Hanne F. Juritz: „Ein Wolkenmaul fiel vom Himmel“

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Ein Lyrikband aus dem Jahr 1978 fiel mir aus dem Bücherregal im Prettlackschen Gartenhaus entgegen: Hanne F. Juritz, eine hessische Kollegin des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), von 1978 – 1982 Vorstandsvorsitzende des VS Hessen.

Mit Ein Wolkenmaul fiel vom Himmel las ich zum ersten Mal Gedichte der 1942 in Straßburg geborenen Dichterin. Und dieser erste Einblick verdeutlichte einmal mehr, wie zeitlos gute Lyrik ist, wie sie sich Zeitläufen und Zeitströmungen verweigert, im Gegensatz zur Covergestaltung!

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Joshua Doder: „Grk ist nicht zu fassen“

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Unversehens wachsen Kinder aus dem Vorlese- und Leselernalter heraus. Plötzlich lesen sie selbst und ehrlich gesagt: wir Eltern sind darüber heil froh. Wissen wir alle um die Bedeutung des Vorlesens, dieser Phase der Lesebegleitung, so begrüßen wir ebenso sehr diese Autonomie, auch wenn wir dann keine Ahnung mehr haben, was die Kinder lesen. Bestenfalls kennen wir die bunten Cover und die Ratschläge der Buchhändlerin, die Kinderbücher in lebhaften Worten zu empfehlen vermag. Welcher Erwachsene liest freiwillig ein Kinderbuch?

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Víctor Rodríguez Núñez: „Mit einem seltsamen Geruch nach Welt“

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yo soy un tojosista / ich bin ein dichter der sperlingstauben
Das Bekenntnis des Víctor Rodríguez Núñez

Columbina passerina, das Sperlingstäubchen, ist ein sehr kleiner Vertreter seiner Familie, der in Süd-, Mittel- und im südlichen Nordamerika anzutreffen ist. Udo Kawasser, der gemeinsam mit dem kubanischen Dichter Núñez für den vorliegenden Band Mit einem seltsamen Geruch von Welt aus neun Gedichtbänden zwischen 1979 und 2011 die Auswahl getroffen und die Gedichte ins Deutsche übertragen hat, fragte den Autor bei der Lesung auf der Leipziger Buchmesse am 20.3.2016, was hinter dieser Metapher steckt.

Núñez rückt in seiner Lyrik das Landleben in den Fokus und gehörte damit zu einer Gruppe von Poeten, die von den urban geprägten Dichtern Havannas als tojosista abqualifiziert wurden. Der so mit Polemik überzogene Dichter reagiert noch 2011 in seinem Gedicht orígenes aus dem Band tereas mit der Zeilen:

[…]
yo vengo de otro sueño donde los gallos cantan /
ich komme aus einem anderen traum in dem die hähne krähen
[…]
yo soy un tojosista no te olvides /
ich bin ein dichter der sperlingstauben vergiss das nicht
[…]

Es bedarf nur sehr geringer Kenntnis der spanischen Sprache, wie ich sie habe, um zu wissen, dass das Ich, das yo, in beiden Sätzen weggelassen werden kann, ohne den Gesamtsatz zu ändern. Die deutsche Übersetzung bleibt identisch. Das grammatikalische nicht notwendige yo (soy und vengo legen eindeutig 1. Person singular fest) verschiebt den Satz hin zum Ich und betont es, hebt es ab, stellt es heraus. Die Kenntnis dieser sehr einfachen Grammatik wird hier zum Bekenntnis des Schriftstellers über seine Herkunft, die er gegen die Líricos coloquiales, die Alltagsdichter in Kawassers Übertragung, abgrenzt. Das deutsche Wort erscheint harmlos, ein Blick ins Wörterbuch: coloquial = umgangssprachlich, salopp, das verrät etwas mehr über den Plauderton der urbanen Eliten, die den Blick auf die Natur, die Erdung verloren haben.

Bevor ich Núñez‘ Band aufmerksam nach Spuren der Sperlingstaube durchsuche, muss ich zunächst eine Filmsequenz loswerden, an die ich schon seit Tagen denken muss, ohne zu wissen, ob mich das Aufleben der Szenerie in meiner Kritik und der damit verbundenen Annäherung an die Dichter der Sperlingstauben voranbringt oder aber in die Irre lenkt. Ich bekenne offen, meine Kenntnis der kubanischen Literatur, insbesondere der Lyrik, ist unzureichend. Dem kann ich nur meine Neugier, mein unschuldiges Interesse entgegensetzen.

Julian Schnabel überlagert am Ende seines Filmes Before Night Falls (2000) über den Schriftsteller Reinaldo Arenas Szenen des nächtlichen New York, die Stadt, in der Autor 1990 an den Folgen seiner HIV-Infektion starb, mit dem Land, in dem er aufwuchs. Wir sehen ein Kleinkind in einem Schlammloch, irgendwo in einem kubanischen Dorf, das aus einfachen Behausungen besteht. Die Kamera kreist um das Kind, während aus dem Off Musik und ein biografischer Text von Arenas eingesprochen wird. Es entsteht, getragen durch die Poesie des Sterbenden, ein Sog hin zum Ursprung, der Abstammung vom Land. Und Armut und Reichtum werden kräftig durcheinandergewirbelt durch die existenzielle Gewalt der Sprache. Arenas eröffnet seine Biografie mit den Worten:

I was two. I was standing there, naked. I bent down and licked the earth. I used to eat dirt with my cousin Dulce Maria, who was also two. I was a skinny kid with a distended belly full of worms from eating so much dirt. We ate dirt in the shed. The shed was the next place to the house where the animals slept, that is, the horses, the cows, the pigs, the chickens, the sheep.

