gegenwart und Vergangenheit, also in existenzieller Weise um Leben und Tod. Fasziniert schreibt Burnside über ein totes Rind, das sein Nachbar John gefunden hatte, eine konservierte Hülle, „im Leerraum des Schädels urzeitliche Stimmen“. John will den Kadaver fotografieren, „doch die ersehnte Aufnahme / war nicht zu machen.“ Das erinnert mich an meinen gescheiterten Versuch, den Kadaver eines Zebras zu dokumentieren. Ich stand in Namibias Buschlandschaft und vertiefte mich in Details der Fellzeichnung, des Skeletts, das nicht eine Spur von Eingeweiden, nur noch Leerraum umschloss, in die nicht gefressenen und nicht verwesenden Wimpern des Tieres, so als könne ich mittels Fotografie Abwesenheit erfassen, eine Abwesenheit, die ich von zu Hause kannte, jenem zerrissenen Wort, das keine Familie barg und schützte. Meine Tochter stand wenige Meter entfernt und der immer noch verhandene fürchterliche Verwesungsgeruch schlüpfte in ihre junge Nase. Was wird die Erinnerung an das tote Tier später bei ihr auslösen?

Glücklicherweise ist Burnsides Sprache und die Arbeit des Übersetzers nicht so limitiert wie die Zeichenanzahl dieser Rezension. Es ließen sich noch viele weitere Les- und Sprechwege finden, die „home“ im Kinderlachen, im Duft von Wiesenblumen oder in den „Regentropfen am Fenster des Fischladens“ erkennen würden. Diese anderen Wege führten jedoch am Ende zur gleichen Feststellung: Burnsides Gedichte sind Weltliteratur, die

wir brauchen, um in der Welt zu Hause zu sein.
(aus: Häfen)

 

Miron Białoszewski: „Das geheime Tagebuch“

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Ich bin es, der den Organismus anführt
Das geheime Tagebuch des Miron Białoszewski

Vorüberlegungen

Warum sollte ich das Tagebuch eines mir unbekannten Menschen lesen? Mit welchen Erwartungen gehe ich an die Lektüre, die als geheim klassifiziert ist? Welche Zugangsberechtigung habe ich für diese Aufzeichnungen?

Die Euphorie in der Stimme des Verlegers Andreas Rostek, als er den Vornamen Miron aussprach und mir das Buch zur Rezension empfahl, machte mich neugierig und verleitete mich, diesem Ansinnen zuzustimmen. Miron, sagte er, sei noch heute in Polen ein klingender Name und jeder kenne den Schriftsteller, der 1922 in Warschau geboren wurde und 1983 dort starb.

Von Bialoszewski sind in deutscher Sprache dank der Übersetzungs- und Herausgebertätigkeit von Dagmara Kraus zwei Gedichtbände erschienen: Wir Seesterne und Vom Eischlupf (2012 und 2015, Reinecke & Voß).

Einige Protagonisten der deutschen Literaturszene sprechen über Bialoszewski als eine Entdeckung. Vielmehr ist es eine Öffnung, eine Europäisierung des Blicks, die Zueignung eines poetischen Schimmers über deutsche Staatsgrenzen hinweg, wie Armin Steigenberger erkennt. Unsere Begrenztheit abzulegen, ist in Zeiten aggressiver Nationalismen Pflicht.

Diese Erkenntnis, so wichtig und notwendig sie ist, beantwortet die eingangs gestellten Fragen nicht.

Gilt die Regel, dass Literatur Interesse weckt, wenn es ihr gelingt, die Leserschaft in Schwingungen, Resonanzen zu versetzen, auch für den intimen Bereich des Tagebuchs? Tadeusz Sobolewski stellt in seinem Vorwort klar: „Was ist das Geheime Tagebuch? Ein literarisches Werk.“ Die Biografie bietet durch die deutsche Besatzung Polens und Bialoszewskis Teilnahme am Warschauer Aufstand wie auch seine Zeitzeugenschaft des Stalinismus und der Demokratiebewegung in der Volksrepublik eine historische Dimension. Doch der Autor versteht sich nicht in erster Linie als politisch agierend. Im Tagebuch folgen wir einem Netzwerk von Beziehungen in der Literaten- und Künstlerszene, mithin der intellektuellen Elite des Landes, das es einem Außenstehenden schwer macht, zumal aufgrund des akribischen Fußnotenapparates, in dem Sobolewski Initialen auflöst und Kurzbiografien mitliefert, gedanklich dem Text zu folgen. Rivalitäten und Eifersüchtelei in einer in sich geschlossenen Gruppe kommen zum Ausdruck. Das erinnert an Uwe Kolbes Die Lüge, ein Werk, das einen Vater-Sohn-Konflikt ankündigt, aber als Roman versagt, weil es in Betrachtungen über die Egoismen einer über Arbeiter und Bauern stehenden Klasse erstarrt. Im Tagebuch mag es legitim sein, solchem Raum zu geben, ermüdend ist es trotzdem. Aber Bialoszewski verbringt viel Zeit im Bett und Träume/Albträume bieten ihm eine legitime Projektionsfläche auf die Wirklichkeit des real existierenden Sozialismus.

