Happy Birthday – 1 Jahr Literaturblog »vitabu vingi«

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Vor einem Jahr schrieb ich meinen ersten Beitrag auf diesem Blog. Was zunächst als eine Art Spielwiese in Sachen wordpress-Anwendung gedacht war, hat sich gut entwickelt und mich bestärkt, meine Meinung in Sachen Literatur zu veröffentlichen, in Form von Rezensionen wahlweise entweder bei Faustkultur, Fixpoetry oder hier im eigenen Haus, das ich vitabu vingi genannt habe. Auf der Buchmesse in Frankfurt im Oktober traf ich eine Afrikanistin, die sofort wusste, dass damit viele Bücher gemeint sind.

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James Salter: „Alles, was ist“

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Verloren zwischen Small-Talks und Sex

Der 1925 geborene, US-amerikanische Schriftsteller James Salter starb im Sommer dieses Jahres. Sein Roman „Alles, was ist“, 2013 als sechster Roman nach über 30 Jahren Pause geschrieben, muss demnach als Spätwerk und literarisches Vermächtnis gelesen werden. Das Werk wurde im Jahr des Erscheinens von Beatrice Howeg ins Deutsche übersetzt.

Meine Kenntnis der US-amerikanischen Literatur ist durch große Lücken gekennzeichnet, weshalb mir eine Einordnung des Autors und seines Werk in einen Gesamtzusammenhang schwer fällt. Auf der Coverrückseite wird Salter in einem Atemzug mit Philip Roth genannt, der schon lange als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gilt.

Salter entwirft eine Gesellschaftsbild der amerikanischen Mittelschicht, das vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhundert reicht.

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John Burnside: „Lügen über meinen Vater“

John Burnside: Lügen über meinen Vater

Ein Roman von fulminanter Wucht, würde ich mir, sollte ich für den Verlag eine Kritik von „Lügen über meinen Vater“ von John Burnside auf verwertbare, griffe Formeln untersuchen, markieren. Ich selbst lege bei der Auswahl meiner Lektüre keinen großen Wert auf diese Kritikerstimmenschnipsel, die auf der Rückseite abgedruckt sind und dort abbrechen, wo die Rezension ins Detail geht und differenziert.

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Tschola Lomtatidse: „Die Beichte“

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Die Beichte“ des georgischen Revolutionärs und Schriftstellers Tschola Lomtatidse (1878 – 1915) versammelt fünf Erzählungen, die, wie wir aus dem Vorwort von Dato Barbakadse erfahren, der lyrischen Prosa und gleichsam der klassischen Moderne der georgischen Literatur zuzurechnen sind. Ins Deutsche übertragen wurden die Texte vom Artschil Chotiwari, Steffi Chotiwari-Jünger und Nino Stoica.

Diese uns in Mitteleuropa ferne Literatur zugänglich zu machen, ist ein Verdienst von Uli Rothfuss, dem Herausgeber der Kaukasischen Bibliothek, und dem Verleger Traian Pop.

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J.M.G. Le Clézio: „Onitsha“

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Mich in die Hände dieses Buches zu begeben, war eine gute Entscheidung. J.M.G. Le Clézio, Literatur-Nobelpreisträger von 2008, führt mich in „Onitsha“ (Übersetzung: Uli Wittmann) entlang der Westküste Afrikas zu immer neuen Orten, die meine Sehnsucht wecken und es mir ganz leicht machen, mich in den 12-jährigen Fintan hineinzuversetzen. Das Kind reist mit seiner noch jungen Mutter, die er nur noch „Maou“ nennt, nach Onitsha, um seinen unbekannten Vater zu treffen und dort als Familie zu leben.

Onitsha im Jahre 1948 ist ein kleiner Ort am Ufer des Nigers, in den sechziger Jahren Schauplatz von Krieg und Hunger (Biafra-Krieg), heute eine Millionenstadt im Süden Nigerias.