Sollte die Erwartung geweckt worden sein, dass sich die Trennungslinie der beiden Poesien in einfacher Weise durch die Sprache zieht, hier eine städtische, dort eine naturbelassene, so zeigt uns Núñez schnell auf, wie unzureichend solche Konstrukte bleiben:

[…] Jemand könnte sagen / Vernünftig und kalt / die Verse nackt und schlecht zugeschnitten / keine Landschaften / – er der anfangs verrückt nach Landschaften war – / kaum etwas von Frische / und Vorstellungskraft und Metaphern / Ein Waisenkind der Poesie / Ich bin / wenn sie erlauben / ein Uhrmacherlehrling gebeugt / über die kaputte Aufzugsfeder dieser Welt […] (aus: Nächte, in: Nachrichten eines Einsamen, 1987)

Das Gedicht Manifest aus dem gleichen Band belegt das Missverhältnis zwischen dem, was der Dichter sagen möchte (Me gustería decir) und dem, was er aber sagen muss (Pero debo decir). Die widerstrebenden Kräfte wirken in den Satzbau hinein und es entsteht aus dem unterdrückten Schrei und den Sprechvorgaben des Dogmas ein Mischwesen, eine Utopie:

Gebt der Revolution ihre Flügel zurück

Núñez fragt die Alltagsdichter am Ende des Gedichts, ob nun die Rechnung bezahlt ist. Was genau meint diese offene Rechnung. die nach Abrechnung klingt?

Ein Schlüssel zu dieser Frage könnte das innige Verhältnis zu der Mutter sein, die im Alter von 28 Jahren ihren Sohn Víctor in Havanna geboren hatte. Mit diesem Fakt, Geburt 1955, beginnen die im Internet verfügbaren Informationen über den Autor. Es macht schon etwas Mühe, Spuren der Familiengeschichte zu finden. Auf einem Blogbeitrag des Birmingham Book Festivals 2011 findet sich der Hinweis:

Despite having roots in Galicia, North Spain, the poet’s family opted not to speak Galician as they wanted to be one hundred per cent Cuban.

Liegt die Ausgrenzung der Alltagsdichter im Falle von Núñez hier verborgen: eine Familie, die in ein anderes Land kommt, in eine andere Gesellschaft, sich der Revolution verpflichtet und die doch nicht dafür belohnt wird?

In den beiden Gedichten Ein ums andere Mal und Der Kapitän (in: Der Letzte auf dem Jahrmarkt, 1995) spricht Núñez über seine Eltern. Die Mutter, die

[…] eine Waise / Hausfrau Kommunistin Witwe ist / Alles machen sie meiner Mutter kaputt / Die Kindheit / den Stricksessel / die Ehe / Seht wie sie durch die Fensterläden herausschaut / die nicht vom Regen / sondern von ihrem eigenen Husten / und den fremden Tränen vermodert sind […]

Der Vater, ein

[…] alter Säufer / der das Leben meiner Mutter ruinierte […]

Die Mutter bleibt fest an der Seite des Sohnes. In einer unbedeutend erscheinenden Nebenbemerkung aus dem Band rückseiten (2011) lernen wir den Ursprung von Núñez‘ Poesie kennen:

[…] auf dem verwöhnten eis
frisst sich das murmeltier mit dämmerung voll
worte meiner mutter […]
(aus: [außenränder oder das murmeltier frisst sich mit dämmerung voll ])

Der Sohn trägt die Poesie der Mutter in die Welt. Er schreibt nicht, wie er bei der Lesung in Leipzig klarstellte, über Kuba, sondern von Kuba aus. Die Poesie lässt sich nicht von Systemen, Staaten, Nationen vereinnahmen; sie geht ihren Weg in die Welt und bleibt doch Familienerbe in einer eng definierten Sprache zwischen den Generationen.

y comienza un poema / sencillamente humano / Con raro olor a mundo

und beginnt ein Gedicht / ein einfach menschliches / Mit einem seltsamen Geruch nach Welt

Gleich wie fern kubanische Literatur erscheint, wie unbekannt der Autor mir auch nach einer wunderbaren Lesung, nach diesem lebhaften Wechselspiel zwischen Autor und Übersetzer in Wort, Gestik und Mimik bleiben wird, dieser Geruch ist nicht seltsam, nur seltsam vertraut und sehr willkommen.

György Dragomán: „Der Scheiterhaufen“

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Endlich mal ein Buch, das sich nicht über eine mangelnde Wahrnehmung und Anerkennung durch das deutsche und deutschsprachige Feuilleton zu beklagen braucht!

Einen Rezensionüberblick des 2015 auf Deutsch veröffentlichten Romans „Der Scheiterhaufen“ (Übersetzung: Lacy Kornitzer) des 1973 in Târgu-Mureş (Siebenbürgen, Rumänien) geborenen, der ungarischen Minderheit zugehörigen Autors György Dragomán, findet sich bei Perlentaucher.

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Literaturzeitschrift alba08: „Literatura chilena emergente / Aufstrebende chilenische Literatur“

alba08

In der Rezension zu Antonia Torres: Umzug – Mudanza habe bereits über die Literaturzeitschrift alba. lateinamerika lesen gesprochen. Die Ausgabe alba 08 widmet sich der zeitgenössischen chilenischen Literatur und bietet mit einer Sammlung von Kurzprosa, Romanausschnitten, Lyrik sowie Interviews und literaturhistorischen Essays eine kompakte Annäherung an die Literatur dieses südamerikanischen Landes.