Was löst in mir Resonanzen aus? Ich bin Schriftsteller, doch meine Netzwerke sind kleiner, weniger mondän. Ich wurde in eine Demokratie hineingeboren, habe keine totalitären Erfahrungen. Insofern bleibe ich als Fremder und Unerfahrener außen vor. In der Homosexualität Bialoszewskis finde ich jedoch Bezüge zu meinem Vater, der es Zeit seines Lebens nicht geschafft hat, sich zu öffnen und „die Grenze der Scham und der Angst“ (Sobolewski) zu überwinden. Bialoszewski gelingt dies im New Yorker Tagebuch, Kapitel, die in der Lektüre des Buches noch vor mir liegen. Ich denke zurück an so wichtige Bücher wie Edmund Whites Die brennende Bibliothek oder die Autobiografie Reinaldo Arenas‘ Before Night Falls, die mir schwule Kultur nahebrachten. Jedoch erscheint mir vor allem, dass mit den schmerzlichen Schnittstellen von Sozialismus, Katholizismus und Homosexualität Bialoszewski im Westen mit Pier Paolo Pasolini, wie der Pole 1922 geboren, einen Bruder im Geiste hatte, der eine ebenso überragende Bedeutung für die Intellektualität seiner Nation und weit darüber hinaus einnahm.
[29./30.06.2016]

Nachts überlegte ich, weshalb der Sozialismus irgendwie weniger gelungen ist als die christliche Kirche. Mehrere Male hatte ich diesen Vergleich, der mir zu hinken schien, verworfen, bis er mir plötzlich gar nicht mehr wie ein hinkender Vergleich vorkam. Bei beiden gibt es eine Gesellschaftsvorstellung, eine Moralvorstellung. Bei beiden die Gleichberechtigung. Bei beiden soll die Belohnung in der Zukunft kommen. Folglich unüberprüfbar. Bei beiden entsetzlicher Missbrauch und hässliche Sachen. Bei beiden Schismen und Abweichungen. Und Aufspaltungen. Kennt der Kommunismus keine Kunst? Er kennt den Sozrealismus. Es haben sich doch verschiedene interessante Künstler in den Sozrealismus ergeben. Maler. Ich erinnere mich, dass sich sowohl Fougeron als auch Picasso engagiert haben. Und Pablo Neruda hat uns in den schlimmsten stalinistischen Zeiten Gedichte zur Übersetzung hergeschickt; eines seiner Poeme, ein riesiges, hatte übrigens eine Passage dieser Art:

In den drei Zimmern des alten Kreml
Wohnt ein Mann mit Namen Stalin
Lang brennt das Licht in seinem Zimmer …

Dass in der UdSSR Millionen Menschen verbannt wurden und ein Großteil der Welt nichts davon wusste oder es nicht glauben wollte, erinnert an die Kirche; die einen wähnen Rom als das Ziel aller Pilgerer, die anderen als Hauptstadt des Verbrechens. […]
[Sonntag, 20. März 1978]