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Sipho Sepamla: „Soweto, das ich liebe“

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Wenn Indra Wussow in ihrem Nachwort „Poetische Landschaften der Leere – Südafrikanische Lyrik zwischen den Zeiten“ der im Verlag Das Wunderhorn erschienenen Anthologie „Ankunft eines weiteren Tages“ von den Dichtern des Struggle spricht, dann meint sie sicher auch Sipho Sepamla  (1932 – 2007). Sie schreibt über die Zeit des Soweto Uprising im Jahr 1976:

„Lyrik war politisch, gab den Menschen im Kampf gegen den übermächtig scheinenden Apartheidsstaat eine Stimme und Trost. Selten hat eine Generation südafrikanischer Dichter, Verbannte im eigenen Land oder Exilanten, einen so wichtigen und sichtbaren Beitrag zur Befreiung des ganzen Volkes von den Fesseln eines Unrechtsstaates geleistet.“

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Raoul Schrott: „Die Kunst an nichts zu glauben“

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Wo fromm ein eitel Spiel mit dem Schein

Ich gebe zu, für den kurzen Moment einer Lesung (Stadtkirche Darmstadt, 02.10.2015) habe ich an das Vorhandensein einer historischen Schrift in der Biblioteca Classense geglaubt, die Raoul Schrott als seine Entdeckung ausgibt: das „Manual der transitorischen Existenz“. Wäre ich auf der Höhe der Zeit und des deutschsprachigen Feuilletons gewesen, wäre mir der Trug bereits bekannt geworden. Denn Ende September hatte Hannelore Schlaffer in der Neuen Zürcher Zeitung geschrieben, dieses Manual stamme aus der gleichen Feder wie die Gedichte, entspringe Schrotts Kreation. Das Manual ist demnach ein Fake.

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Moya Cannon: „Keats Lives“ und „Hands“

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Moya Cannon, 1956 im County Donegal, Irland geboren, lebt in Dublin und hat bislang fünf Gedichtbände veröffentlicht. Oar (Salmon Publishing, Knockeven 1990, überarbeitete Fassung: The Gallery Press, Loughcrew 2000), The Parchment Boat (The Gallery Press, Loughcrew 1997), Carrying the Songs (Carcanet, Manchester 2007, beinhaltet eine Auswahl aus „Oar“ und „The Parchment Boat“), Hands (Carcanet, Manchester 2011) und, gerade erschienen, Keats Lives (Carcanet, Manchester 2015).

Ich bin überzeugt, mit dieser Lyrik eine große europäische Stimme zu hören. Was zeichnet diese Lyrik aus?

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Katja Petrowskaja: „Vielleicht Esther“

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„Statt rechtzeitig Fragen zu stellen, hatte ich mich am Wort Geschichte verschluckt.“

Katja Petrowskaja macht die Suche nach ihren Familienangehörigen zu einem Vornamen; all die gedachten Möglichkeiten, die die Fakten dort ersetzen müssen, wo die Leere, das Schweigen, der Verlust übermächtig ist, all die Zweifel, all die Verzweiflung an diesem Labyrinth „Familie“ : Vielleicht ist der erste Vorname, Esther der zweite Vorname ihrer Urgroßmutter.

Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau.
Wie, vielleicht?, fragte ich empört, du weißt nicht, wie deine Großmutter hieß?
Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt, erwiderte mein Vater, ich sagte Babuschka, und meine Eltern sagten Mutter.

Vielleicht Esther ist in Kiew geblieben. Sie bewegte sich in der plötzlich leer gewordenen Wohnung mit Mühe, das Essen brachten die Nachbarn. Wir dachten, fügte mein Vater hinzu, wir kämen bald zurück, aber wir sind erst nach sieben Jahren zurückgekommen.


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Ramsingh Urveti: „I Saw a Peacock with a Fiery Tail“

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Was passiert, wenn man ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes Gedicht anonymer Herkunft, das auf zweierlei Weise gelesen werden kann, zusammenbringt mit einem Künstler aus Zentralindien, 1970 geboren und einem Buchdesigner aus São Paulo stammend, heute in New York lebend?

Es entsteht prämierte Buchkunst vom Feinsten.