Die Mehrzahl der 28 Autorinnen und Autoren sind in den siebziger oder achtziger Jahren geboren. In annähernd allen Beiträgen wird die Erinnerung beschworen. Es wird auch dem Außenstehenden deutlich, wie die chilenische Gesellschaft durch die Pinochet-Diktatur unterjocht wurde.

Ich werde anhand einiger Textbeispiele aufzeigen, wie dieses belastete Erbe durch die junge Generation verarbeitet wurde. Doch zuvor möchte ich Benjamin Loy, verantwortlicher Redakteur von alba 08 und Übersetzer mehrere Texte in dieser durchgängig zweisprachigen Ausgabe, fragen, wo er Unterschiede im Umgang mit dem totalitären Erbe erkennt. Er schreibt mir:

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Antonia Torres: „Umzug – Mudanza“

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Auf der Leipziger Buchmesse 2016 fand eine von der Botschaft der Republik Chile organisierte Veranstaltung unter dem Titel Chilenische Gegenwartsliteratur zweistimmig – Literatura chilena actual a dos voces statt. Es lasen Lina Meruane (*1970 in Santiago) und Antonia Torres (*1975 in Valdivia). Moderiert wurde die Lesung von Benjamin Loy, Redakteur der in Berlin herausgegebenen Literaturzeitschrift alba. lateinamerika lesen, deren Nummer 08 sich ausschließlich der zeitgenössischen chilenischen Literatur widmet. Loy las die vorgestellten Texte in deutscher Sprache.

Mein Interesse an der chilenischen Literatur entspringt, allgemein gesprochen, der Neugier, im Speziellen der sich aus ihr abgeleiteten Zusage, den Lyrikband von Enrique Winter (*1982 in Santiago) oben das meer unter der himmel zu besprechen. Das Buch soll bei luxbooks erscheinen, es war bereits für 2015 angekündigt. Die Veröffentlichung verzögert sich leider aus verlagsinternen Gründen. In alba 08 findet sich der Vorabdruck eines Gedichtes, der mir eine Vorschau auf die bevorstehende Aufgabe gewährt.

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Dirk Uwe Hansen: „wolkenformate“

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findling auf weiß
Feine Wolkenformate von Dirk Uwe Hansen

In wolkenformate sind die Worte sorgsam gesetzt. Wir sehen das Ergebnis einer Übereinkunft des Dichters Hansen mit seinem Verleger Michael Wagener, der zugleich Bildender Künstler ist und Fotografien seiner Serie landskeips zur grafisch-künstlerischen Gestaltung des Buches nutzt. Wir werden an den Doppelsinn des Wörtersetzens erinnert: Die Wahl der richtigen Worte, das Arbeiten an den Versen, solange, bis die Worte ihren endgültigen Platz gefunden haben (an den im ersten Kapitel wird was wolkenform hat eingefügten fast zwanzig Gedichten hat der Autor fünf Jahre bis zur Veröffentlichung gearbeitet). Und: die Wahl der grafischen Mittel, die Typografie, diese hochwertige Umsetzung der Texte in einer bibliophilen Ausgabe, dieses Relikt aus vergangener Druckerzeit, das Setzen der Buchstaben.

Hansens Gedichte als wortkarg zu bezeichnen, nur weil sie zumeist mit wenigen Worten auskommen (und dabei ihren Sinn nicht auf den ersten Blick freigeben), wäre eine Verkennung der gewählten Arbeitsmethode. Sie sind am Kondensat interessiert, bilden nur noch das Übriggebliebene ab, ohne die Sinnzusammenhänge zu unterdrücken.

Die Entscheidung im Layout eine Schriftart im Schriftschnitt condensed einzusetzen, ist sicher schon mit Beginn der reihe staben, deren band 08 mit wolkenformate vorliegt, gefallen. Doch erweitert sich durch den Einsatz einer schmal laufenden Schrift semantisch die Bedeutungsebenen vom Kondensat. Das ist schön.

kondensate

ist zeit ohne farbe und mitten im
körper ausdehnungslos (punkt)
sind striche gesichtet in zwei
richtungen : linien
enden fasern verfilzt
auf dem weg zurück
suchen ein anderes
gleich es zu spiegeln

Hansen dickt, dampft seine Lyrik ein und verflüssigt gleichzeitig die schwebenden Teilchen. Als Autor weiß er genau, was er will, ist aber klug genug, nicht die Kontrolle über seine Teilchen behalten zu wollen, sie schweben frei und zufällig. Und, wie jeder aus der Chaosforschung schon mal gehört hat: der Flügelschlag eines Schmetterlings hat weitgehende Folgen für das Wetter, dieses große, offene System, in dem die Niederschläge aus Layern von Wolkengrau, Wolkenblau, Wolkenschwarz und Wolkenweiß niedergehen.