Tod des Vaters

Im September 1979 stirbt Bialoszewskis Vater. Eine Verbindung zwischen Vater und Sohn scheint seit langer Zeit nicht mehr zu bestehen. Spuren hat der Vater bislang im Tagebuch des Sohnes nicht hinterlassen. Nun aber zeigt sich in der Verarbeitung des Todes, in den Erinnerungen eine unerwartete Zartheit, die sich in Mirons Träumen spiegelt. Zweifelsohne ist die verspätete Klärung des Vater-Sohn-Verhältnisses die wichtigste Triebfeder meines Schreibens, meiner Suche nach verloren gegangenen und ungesagten Worten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die wenigen Vaterspuren in Mirons Tagebuch, für mich einen besonderen Stellenwert haben. Und in ihrer Wortkargheit helfen, eigene Leerstellen mit entliehenen Sätzen zu füllen. Ist das legitim? Darf ich seine und meine Bilder überlagern, gegen die Sonne halten, um mit blinzelnden und tränenden Augen zu sehen, ob die Puzzleteile einen ähnlichen Zuschnitt haben? Oder ist das vermessen? Überschreitet es die dem Leser erlaubten Resonanzen? Darf ich meine Vaterträume öffnen?
[11.07.2016]

Zwei Tage lang unausgeschlafen. Ich wurde morgens wach, weil es ein Hämmern gegen die Tür gab. Ich dachte sofort, es müsse etwas Schlechtes sein. Mutter betreffend. Oder zur Abwechslung vielleicht Vater. Ich machte nicht auf. Aber nach einer Stillephase wieder Klopfen, Rütteln an der Tür, Hämmern. Ich dachte, dass sich der Tod auf diese Weise Zugang verschafft. […]
Ich habe von Dorata, die mit ihm zusammenwohnte, erfahren, dass er nach seinem Infarkt im Juli entlassen worden sei, danach sei es etwas schlechter gegangen, und drei Tage vor seinem Tod sei er wieder ins Krankenhaus; sie brachten ihm irgendein Essen hin, er bestellte noch Sauerkrautsuppe, plante, nach Hause zu gehen. Und starb plötzlich.

Und genau das hat mich gerührt, dass er mir seit langem keine Umstände bereitete, ja selbst mit seinem Tod hat er mir keine Umstände bereitet. Er ist schnell und weit weg gestorben.
[…]
Es tut mir um Vater leid. In schweren Zeiten brachte er mir über sehr lange Zeit täglich Essen aus der Milchbar. Meine Freunde bewunderten ihn für seine Geduld. Nicht selten verzog ich das Gesicht, dass ich dies nicht esse, das nicht esse, er brachte mir weiterhin zu essen, sogar noch, als ich bereits Geld hatte und in einer bessere Situation war. […]
[6. September 1979]

Heute habe ich geträumt, dass ich mit einem riesigen Schiff auf einem Arm oder Zufluss der Weichsel fahre, nicht weit weg vom Meer, und gleichzeitig schien das auch die Marszalkowskastraße zu sein. […] Ich kehrte zu meiner Bank zurück, die sich in ein Bett verwandelt hatte, zog einen Pyjama an und legte mich hin. Es war immer noch diese Kirche und immer noch das Warten auf die Andacht. Einen Moment später erhob ich mich schon wieder. Ich schaute mich um, und in einem weiteren Bett schien der Leichnam meines Vaters zu liegen. Als ich genau hinsah, war es kein Gespenst. Es war mein bleich lächelnder Vater. Ich ging zu ihm hin und fragte
– Du lebst?
Vater hob den Kopf, und da sah ich, dass er halb tot und halb lebendig war, aber er lächelte weiterhin und lebte auf
– Ja, als sie mich beerdigten, da …
Bewegung in der Kirche hatte mein Interesse geweckt, und ich hörte zu, was er sagte, aber er riss mich an der Schulter, weil er dachte, ich wolle nicht zuhören, und fühlte sich beleidigt. […]
[27. November 1979]

Mein Vater ist ein toter Körper, geschrumpft zu einem annähernd ebenen, ledrigen Stück Pergament, nur noch an wenigen Stellen dreidimensional, ansonsten ein toter Lappen. Er ist leicht ins Bad zu tragen. Der junge Mann ist starr vor Entsetzen über mein Anliegen, meinem Vater von ihm einen körperlichen Dienst angedeihen zu lassen. Ich rede mit Engelszunge und mit dem Hinweis auf die nicht unerhebliche Geldmenge solange, bis der Boy sich in die Situation hereinfindet. Ich verlasse das Bad und kann dann doch beobachten, was geschieht. Der Boy lässt Wasser in die Wanne und legt den ledrigen Pergamentkörper meines Vaters kurz ins Wasser, so dass die Fasern geschmeidiger werden. Anschließend klebt er sich den feuchten Körper auf den seinen und beide tanzen einen mir unbekannten, traurig-elegischen Tanz. Ihre Gesichter schauen sich nicht an, sind hintereinander gereiht. Der Boy neigt den Kopf auf die Schultern meines halb erweichten Vaters, eine zärtliche, unwirkliche Geste voller Sanftmut. Der Rhythmus ihres Tanzes dringt mir tief ins Ohr und ich erkenne ihre Bewegungen als Totentanz im gleichen Augenblick als der Boy plötzlich lächelt, dabei seine spitzen Eckzähne bleckt und von hinten in den Pergamenthals meines Vaters rammt.
[10.06.1995]