Das Gedicht I Saw a Peacock with a Fiery Tail ist fester Bestandteil von Anthologien zur Kinderpoesie in England, weist in seinen Lesarten des Verrückten, Absurden und des Geordneten, Normalen aber weit über Kinderreime hinaus.

Is the difference between fantasy and reality largely grammatical? Or are these inventions the very essence of poetry […]?

Wie Ramsingh Urveti und Jonathan Yamakami dieses Gedicht für Tara Books graphisch umsetzen und als Buch gestalten, ist sehr schön. Und diese Schönheit wirkt seit 2011, inzwischen in der 3. Auflage.

Einen Einblick gibt ein Video auf Youtube. Doch, Vorsicht! Dieses Buch in eigenen Händen zu halten, ist unvergleichlich. Und man muss gar nicht auf Buchmessen sein (wie gerade aktuell in Frankfurt) oder nach Chennai reisen, wo Tara Books zuhause ist, um Bücher aus dem Verlagsprogramm zu bekommen: Runge Verlagsauslieferung (Kontaktperson: Jutta Hartmann) in Steinhagen hilft gerne weiter.

Robert Seethaler: „Der Trafikant“

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Weil ich Trafikant bin
Robert Seethaler schreibt „eine kleine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt“

Am Ende liegt eine „merkwürdige Stille über der Stadt“, die kurz darauf durch ein Vibrieren der Luft zerschnitten wird. Anezka beginnt, um ihr Leben zu laufen. Vielleicht tropft ihr noch einmal ein „Burschi“ aus dem Mund und vielleicht würde Franz, lebte er noch, ein letztes Mal antworten: „Nenn mich nicht Burschi! Mein Name ist Franz Huchel.“ Es ist der 12. März 1945, die Alliierten schicken sich an, ihre Bomben über Wien abzuwerfen.

Romane, deren Spannungsbögen außerhalb der erzählten Geschichte liegen, können von hinten nach vorne besprochen werden. Sie laufen keine Gefahr, vom Kritiker die Pointe zerredet zu bekommen. Robert Seethalers 2012 veröffentlichter Roman „Der Trafikant“ gehört in diese Kategorie. Wir lesen die Geschichte des Franz Huchel vom Anfang und im Grunde wissen wir anhand der geschichtlichen Fakten vom Ende. Alles fügt sich selbstverständlich und leicht, unabhängig von der Schwergewichtigkeit der Handlung, die in den Jahren 1937 und 1938 angelegt ist.

Am 7. Juni 1938 wird Franz von der Gestapo abgeholt und im Hotel Metropol einer Behandlung unterzogen, die er nicht überleben wird. Zuvor hatte er mit dem Finger auf Wien gezeigt, als er die Hose seines bereits ermordeten Lehrmeisters Otto Trsnjek an einem Fahnenmast hisste, wo zuvor eine Hakenkreuzfahne aufgezogen war.

Jeder hat sich mit jedem gestritten, und alle haben alle angeschrien, und vor lauter Aufregung hat man ziemlich lang nicht daran gedacht, die Hose von da oben herunterzuholen. Als dann aber endlich doch einer auf die Idee gekommen ist, an der Leine zu ziehen, ist etwas wirklich Bemerkenswertes passiert. Genau in diesem Moment ist nämlich ein Wind aufgekommen. […] Das war keine normale Hose. Es war praktisch nur eine halbe. Eine einbeinige Hose war das. Das andere Hosenbein war ungefähr auf Kniehöhe abgeschnürt. […] Und für einen kurzen Augenblick hat dieses braune, zerknitterte und schon ein bisserl ausgebeulte Hosenbein dort oben am Himmel ausgesehen wie ein Zeigefinger. Wie ein riesiger Zeigefinger, der den Leuten den Weg weist. Wohin der genau gezeigt haben soll, bleibt natürlich allerhöchstens Spekulation. In jedem Fall aber, wenn Sie mich fragen, weit, weit weg.