Mit anakoluth und enallage bringt uns Hansen seine Technik der Reduktion und des Umbaus nahe. Anakoluth meint den Satzbruch; damit kann der Bruch des Satzbaus gemeint sein im Sinne einer vorsätzlichen Eier und Käse … (sorry, meine Tochter verkündet stolz das Rezept ihres Mittagessens), einer vorsätzlichen Störung, als auch im Sinne des in der Alltagssprache die nicht zu Ende gesprochenen Satzes. („Sehr interessant, Töchterlein! Könnte ich jetzt bitte mal wieder …“) Enallage ist eine rhetorische Figur, die darin besteht, dass die grammatische Beziehung eines Wortes zu einem anderen Wort führt als die inhaltliche, semantische Beziehung. Die Beziehungen zwischen Wörtern in einem Satz wurden also verschoben und sind deshalb nicht wörtlich zu nehmen. (Wikipedia)

Für Hansen, Altphilologe und Übersetzer aus dem Alt- wie dem Neugriechischen sind diese Figuren wohl vertraut. Aber auch ohne tiefere Kenntnis der Rhetorik ist zu spüren, dass es sich bei den während des Schreibens und Kondensierens vorgenommenen Wortstreichungen nicht um Lücken oder Leerstellen handelt, die in der Endfassung nicht mehr sichtbar sind.

Leerstellen kann es am Firmament ohnehin nicht geben. Mein Großvater hatte einmal gesagt, dort in Russland, hätte es einen Tag gegeben, an dem kein Wetter gewesen wäre. Als Kind wusste ich natürlich nicht, was eine Metapher ist, und ich versuchte mir diese Leere vorzustellen. Heute sehe ich in den Worten kein Wetter! ein gültiges Bild für die Hölle des Zweiten Weltkriegs inklusive all der Bestialität, die später sorgsam verschwiegen wurde. Dieser Einschub führt mich zum dritten Textteil aus sechs Gedichten, den Hansen mit friedhof tituliert hat.

6 | styx

kommt unsterblichkeit immer zu
früh verlangt nach
tod nach leben nach tot

kriechen kreise zu
rück in den stein und bein
geschworen : schweigt wie ein gott

Der Zyklus sag mir sirene was im Mittelteil des Bands ist formal der stärkste. Der Presseinformation entnehme ich, es handelt sich hier um „das Ergebnis eine Art Selbstbefragung“, die im Sommer 2015 entstanden ist. Auf der linken Seite die vom Ich aufgeworfenen Fragen, auf der rechten Seite ein Echo durch die Sirenen, gegenläufig angeordnet: von eins – neunte sirene bis neun – erste sirene.

Ist aber Wahrnehmung
niemals ein Anderes als der Schmerz
zwischen Innen und Außen.
(aus: neun)

Die Selbstvergewisserung Hansens gerät überzeugend. Es sind existentielle Fragestellungen, die das Ich umtreiben, aber nicht abheben lassen, um von einem Wind weggeweht zu werden.

Lies das schwindende Licht. An der Wand ist
Weiß die Summe der Farben ist Schwarz
(aus: drei)

Dazu echot die siebte Sirene ihr sag mir seelchen mit den Worten:

malst du selbst deinen fußboden blau
vielleicht
atmest du einen himmel

Überrascht hat mich der Plakatumschlag. Zum einen Schutzumschlag, zum anderen als Zugabe ein schön gestaltetes Plakat, das ich gerne aufhängen möchte. Dort finde ich aber nicht, wie erwartet, Texte, die im Band vertreten sind und für das Plakat wiederholt werden, sondern weitere Texte. Der Band besteht also aus vier Teilen. Wenn ich das Plakat an meine himmelgraublaue Wand hänge, fehlt dieser Teil im Buch. Lasse ich aber den Schutzumschlag ums Buch, bleiben die Gedichte verborgen. Vielleicht ist das eine Knobelaufgabe, die sich der Absurdität des Lebens in seiner ganzen Schönheit widmet.

wieviele millimeter sind
ein jahrtausend und ab
geschliffene ecken und
enden im sand bleibt
unter der lupe ein fjord
(aus: kiesgrube)

 

Senthuran Varatharajah: „Vor der Zunahme der Zeichen“

senthuranvaratharajah_vorderzunahme

vielleicht sprechen wir
Senthuran Varatharajahs Debüt

In seiner jüngsten Besprechung über Thomas Kunst stellt Fixpoetry-Kollege Kristoffer Cornils die Frage, was einem Verlag denn anderes übrig bleibt, als Prosa (in diesem Fall: „Freie Folge“) notdürftig als Roman zu deklarieren. Für das hier zu besprechende Buch möchte ich eine Antwort geben. Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, sich der Marktlogik widerspruchslos zu unterwerfen und jedweden Prosatext verkaufsfördernd als Roman zu bezeichnen. Ja, in dieser Schublade wird gerade das Geld gemacht, aber einem Verlag wie S. Fischer, in Deutschland als einer der Meinungs- und Marktführer anerkannt, sollte daran gelegen sein, sich handwerklicher Dinge zu erinnern. So eine Schublade ist nicht nur ein (Geld-)Behälter, sondern ein gefügtes Ganzes aus Einzelteilen, die sorgsam verarbeitet sind. Führungsleisten gab es da mal, früher! Heute flutscht sie ohne Kraftaufwand wie von Geisterhand zu.

Einen Roman als Roman zu bezeichnen, der keiner ist, birgt ein gewisses Risiko. Der Autor könnte ohne eigenes Zutun beschädigt werden. Erwartungshaltungen, die an den Roman herangetragen werden, entzieht sich Senthuran Varatharajah, Jahrgang 1984, bewusst. Er hat einen Nicht-Roman vorgelegt. Es gibt keine Handlung, es gibt keinen Spannungsbogen. Es handelt sich nicht einmal um einen Dialog zweier Menschen, sondern um zwei Monologe, die sich via Facebook die Trigger für den weiteren, assoziativen Gedankenfluss für die Dauer von sieben Tagen und Nächten zusenden.