Tod der Mutter

Ein geschwollener Bauch, Übelkeit und Erbrechen, Klagen, Gejammer. In der ersten Nacht musste ich mir sogar die Ohren mit Watte und Wachs verstopfen, um nichts davon zu hören. Von dem, woran ich nichts ändern kann. Danach wurde ihr aber doch etwas besser. Die Übelkeit ging vorbei. Irgendwie aß sie und sah wieder etwas besser im Gesicht aus, weil sie furchtbar ausgesehen hatte. Ich gewöhnte mich daran, bei ihr zu sein. Und an die andauernden Lügen, die Sinn machen. Mutter lebt im doppelten Bewusstsein. Einerseits vermutet sie, dass sie etwas Ernsthaftes hat, vielleicht Krebs, sie hat es sogar einmal gesagt, aber wenn es ihr besser geht, hat sie die Hoffnung, dass sie noch ein wenig lebt. […]
[Neujahr 1980]

Bialoszewskis Eintragungen im Winter/Frühjahr 1980 werden zur Chronik eines schleichenden Todes. Die Mutter geht nicht wie der Vater plötzlich und fern. Der Sohn fährt oft nach Garwolin, etwa fünfzig Kilometer von Warschau entfernt. Wenn die Nähe des Todes zu groß wird, fährt Miron zurück nach Warschau. Man spürt den Kampf des Sohnes um ein autonomes Leben angesichts der Fürsorgepflicht gegenüber der Mutter.
[11.07.2016]

Schnee, leichter Frost, aber ich laufe weiter durch Warschau. […]
[3. Januar]

Wieder Garwolin. Meine Ankunft in der Nacht. Frost. Aber mit Energie, mit Notizen und Geschreibe, Abschriften. Die ganze Nacht. Und sogar morgens. Nichts gegessen. Das steigert das Wohlbefinden. Mutter ist normal lebendig, immer wieder beschwert sie sich über die Schwellungen, […]
[10. Januar]

Mutter wollte ausschlafen. Also musste ein Mittelchen her. Ich gab ihr eines. Eines mit leichter Wirkung. Sie schlief ein, stöhnte. […]
[15. Januar]

Mutter fühlt sich seit zwei Tagen besser. Sie beschwert sich über die gewohnten Schwellungen, aber selbst die Schwellungen sind etwas abgeklungen. Sie isst wie immer wenig, aber es nützt ihr. Sie wirtschaftet in der Wohnung herum. Sie hat mir das Hemd für die Fahrt gewaschen. Als ob ihre Krankheit seit einem Monat auf der Stelle stünde. […]
[17. Januar]

Ich habe in Garwolin angerufen. Mutter fühlt sich passabel, so wie vorher. Sie hat am Telefon sogar gelacht. […]
[25. Januar]

Weil ich Lust hatte, bin ich nach Garwolin gefahren. Mutter ist in quasi unverändertem Zustand, obwohl sich das Ganze womöglich langsam, aber unmerklich abwärts bewegt.
[Freitag, den 1. Februar]

Ich habe mit Mutter telefoniert. Am Dienstag geht sie ins Krankenhaus. Sie ist ein wenig nervös, ein wenig hat sie sich damit abgefunden. Sie hat Hoffnung auf die Rückkehr nach Hause.
[Sonntag, den 10. Februar]

Ich bin abends zu Mutter ins Krankenhaus gefahren. Sie hat eine weitere Entwässerungskur hinter sich. Sie hat geholfen. […]
[Freitag, den 22. Februar]

Ich bin zu Mutters Namenstag nach Garwolin gefahren. […]
[4. März]