Am 4. Juni 1938 verlässt Professor Dr. Sigmund Freud mit seiner Familie Wien. Die Reichsfluchtsteuer hat einen Großteil des Vermögens aufgezehrt. Franz kommt noch an den Bahnsteig, kann aber wegen des Gedränges auf dem Bahnsteig nur aus der Ferne beobachten, wie Tochter Anna, Freud in den Waggon schiebt.

Am 3. Juni 1938, bei ihrem letzten Gespräch, hatte Franz zu Freud gesagt:

„Und Sie kommen ja zurück. In jedem Fall und ganz bestimmt kommen Sie zurück. Weil Heimat ist Heimat, und Zuhause ist Zuhause. Und irgendwann wird sich der Hitler wieder beruhigt haben. Und alle anderen auch. Und alles wird wieder so sein wie früher. Oder was meinen Sie, Herr Professor?“

Anezka, dieses böhmische Mädchen, das Franz‘ Hormonhaushalt so durcheinander bringt, ist jetzt mit einem SS-Offizier zusammen.

„ Ach so ist das“, sagte Franz nach einer Weile. Anezka blinzelte träge.
„ Ja, so ist das“, antwortete sie.

Am 16. Mai 1938 werden Franz die persönlichen Gegenstände von Otto zugestellt. Es ist die Mitteilung „vom Ableben des Ihnen bekannten Trafikanten Herrn Otto Trsnjek“.

In vielen kleinen Schritten ließe sich die Handlung rückverfolgen, etwa der Tag, an dem Franz beginnt, seine Träume zu notieren und auf das Schaufenster der Trafik zu kleben, Ottos Verhaftung, Franz‘ Sex mit Anezka, die Schmierereien an der Trafik („Judenfreund“), Franz‘ Gespräche mit Freud über das weibliche Geschlecht, die Postkarten, die Franz seiner Mutter schickt, die ersten Lehrtage in der Trafik, diesem kleinen Laden, wo sich Zeitschriften, Zeitungen und Rauchwaren stapeln, wie Otto seinen Lehrling lehrt, Zeitungen zu lesen und sich ruhig zu verhalten, Franz‘ Ankunft in Wien. Alles Schritte hin zur Exposition:

An einem Sonntag im Spätsommer des Jahres 1937 zog ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über das Salzkammergut, das dem bislang eher ereignislos vor sich hin tröpfelnden Leben Franz Huchels eine ebenso jähe wie folgenschwere Wendung geben sollte.

Es sind schon viele lobende Worte über Buch und Autor aus den Trichtern maßgeblicher Feuilletonredaktionen in die Welt gegangen. Da macht es wenig Sinn, drei Jahre nach Erscheinen des Buches hinterherzukommen wie „die alt Fasnacht“, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Lieber nutze ich den mir gebotenen Raum, einem Tagtraum zu folgen und eine literarische Analogie aufzuzeigen.

Am Gleis II des Wiener Westbahnhofs saßen vierhundertzweiundfünfzig politische Gefangene zusammengedrängt in den hinteren Waggons eines Sonderzugs und warteten auf die Abfahrt nach Dachau. Am gegenüberliegenden Bahnsteig saßen eine alte Frau und ein kleiner Bub nebeneinander auf einer Bank und bissen abwechselnd von einem großen Butterbrot ab. […] Als das Pfeifsignal zur Abfahrt losschrillte und der Zug sich in Bewegung setzte, hüpfte der Bub von der Bank und lief winkend und lachend den Bahnsteig entlang. In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames: Alle Gefangenen an den Fenster winkten zurück.

Warum werde ich das Bild des Trafikanten Otto nicht los, der Einbeinige, der sich mit seinen Krücken durch die Welt bewegt? Ich sehe dieses Kind und ich sehe tagträumend Otto in diesem Deportationszug. Und ich sehe das Winken des Kindes. Das erinnert mich an einen Text, der mich damals im Deutschunterricht der sechsten Klasse sehr gerührt hatte. Eben habe ich nachgeschaut und bin erstaunt: „Die Nacht im Hotel“ von Siegfried Lenz ist aus dem Jahr 1949. Nie hatte ich mit diesem Text Wunden aus einem gerade zu Ende gegangenen Krieg in Verbindung gebracht. Vielmehr die eigene Verletzlichkeit aus meinen Kindertagen der Siebziger Jahre. Wie auch immer: die Melodie, die Seethaler in dieser Szene anspielt, findet sich bei Lenz in der Begegnung des winkenden Kindes am beschrankten Bahnübergang und dem Zurückwinken des Versehrten mit dem an einer Krücke festgebundenen Taschentuch wieder. In einem kurzen Moment treffen sich bei Lenz und bei Seethaler Ungleiche, für einen kurzen Moment erkennen sie sich in ihrer Menschlichkeit. Das ist großartig.