Varatharajah lässt zwei Menschen miteinander chatten, beide haben einen Migrationshintergrund, der sie zu Außenseitern in der deutschen Mehrheitsgesellschaft macht. Senthil Vasuthevan ist Tamile, Valmira Surroi Kosovarin. Vielleicht sind sie sich schon einmal begegnet, im Netz der Freundschaften erscheint das zunächst möglich. Doch nach fast 24-stündigem Austausch, einem Abtasten, einer Durchsicht durch Profile und Freundeslisten kommen beide zu dem Schluss:

Valmira Surroi 23:57
Wir sind uns also nie begegnet.

Senthil Vasuthevan 23:58
wir hätten uns nie begegnet sein können.

Es ist nicht klar, warum beide an dieser Stelle weitermachen, mit dem Sprechen, das kein Sprechen, sondern ein Schreiben ist. Es entsteht ein Austausch, der nicht davon lebt, dass eine Person auf die andere eingeht, im Sinne von Einfühlsamkeit und Zartheit. Ihr Chat legt Zeugnis einer Fremdheit ab. Sie stellt die Verbindung, das spüren beide, her. Es ist eine drahtlose, eine, deren Signalstärke hervorragend ist.

Varatharajah stellt seinem Text ein Bibelzitat voran. „Woher bist du? Jesus aber gab ihm keine Antwort.“ (Johannes 19:9). Von Beginn an wird ein hoher Ton angeschlagen, Anspruch und Verweigerungshaltung zugleich. Der Autor, der Philosophie, evangelische Religion und Kulturwissenschaft studiert hat, geht mit seiner Sprache einen eigenen Weg. Sie kümmert sich nicht um Lesbarkeit, Verständlichkeit, ist mithin keine leichte Lektüre. Sie folgt einer inneren Logik, die an vielen Stellen scharf die Grammatik der Integration seziert, an anderen Stellen schlichtweg den Boden unter den Füßen verliert. Inhaltlich verweigert Varatharajah mit dem Zitat die Auskunft über seine Herkunft. Und in den biografischen Angaben des Schutzumschlags fehlt der Geburtsort. Es ist sein gutes Recht, als in Deutschland lebender Mensch mit gleichen Pflichten und Rechten anerkannt zu werden. Aber greift er nicht zu hoch, wenn er die Passionsgeschichte zitiert? „Da sprach Pilatus zu ihm: Redest du nicht mit mir?“ (Johannes 19:10).

Ich bekenne mich zu meiner Neugier. Wenn ich einen Menschen sehe, von dem ich aufgrund anderer Hautfarbe oder Sprache annehme, er komme aus einer anderen Region in dieser Welt, möchte ich fragen dürfen: Woher kommst du? Freilich geriet ich dabei schon an Menschen, die in zweiter oder dritter Generation hier leben und mir irgendeinen Ort in Deutschland nannten, in dem sie geboren wurden. Manche ließen mich im Regen stehen, als hätte ich wie die Buchhändlerin bei Varatharajah eine als Neugier schlecht getarnte rassistische Bemerkung gemacht.

… es könnte bereits mitte des semesters gewesen sein, fragte mich die buchhändlerin, nachdem ich die bücher auf den tresen gelegt hatte und sie sie zu scannen anfing, woher ich komme und ob ich mich hier oder in meinem heimatland wohler fühlen würde.

Dass die Frage nach der Herkunft nicht so leicht zu beantworten ist, nicht nur mit dem Verweis auf den Ort der Geburt, zeigt Valmira, wenn sie schreibt:

Einige meiner Freunde haben die Städte, aus denen ihre Eltern kamen, als ihre Heimatstadt angegeben, obwohl sie in Frankfurt, München oder Göttingen geboren wurden …

Vor der Zunahme der Zeichen ist ein sperriges Buch mit einem Titel, der zunächst nicht eingänglich ist. Nach dem Lesen der entsprechenden Textstelle bekommt er jedoch Gewicht und lastet schwer.

die sri lankische armee begann junge tamilische männer festzunehmen und verschwinden zu lassen. sie kamen ohne ankündigung. sie kamen durch wände. sie kamen tag und nacht. meine mutter sah, wie sie in einem jeep an ihrem haus vorbeifuhren. sie sagt, das sei ein zeichen. sie sagt, bevor diese zeichen zunehmen, vor der zunahme der zeichen sollte er gehen. er hätte keine zeit mehr.

Varatharajahs Debüt besitzt das Potenzial, bei den Lesern eine Langzeitwirkung zu entfalten. Diese Prosa leistet weit mehr als ein leicht konsumerabler Roman, der mit bewährten Stilmitteln hantiert. Der Verlag schreibt, der Text gehe über die Grenzen der Sprache und über die Brüche in Biographien. Abschließend ohne weitere Kommentare einige Ausschnitte, die das belegen könnten.

niemand wird wissen, von welchen rändern wir aus sprechen, und dass wir darüber sprechen können, ändert nichts daran.

vielleicht sprechen wir, um an das ende dieser und jeder möglichen sprache zu gelangen …

… als wollten sie die dinge aufbrechen, die wörter aufbrechen; vielleicht sind sie zu weit gegangen, vielleicht, vielleicht sind sie noch nicht weit genug gegangen, vielleicht ist das die art, wie sinn allein erscheint, unbeabsichtigt und unterwegs, auf der rückseite der zeichen, als buchstabenschatten, der selbst schatten wirft, als bewegung unter dem papier, verborgen, flüchtig …

wir werden uns zwischen den zeilen und zeichen verraten.

ich fange an. das tamilische namensrecht: der vorname des vaters wird der nachname der kinder sein. sie tragen den namen des vaters, aber er trägt einen, den eines anderen. hier, in deutschland, endet diese linie. wenn wir kinder haben sollten, werden sie nicht meinen vor-, sondern den unseres vaters als nachnamen erhalten. mit uns endet dieses gesetz. wir sind das ende.

als kind glaubte ich, dass das wort untersagen heißt, dass man unter dem sagen spricht, unter dem, was sagbar ist, und ich verstand nicht, wie versprechen beides sein konnte, eine zuverlässige sowie unzuverlässige rede, und dass einstellen ein anfangen und ein enden bedeuten konnte, auch das begriff ich nicht.

bis zur äußersten bedeutung müssen wir gehen und es wird nicht weit genug gewesen sein. wir gehen.