Ich habe bei Mutter angerufen. Sie irrt durch die Wohnung, schwillt an, ich weiß nicht wie stark. […]
[14. März]

Ich schlief und hörte es durch die mit Watte und Wachs verstopften Ohren klingeln. Einmal, ein zweites, ein drittes. Ich schlief weiter, obwohl mich die Unruhe gepackt hatte. Dass etwas mit Mutter sei. Aber ich beschloss, auszuschlafen, um Kraft für das zu haben, was mich erwartet. […] Sie schlief ein, erwachte wieder, und eigentlich war das schon das Sterben. […] Sie trugen Mutter herein. Schnell auf das Sofa. Der Sanitär überprüfte die Atmung mit einem Spiegel. Keine Atmung. […]
[Karfreitag 4. April]

New Yorker Tagebuch

Heute habe ich mir einen von mir lange gesuchten Leckerbissen für nur 6 Dollar gekauft. Ein herrlicher Neger mit gewaltigem Teil bläst sich selbst einen.
[Mittwoch, 13. Oktober 1982]

Man kann diesen Tagebucheintrag Bialoszewskis unter verschiedenen Aspekten betrachten.

Derlei Abbildungen von Geschlechtsteilen sind Werkzeug, Taststock innerhalb des Systems einer nach oben offenen Skala individueller Erregung, die sich der allgemeinen Bewertung entzieht. Weniger kopflastig ausgedrückt: Was wen wie aufgeilt, geht niemand was an. Da ich aber durch die Lektüre des Buches eingeladen bin, diesen intimsten Bereich eines Menschen zu teilen, habe ich die Möglichkeit und Notwendigkeit, mich prüde zu zeigen oder nicht. Leicht ließe sich Pornografie schreien, ließe sich Empörung hecheln. Ehrlich gesagt habe ich nie verstanden, wieso die Sexszenen im Film Intimacy von Patrice Chéreau (2001) manche zum Geifern brachten. Und was den Begriff der Pornografie angeht, finde ich wichtig und nach wie vor gültig, was Gellu Naum in Zenobia aufzeigt: wie der Staat pornografisch ist, in dem er seine Macht schamlos ausnutzt, das Volk zu knechten. Pasolini ist mit Salò oder die 120 Tage von Sodom ein zeitlos gültiger Beleg gelungen, der den sexuellen Aspekt der Machtausübung mit Nachdruck einschließt.

Die Pornoindustrie bündelt und lenkt individuelle Phantasien, um durch Ausbeutung der Beteiligten hohe Gewinne zu erzielen. Es ist eine seltsam erschreckende Erkenntnis, gut gehütete sexuelle Phantasien bei anderen zu entdecken. Ich erinnere mich, dass ich beim Lesen von Hervé Guiberts Blinde rote Ohren bekam und mich erwischt fühlte. Was dort stand, hatte ich bislang nur denken können, niemals aussprechen. Pornos berauben uns durch die Instrumentalisierung individueller Phantasien, ihre Einordnung in Stereotypen letztes Endes unserer Humanität. Die Pornoindustrie ist am Mehrwert interessiert und zerstört das menschliche Gefühl. Ob 6 Dollar in den achtziger Jahren ein guter Preis war, den man bereitwillig für den Mythos eines sich selbst blasenden Mannes bezahlt, dies zu beurteilen, habe ich keine Berechtigung.

Zweifelsfrei kann die Abbildung, jenseits ihres realen Inhalts, als
rassistisch und sexistisch gekennzeichnet werden. Das Stereotyp: huge black cock. Es ist irritierend bei Bialoszewski zu lesen:

Ich will Andersartigkeit, und sei es für nur 6 Wochen. Die Andersartigkeit der Welt. Aber hier gibt es das Neger-Problem. Sie haben Washington eingenommen, die Weißen sind in die Vororte geflüchtet. Immer mehr dieser Neger in New York. […]
[Dienstag 12. Oktober 1982]

Man muss Bialoszewskis Leckerbissen auch unter dem Aspekt der AIDS-Historie betrachten und einordnen. Der Pole besucht New York gerade in einer Zeit, als sich die Krankheit langsam, viel zu langsam ins Bewusstsein der Bevölkerung und ihrer Regierung drängt. Am 1. Dezember 1981 erkennt man die Krankheitssymptome als eigenständige Krankheit an. Im Juli 1982 einigen sich die Fachleute auf den Namen Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS). Am 15. Oktober 1982, kurz nach Bialoszewskis 6-Dollar-Kauf, werden bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus Fragen über AIDS mit witzig gemeinten Bemerkungen ins Lächerliche gezogen. Die Administration Ronald Reagans zeigt sich unfähig, adäquat auf die Bedrohung durch den Virus zu reagieren. Und so wirken Bialoszewskis Beschreibungen der Sexkinos wie ein Abgesang auf eine Zeit ungehemmter Sexualität, die mit dem Attribut safe nichts anzufangen weiß.