Ilse Hehn: „Tage Ost – West“

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Ohne Fortsetzung und Fußnoten
Gedichte und Überschreibungen von Ilse Hehn über die Heimat Banat und andere Zungen

In Wort und Bild präsentiert der Pop Verlag die 1943 geborene Schriftstellerin und Bildenden Künstlerin in ihrer neuesten Veröffentlichung. Die eingefügten bildnerischen Arbeiten gehen dabei über die oft gesehene ausschmückende Funktion bei Lyrikpublikationen hinaus. Auch wenn der kreative Prozess – entsteht zuerst der Text, wird dann daraus die Collage mit Textfragmenten oder inspirieren die Farben, die Materialität der Collage und einzelne Textsplitter zur Ausarbeitung eines Gedichts? – nicht erlebbar ist, so wird schon beim ersten Anschauen der bildnerischen Arbeiten klar: Ilse Hehn versteht das Wechselspiel zwischen Literatur und Kunst. 18 Arbeiten, Fotografien oder Fotocollagen mit Überschreibungen und Übermalungen, auch Materialmontagen aus Buchseiten und Baumrinden, bringen uns die Künstlerin nahe. Bedauerlicherweise fehlen Angaben zur Größe der Kunstwerke und zum Entstehungsjahr. Es ist reizvoll, das Titelbild neben eine Arbeit von Shirin Neshat mit dem Titel „I am It’s Secret (aus der Serie: „The Women of Allah Series“) von 1993 zu legen. Zwei andere Arbeiten sagen mir besonders zu. Sie unterscheiden sich durch ihre Farbtemperatur stark: „Wüste, bilderlos“ mit Malerei aus dem Zyklus „Die Farbe Ägyptens“, ein Fest der Hitze, in Ocker und gebrannten Erdtönen, dagegen „Palimpsest I“ mit der Bläue von Schnee und Eis. (Heute las ich in der Zeitung, dass die Schotten mehr Wörter für Schnee haben als die Inuit: 421!) Farblos bleibt dagegen die Arbeit „Fieberwahn“, eine Schwarz-Weiß-Collage, die Aktenschnipsel der Securitate zur Person Hehns anordnet. Ich hege den Verdacht, hier soll die Armut, die Phantasielosigkeit, die Drögheit des Überwachungsapparates vorgeführt werden. Dennoch funktioniert die Collage nicht, wie auch die Wortcollage mit dem Titel „Das Eigenleben der Wörter“. Vielleicht liegt es am Fehlen der Zwischentöne, jener Grauwerte, die ich schon Horst Samson ans Herz gelegt, die er vehement abgelehnt hat und die in Hehns farbigen Arbeiten diese feinen Nuancierungen ausmachen.

Die Gedichte sind in drei Abschnitte aufgeteilt. Mit „Die Heimat, die Zunge“ als erster Teil wird Bezug auf Elias Canetti und dessen autobiographischer Arbeit „Die gerettete Zunge: Geschichte einer Jugend“ genommen. Und auch auf die 2013 von Samson herausgegebenen Anthologie „Heimat – gerettete Zunge“. Hehns Gedicht „Temeswar. Ein Befund“, im Band gleich an zweiter Stelle, gehört zu den Stärksten dieser Veröffentlichung. Ein vorangestelltes Epigraph zitiert T. S. Eliot mit einem Ausschnitt aus „The Waste Land“, dann beginnt das nach erfolgter Untersuchung festgestellte Ergebnis:

eine Oper ist Zentrum im
Verkehr der Gesten
die Bäume haben anscheinend aufgegeben
zu fragen wie Fuß fassen in diesen Zeiten
zwischen Einkaufswagen hat man jetzt
Palmen gepflanzt
im Supermarkt addiert die Kassiererin
das Verlangen nach Posten nach Arbeit
ihr geht alles so leicht von der Hand
unterdessen greifst du nach Klopapier