P. S. Varatharajah ist dem Wörterbuch meines Schreibprogramms unbekannt. Korrekturvorschlag: Rathausmarkt. Desweiteren: Vasuthevan, unbekannt, Vorschlag: Asylrelevant.

Kerstin Preiwuß: „Gespür für Licht“

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Aalmutter fang an
Kerstin Preiwuß mit Gespür für Licht

Hans Christian Andersen notiert in Eine Geschichte aus den Dünen den Satz: „Das Kindesalter hat für jeden seine Lichthöhen, die später durchs ganze Leben hindurchstrahlen.“ Kerstin Preiwuß nimmt uns in ihrer dritten Lyrikpublikation mit in einen geschützten Raum, der voller (Vor-)Freude und Ängste ist. Sie führt uns entlang der Jahreszeiten in die zweite Hälfte ihrer Schwangerschaft, zur Geburt und zum ersten Lebenshalbjahr ihres Kindes. Die Unsicherheit, die Verlustängste der (werdenden) Mutter sind in der Referenz zu Andersens Aalmutter festgehalten, einem dem Jahreszeitenzyklus vorangestellten Gedicht, in dem es heißt:

Ich habe kein Gespür für mich selbst
aber ein Gespür für Licht.

Ungeduldig wird das Frühjahr erwartet. Es ist bereits April und die Temperaturen sind immer noch um den Gefrierpunkt. Die Außenwelt verschmilzt nach wenigen Gedichten mit der Innenwelt. Sollte Mann überlesen haben, dass die Autorin das Wort Mutter bereits zweimal benutzt hat, so bringt sie mit überzeugender poetischen Kraft und Klarheit ihre Schwangerschaft zum Ausdruck.

Ich halte meine Hand an den Bauch.
Das Wasser schwappt gegen den Rand.
Die Waage zittert leicht.
Ich bin eine Höhle davor eine leere Hülle danach.

Wir dürfen die Entwicklung dieser beiden Menschen miterleben, spüren, wie sie sich annähern, dort, wo sie schon ganz nahe sind:
Du bist noch ein Fremdwort. – Noch hält die Fracht. – Ich bin da widerhallt mein Kind.

Spätestens im siebten Frühlingsgedicht kann ich eine literarische Analogie nicht mehr übersehen. Und ich möchte darüber sprechen. Ich habe solch zarte, der Außenwelt von innen heraus zugewandte Lyrik schon einmal gelesen. (Sicherlich lässt sich mehr als eine Seelenverwandtschaft finden, so alt die Mutterschaft ist, so lange ist sie bestimmt literarisches Thema.)

Mevina Puorger hat 2004 die Gedichte aus dem Nachlass von Luisa Famos unter dem Titel ich bin die schwalbe von einst zweisprachig, rätoromanisch und deutsch, herausgegeben. Kapitel III trägt den Titel Ich warte, dass der Kreis / Der Jahreszeiten sich schliesst. Am 25. November 1964 schreibt Famos:

Für mich war jener Tag
Der letzte meines Herbstes
So lichterfüllt
Vor allen andern lieb
So anders war der Himmel
In seinem tiefen Blau
Verwoben mit Wünschen und
Fragen ohne Antwort

Es lohnt sich, beide Bücher nebeneinanderzulegen und sich vorsichtig heranzutasten an das, was Mutter und Kind verbindet.

Kerstin Preiwuß gibt ihren Zweifeln, ihren Ängsten Raum. Da ist nicht nur die frohe Erwartung, eine Mystifizierung der Mutterschaft, wie sie ohnehin nicht mehr in die moderne Gesellschaft passt. Was man von einer Dichterin erwarten darf, erfüllt Preiwuß. Sie arbeitet präzise an der Sprache und nimmt dabei intime Augenblicke nicht aus. Sie rückt rücksichtslos ihre Schwächen ins Licht, um daraus poetisch wie persönlich Kraft zu gewinnen für das neue Leben.

Ich will verschwimmen bis ich unsichtbar bin.
Wie Wasser im Fluss nicht zu erkennen
wann es an Fahrt gewinnt
und wie es vor und zurückschnellt.

Und an anderer Stelle dieser wunderbare Aufschrei:

Guten Morgen du rapsgeiles Land.
Alles prima heute.
Ich bin im Gleichgewicht.

In dem Gedicht über die Geburt kulminiert der Zweifel, der Schmerz.

Enge treibt mich.
Wehe bin ich
hab noch nichts zur Welt gebracht
[…]
Immer noch eng der Kanal.
Verformt mir’s Ah.
[…]
Danach weht Wind.
Danach schmutziges Kind.
Danach blauer Himmel.