Das Vorzimmer zum Himmel oder zur Hölle. Gleichzeitiges Stöhnen von der Leinwand und live. Der nackte Selbstdarsteller hat sich nach einer ausgedehnten Session mit einem Zischen entladen, und das auf elegante Weise, da er sich langsam erst das Hemd angezog, dann die Unterhose und Hose und schließlich verschwand. An seiner Stelle hat sich ein junger, recht groß gewachsener Asiate einem König gleich installiert; er ließ sich gern so fest wie möglich anfassen. Voller Geilheit erlag er der selbst und kam vor dem Hintergrund des Gestöhns und Geschlürfes auf der Leinwand an sein Ziel. […]
[Freitag 15. Oktober 1982]

Schließlich ist das Abbildnis jener oralen Selbstbefriedigung eine Metapher für Selbsterschöpfung. Damit meine ich gleichermaßen die schaffenden und zerstörenden Anteile der menschlichen Existenz. Aus sich selbst zu schöpfen, ist keine demütige Haltung, sondern eine selbstbewusste, zur Selbstüberhebung neigende. Der Mensch legt sich mit Gott und seiner Schöpfung an, reibt sich. Und verliert dabei an Kraft. Bialoszewskis Tagebuch weist die Kraftverluste aus. Es sind keine veröffentlichten Texte enthalten. Der schöpferische Anteil fehlt. Dem Tagebuch vertraut er vor allem die Erschöpfung, die überlangen Schlafphasen mit seinen Alpträumen an, die in ihrer Intensität wiederum Material für die schöpferischen Momente liefern. Aber dies ist kein Perpetuum mobile, sondern das sich erschöpfende System Leben mit Geburt und Kindheit bis hin zum Tod.
[12.07.2016]

 

Kindheit

Während Bialoszewskis Aufenthalts in New York meldet sich Czeslaw Milosz mehrmals telefonisch bei ihm. Der 1911 im heutigen Litauen geborene Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1980 hatte Polen bereits im Jahr 1951 verlassen. Beide Männer begegnen sich mit Respekt und Hochachtung. Das geheime Tagebuch und Miloszs Tal der Issa standen über Monate friedlich in der Ablage neben meinem Bett, meinem bevorzugten Leseort, darauf wartend, gelesen zu werden. Miloszs Roman ist das Buch seiner Kindheit an einem fiktiven Fluss und mit einem fiktiven Jungen namens Thomas. Er beginnt mit ausführlichen Naturbeobachtungen, die sich durch das Buch ziehen und das Leben des Jungen begleiten.

Man muß mit der Beschreibung des Landes der Seen beginnen, wo Thomas wohnte. Diese Gegenden Europas sind lange von Eisbergen bedeckt gewesen, und ihre Landschaft hat die Strenge des Nordens. Der Erdboden ist hier im allgemeinen sandig und steinig, nur für den Anbau von Kartoffeln, Korn, Hafer und Flachs geeignet. Das erklärt, warum der Mensch die Wälder nicht vernichtet hatte, die das Klima mildern und vor den Winden des Baltischen Meeres schützen. In ihnen überwiegen Kiefer, Tanne, es gibt auch Birken, Eichen, Weißbuchen; Rotbuchen fehlen, ihre Reichweite erstreckt sich viel weiter nach Süden. […]
[Czeslaw Milosz: Tal der Issa]

Die beiden Männer unterhalten sich über amerikanische Landschaften, doch scheinen die Bilder schnell verbraucht und die Gedanken wandern zurück nach Europa. Zu Beginn der Reise wiederholt Bialoszewski einen Satz, den er schon bei anderen Reisen, Paris, Kairo, nutzte:

– Das also ist die große Welt. Diese aufklappbaren Geheimnisse.
[Dienstag 12. Oktober 1982]