Nach der Geburt, in der Lebensphase, in der der Säugling ganz von der Mutter abhängig ist, wechseln Zuversicht, Ungeduld und tiefe Zweifel in schneller Folge. Dabei wendet sich die Mutter verstärkt der Außenwelt zu, ruft regelrecht nach Impulsen von außen, die sie aus ihrer Situation herausreißen.

Leben benötigt Zeit auf einem Planeten.
Ich muss das anerkennen.

Ich will fortgehen weil ich nicht weiß was das ist.

Ich weiß gar nicht mehr ob es mich gibt.

Ich zerbreche.

Das sind Aussagen, die andere Mütter in ähnlicher Form äußern. Sie zeugen von der kraftraubenden Arbeit, die frau bewältigt, um Kinder aufzuziehen.

Bin leer in mir ein Gefäß innen
und außen Material aus Welt.
Osmose ausgeschnitten
heißt erkennen was man schon weiß.

Wenn Preiwuß ihren Band mit dem Volkslied Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder … eröffnet, zeigt sie: sie ist sich bewusst, ihre Mutterschaft steht in einer langen Generationsfolge, in die die 1980 geborene Lyrikerin sich nun einordnet. Sie ist nicht klüger als andere Mütter. Sie formt neue Sätze, neue Bilder, darin enthalten die Lebenserfahrung anderer. Es sind poetisch kraftvolle Bilder, die sie ihrem Kind und sich widmet.

Etgar Keret: „Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn“

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Die Bonusmeilen der Abwesenheit
Etgar Keret als Sohn und Vater

„Du bist auch ein Kind“, sagt mein Sohn und nimmt meinem Argument den Wind aus den Segeln, „das Kind deiner Eltern!“ Er strahlt. Er weiß, er hat ins Schwarze getroffen. Denn obschon mein Vater vor vielen Jahren starb und ihn nicht kennenlernte, hat mein Sohn Recht. Kinder erinnern uns daran, dass wir in einer Traditionslinie stehen, die über den Tod hinaus Gültigkeit hat. Und als Erwachsener zum Elternteil zu werden, bedeutet nichts anderes, als ein Kind zu sein und zeitgleich ein Kind wachsen zu sehen.

Etgar Keret hat ein Buch geschrieben, das über diese Erfahrung berichtet. Es sind, daran lässt der Titel keinen Zweifel, sieben gute Jahre, die den Schriftsteller den Weg seines Sohnes ins Leben und den Weg seines Vaters aus dem Leben beobachten lassen. Er tut das mit einer gehörigen Portion Humor, die oftmals ins Derb-Übertriebene abgleitet und mit der ich wenig anfangen kann. Ist dies ein Schutzmechanismus, der uns gerade zu Vätern gewordenen Männern davor bewahrt, angesichts dieser völligen Umstellung der Lebensumstände, haltlos zu werden und die Fassung zu verlieren?

„Wie jeder wahre Abhängige hat er hinsichtlich seiner Freizeitgestaltung nicht die gleiche Anzahl von Optionen wie andere – zum Beispiel ein gutes Buch oder einen abendlichen Spaziergang oder die NBA-Playoffs. Für ihn gibt es nur zwei Möglichkeiten: eine Brust oder die Hölle. ‚Bald wirst du die Welt entdecken – Mädchen, Alkohol, illegales Glücksspiel‘, sage ich, um ihn zu beruhigen. Aber wir beide wissen, dass bis dahin nur die Brust existieren wird. Zum Glück für ihn und für uns hat er eine Mutter, die mit zweien davon ausgestattet ist. Worst-Case-Scenario: Wenn eine versagt, gibt es noch eine zum Ersatz.“

Klingt gut, locker-flockig geschrieben, aber eine sehr vereinfachte Sicht. Bei einem Milchstau haben alle in der Familie ein Problem: die Frau hat Schmerzen, das Kind schreit und der Mann sucht verzweifelt nach Quark im Kühlschrank.

Über die drei ersten Lebensjahre von Lev erfahren wir wenig, der Vater scheint weg weit, irgendwo unterwegs auf Lesungen und Literaturfestivals in der ganzen Welt. Wir lesen Geschichten, Anekdoten aus dem Leben eines Schriftstellers, die nicht selten eine unangenehme Ich-Bezogenheit ausatmen. Oder wir erleben den Autor über den Wolken als Vielflieger, versunken in Meditationen über den Inhalt der hochglänzenden Tax-Free-Magazine, wo er einen „unerklärlichen Anfall von Ernsthaftigkeit“ erlebt.

Glücklicherweise nehmen diese Anfälle zu. Je älter der Sohn wird, desto reifer, zärtlicher spiegeln sich im Buch Kerets Reflexionen über seine Doppelrolle als Vater und Sohn. Dabei geht der Humor nicht verloren, er wird feiner. Ich lese das als einen Annäherungsprozess, den ich als Vater gut nachvollziehen kann, als Leser nachvollziehen darf.

„Die Helden der Gutenachtgeschichten meines Vaters waren immer Trinker und Prostituierte, und als Kind hatte ich sie sehr, sehr gern. Ich wusste noch nicht, was ein Trinker und eine Prostituierte eigentlich waren, aber ich erkannte Magie, wenn ich sie sah, und die Geschichten meines Vaters waren voller Magie und Mitgefühl. Und jetzt, über sechzig Jahre später, stehe ich also hier, nicht weit von der Welt der Geschichten meiner Kindheit.“

Im Kapitel „Heldenverehrung“ nähert sich Keret seinem großen Bruder, es ist ein weiteres Beispiel für die leise Zärtlichkeit, mit der die Familie uns vorgestellt wird, „ohne die Stimme heben zu müssen.“ Diese Tonlage berührt mich.

Die Frage nach Abwesenheit ist vordergründig eine, die sich auf die Rollenverteilung innerhalb der Familie bezieht, das, was in der deutschen Gesellschaft heute unter dem Stichwort „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ diskutiert wird, zu selten von Männern. Kerets Buch vermittelt den spröden Eindruck, die Erziehung Levs sei hauptsächlich Sache seiner Frau.

Aber Abwesenheit hat hier eine weitere, tiefere Dimension. Kerets Eltern sind Überlebende der Shoah.

„Als Kind habe ich mir oft Polen vorgestellt. Meine Mutter, die in Warschau aufgewachsen war, hatte mir viele Geschichten über die Stadt erzählt, über den Jerusalem Boulevard (Aleje Jrozolimskie), wo sie geboren worden war und als kleines Mädchen gespielt hatte, und über das Ghetto, wo sie ihre Kinderjahre mit dem Kampf ums Überleben verbracht und ihre ganze Familie verloren hatte.“

„Während des Zweiten Weltkriegs versteckten sich mein Vater, seine Eltern und noch ein paar Menschen fast sechshundert Tage in einem Loch im Boden in einer polnischen Stadt. Das Loch war so klein, dass sie darin weder stehen noch sich hinlegen konnten, sondern nur sitzen.“

Ein Ort, an dem man stehen, sitzen und liegen kann, ist das nach Keret benannte Haus des polnischen Architekten Jakub Szczesny, das 2012 fertiggestellt wurde und mit 4,09 Quadratmeter als das kleinste Gebäude der Welt gilt. Es markiert als minimalistische Architektur und Mahnmal den ehemaligen Zugang zum Warschauer Ghetto, den Kerets Mutter nutzte, um Lebensmittel ins Ghetto zu schmuggeln. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts tat die polnische Regierung wenig, um die verbliebenen Baureste des Ghettos vor dem Zerfall zu schützen. Gedenktafeln und im Boden eingelassene Verläufe der Ghettomauer ermöglichten erst um etwa 2010, das Gedenken an das Ghetto zu visualisieren und im Stadtbild zu bewahren.

„Als ich aus dem Café zurückkomme, wartet am Eingang eine Nachbarin auf mich – eine Frau, die sogar noch älter ist als meine Mutter und Einmachgläser in Händen hält. Sie lebt auf der anderen Straßenseite, hat von dem schmalen Haus gehört und will den neuen israelischen Nachbarn mit hausgemachter Marmelade begrüßen.“

Eingedenk der perfiden Strategie der Deutschen, die Juden im Warschauer Ghetto zu Beginn der Deportationen im Juli 1942 zum Umschlagplatz zu locken – es wurde jedem, der dort freiwillig hingeht, Brot und Marmelade versprochen – ist diese hausgemachte Marmelade einer alten Frau aus Warschau eine irritierend wertvolle, vielleicht eine sich mit der Geschichte aussöhnende Metapher für An- und Abwesenheit.

Keret gelingt ein lebendiges Bild der israelischen Gesellschaft, die sich zwischen Bedrohung, Krieg und Hysterie, Modernität und tiefer, dem Autor suspekten, Religiosität bewegt. Als die Luftschutzsirene ertönt, wirft sich Familie Keret in den Straßengraben. Lev will nicht, bis der Vater das Sandwichspiel vorschlägt: Vater und Mutter sind die Brotscheiben, Lev der Belag (Pastrami: geräuchertes, rotes Fleisch!). So führt die Bedrohung zur Nähe, zur Anwesenheit, die sich das Kind fortwährend wünscht, gepresst zwischen Vater und Mutter, die ihre Körper als Schutzschilde anbieten.

 

Wieland Förster: „Die versiegelte Tür“

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10.02.2016 / Märkische Allgemeine:
Kunstraub in Brandenburg
„Penthesilea I“ von Wieland Förster gestohlen

12.02.2016 / Wieland Förster zum 86. Geburtstag!
Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Über einen Mann sprechen, dessen künstlerisches Werk als Bildhauer so umfangreich wie ausgezeichnet ist, der mir aber bis zur Lektüre des obigen Buchs völlig unbekannt war? Über eine Biografie sprechen, die exemplarisch dafür steht, wie die totalitären Systeme im Deutschland des 20. Jahrhunderts sich gegen den Menschen gestellt haben? Über das literarische Debüt des Künstlers aus dem Jahre 1982 sprechen, das ich jetzt unter dem Titel „Die versiegelte Tür“ im Regal alter Bücher fand?

Letztes Jahr zu seinem 85. Geburtstag gab es viele Beiträge über Leben und Werk Försters, beispielsweise auf Deutschlandradio Kultur.

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Phạm Thị Hoài: „Sonntagsmenü“

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„Sonntagmenü“ der 1960 geborenen vietnamesischen Schriftstellerin Phạm Thị Hoài versammelt elf Kurzgeschichten, die 1995 in deutscher Erstausgabe erschienen. Dieter Erdmann übersetzte die Texte ins Deutsche.

Das sind Sätze, die sich selbstverständlich hinschreiben, aber schon ungenau sind, was daran liegt, dass wir in der deutschen Sprache keine differenzierten Ausdrücke für Kurzprosa haben. Die Kurzgeschichte orientiert sich an der short story und meint eine ganz bestimmte Art der Kurzprosa. Die hier versammelte Kurzprosa unterscheidet sich in Länge, Tonart und Inhalt so sehr, dass es nicht leicht ist, diese Sprünge mitzuspringen.

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