Gegen Ende seines Aufenthalts hingegen schreibt Bialoszewski in sein Tagebuch:

Über die Niagara-Fälle sagte Milosz, dass sie schon lange nicht mehr in Mode seien. Jetzt sei der Grand Canyon in Mode.
An verschiedenen Orten hatte ich mehrmals plötzlich Mozart im Ohr. Ich habe das wie einen Ruf nach Europa verstanden, in mein Bett. Mozart ist mir viel näher als Manhattan mit seinen Menschen.
[15. November 1982]

Während Milosz seiner Kindheitswelt im Roman einen episch-breiten Raum gibt, erfahren wir in Bialoszewskis Tagebuch wenig über dessen Kindheit.

Bis zu meinem zehnten Lebensjahr habe ich in der Lesznostraße in einem Zimmer mit Küche mit meinen Eltern zusammengewohnt, mit Nanka, Sabina, Nankas Mann, dem Trinker, und Opa Walenty Bialoszewski. Opa war Tischlermeister und Liebhaber von polnischen Büchern. Ein von ihm gemachtes Regal stand von oben bis unten voller Bücher. […]
[13. März 1983]

Ich bin mir sicher, die Kindheitsorte der beiden polnischer Schriftsteller hatten eine feste Verankerung und unterlagen keinen Moden. Sie waren Lebensquellen, die erst nach unterschiedlich langem Lauf versiegten.
[12.07.2016]

Todesahnung

die verbrauchten Metaphern rächen sich
[Briefe an die Eumeniden: Anin, 26. Mai 1983]

Nachtrag

Ich hatte das Buch auf unsere Reise in die polnische Provinz mitgenommen. Sehen wollte ich, ob sich die Gesichter der Polen durch Bialoszewskis Anwesenheit erhellen würden. Nun, es kam anders. Miron fiel in der Provinz in einen leichten Schlaf und begegnete Menschen allenfalls im Traum.

Am letzten Julitag fand ich in der Buchhandlung Tajne Komplety in Wroclaw Bialoszewskis Band Sprawdzone soba mit den gesammelten Gedichten im Poesieregal. Ich fragte nach, ob auch die Tagebücher verfügbar seien. Die Buchhändlerin schaute in den Computer und verneinte.

Abends ging das 16. Nowe Horyzonty-Filmfest mit einem Openair-Screening des Filmes Brand New Testament von Jaco van Dormael auf dem Marktplatz von Wroclaw zu Ende. Festivaldirektor Roman Gutek setzte ein politisches Signal gegen das nationalkonservative Establishment der mit absoluter Mehrheit regierenden PiS, als er, nur wenige Worte verlierend, auf den Ort der Filmhandlung verwies: Brüssel. Van Dormaels Film kann man als Absage einer göttlich(-männlich)en Zerstörungswut hin zu einer weiblichen Neuschöpfung des Lebens sehen. Diese Respektlosigkeit vor religiösen Dogmen, diese tiefe Humanität, diese Feier des Lebens, das hätte Miron zweifelsohne erfreut und ihn seiner Schwere entbunden.
[09.08.2016]

Der Sommer ist zurück. Heute Nachmittag habe ich aus dem Fenster gesehen. Wärme, warmes Wehen, Sonne, Bewegung. Auf dem Flughafen Staub von den Grabungen und leichter Nebel. In den Stockwerken hoch über der Stadt und darüber ein mildes Blauen. Ich dachte mir: Das ist unser Planet. Voller Luft, blau, schimmernd, wehend. So fliegen wir dahin. […]
[13. September 1976]

 

Theo Harych: „Hinter den schwarzen Wäldern“

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Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, während unseres Polen-Urlaubs die begonnene Lektüre Czesław Miłoszs Tal der Issa zu beenden. Unser Gastgeber Henryk empfahl mir ein anderes Buch, nicht aus mangelnder Hochachtung vor Miłosz, sondern weil die Handlung jenes Buch in der Gegend, in der wir uns befanden, spielt.

Welche Gegend ist das? Grob skizziert die Grenzregion zwischen Niederschlesien und Großpolen, in etwa einem Dreieck zwischen Odolanów (Adelnau), Ostrów Wiełkopolski und Ostrzeszów (Schildberg).

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Janusz Szuber: „Esej o niewinności – Essay über die Unschuld“

Eine kleine Reihe über Bücher, die ich in Buchhandlungen außerhalb Deutschlands gekauft habe.

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Auch diesen zweisprachigen Poesieband erstand ich, wie Wisława Szymborskas Wystarczy – Enough in der Buchhandlung Tajne Komplety in Wrocław.

Dabei könnte die Vorgehensweise Janusz Szubers in Esej o niewinności – Essay über die Unschuld im Vergleich zu Szymborska kaum unterschiedlicher sein.

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Wisława Szymborska: Wystarczy – Enough

Eine kleine Reihe über Bücher, die ich in Buchhandlungen außerhalb Deutschlands gekauft habe.

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Den Poesieband erstand ich in der Buchhandlung Tajne Komplety in Wrocław, der polnischen Europäischen Kulturhauptstadt 2016.

Wystarczy – Enough der polnischen Literaturnobelpreisträgerin von 1996 Wisława Szymborska beinhaltet die letzten Gedichte der Autorin in polnischer Sprache und in englischer Übersetzung durch die in den USA lebenden Irin Clare Cavanagh. Da diese Gedichte zur Zeit nicht in Deutsch vorliegen, ist es eine Annäherung an die Poesie der Polin, die 2012 in Krakau starb.

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Adriaan van Dis: „Nathan Sid“

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Die 1983 erschienene Novelle Nathan Sid des 1946 geborenen, niederländischen Schriftstellers Adriaan van Dis (deutsche Erstausgabe 1988, Übersetzer: Siegfried Mrotzek) ist von betörender Schönheit.

Da schreibt ein Erwachsener das Buch der eigenen Kindheit, gibt seiner Einsamkeit, seiner Traurigkeit, seiner Verlorenheit Raum, viel Raum, und versteht es doch, in luftig geschriebenen Kapiteln so etwas wie eine frohe Erinnerung aufzunotieren. Das ist zauberhaft, gerade weil die Kindheitsbilder nicht zuckersüß sind, keine Madeleines de Proust! Sie neigen nicht zur Verklärung, sondern sind sauer, sind gallig. Im wörtlichen Sinne, denn der an Hautausschlägen leidenden Junge wird mit Ochsengallenseife, Zitronensaft und Essigwasser gereinigt. Ma Sid, die fürsorgende Mutter, singt dazu die Verse:

Saures reinigt, Saures peinigt.
Saures im Blut, Saures gegen Eiter,
Saures gegen Furunkel, Karbunkel,
Saures kratzt nicht weiter.

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Ervina Halili: „Der Schlaf des Oktopus“

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Schwanenhals und schwarzes Haar
Ervina Halilis Gedichte im Schwebezustand zwischen Traum und Tiefschlaf

In dem in der Edition Korrespondenzen, Wien 2016, herausgegebenen Gedichtband Der Schlaf des Oktopus der 1986 in Prishtina/Kosovo geborenen Lyrikerin Ervina Halili sind Träume allgegenwärtig. Und diese Traumwelten werden gefüllt mit einer sich wiederholenden Kulisse, die mich dazu verführt, fälschlicherweise an Gemälde von Marc Chagall zu denken (ich Pirouette einer vom Wolkenkratzer gefallenen Ballerina, aus: Ode an mich selbst), die ich aus einer lang zurückliegenden Erinnerung in meinem Gedächtnis aufrufe und die Figuren, Menschen, Tiere, die Natur und die vom Menschen geschaffene Umwelt mit schwebender Leichtigkeit erlebe, für einen kurzen Moment, bis sie verschwinden und nicht mehr greifbar sind.

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Xavier Zimbardo und Bindeshwar Pathak: „Angel of Ghost Street“

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War das indische Holi-Fest noch vor einigen Jahren nur wenigen in Europa bekannt, entwickelt es sich nun von einem hinduistischen Frühlingsfest zu einer Fun-Veranstaltung für jedermann, der bereit ist, 27,99 Euro für ein Ticket und fünf Farbbeutel auszugeben. Entsprechende Angebote, absichtlich nicht verlinkt, unter holifestival.de oder holi-gaudy.com.

Ein Fest, das das Ende des Winters markiert und in einem Farbrausch endet, der, so hören wir in Europa, das Kastensystem für einen Tag überwindet und alle Menschen gleich (bunt) macht.

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