Der Abschnitt „Zieh Leine, Poesie“ wird geprägt durch die Erlebnisse einer Ägypten-Reise, die aus touristischen Attraktionen, terroristischer Bedrohung und gesellschaftlicher Umwälzung am Tahrir-Platz in Kairo ihre Anspannung speist.

während ich notiere wo ich bin
1. Februar 2010 zerfällt in Dinge die
Stunde sandig rauen Flugsand
Aufleuchten inmitten
von Staub

Im letzten Abschnitt „Kleine Fernen“ sind weitere Reisebilder verarbeitet. Doch so schön die Szenen aus Florenz sind, die die Stadtlandschaft der Renaissance als Gegenstand eines Vergangenheit und Gegenwart reflektierenden Beobachters belegen, mich zieht es zur Naturlandschaft, nach Norden, wo die Ausdrücke karg werden und, gerade in dieser Reduktion, wunderschön, wortgewandt.

Der Tag ist knapp geworden
wo immer sich Sprache niederlegt
verschwinden Wörter unter
papiernem Weiß

Über allen Gedichten schwebt die Frage der Heimat. Kann ich in der Ferne auch heimisch werden? Reicht es, wenn ich meine Zunge im Gepäck habe? Oder lässt mich die Landschaft der Kindheit nie mehr los? Solcherlei Geplänkel mag altmodisch erscheinen oder nach Tagesaktualität klingen: nach Flüchtlingen, nach Sprachkursen. Ich denke an Canetti, der mit Brachialgewalt Deutsch lernen musste und ich denke ans Banat, vor kurzem eine mir literarisch wie geographisch unbekannte Region, die meine Muttersprache Deutsch in der Fremde bewahrte. Wo also ist Heimat verortet?

Abschließend möchte ich ein Thema zur Diskussion stellen, das mich beim Lesen der Gedichte beschäftigt hat.

Also so könnte es sein:
Eine Explosion, ein Schuss, ein
Comic ohne Fortsetzung und Fußnoten.

Nehme ich diese letzte Zeile des Gedichts „Fahrt nach Abu Simbel“ für bare Münze, so muss sich die Autorin doch ratlos fühlen angesichts der eigenen Worte. Ich höre den Wunsch heraus, Eindeutigkeiten zu liefern, die eben nicht der Erläuterung bedürfen. Warum ist dann aber in diesen Gedichtband ein Fußnotenapparat eingefügt, der der DIN 5008 entspricht? Wovon ich spreche? Diese Norm hält die Schreib- und Gestaltungsregeln für Textverarbeitung fest. Ihre Anwendung findet sie im Büro- und Verwaltungsbereich. Sie legt fest, dass Fußnoten als Konsultationszeichen (oder auch Anmerkungsziffern genannt) im Lauftext darzustellen sind, durch hochgestellte arabische, fortlaufend nummerierte Zahlen. Am Ende der Seite, getrennt durch mindestens eine Leerzeile zum Text folgt der Fußnotenstrich, danach in Konsultationsgröße, einem kleineren Schriftgrad, die Erläuterungen.

Unabhängig von der Sinnhaftigkeit dieser Erläuterungen, stellt sich mir die Frage nach der Lesbarkeit der Texte. Meine Selbstbeobachtung war: ich werde aus dem Lesefluss geworfen, die poetischen Abfolgen werden brachial unterbrochen. Das ging bis zu einem Unwillen, über diese Hürden zu springen und weiterzulesen. Der Titel eines Gedichtes ist wie folgt dargestellt:

SAQQARA14 / Grabstätte des Kagemni15

Natürlich lese ich die Fußnoten mit, bin doch auch nur ein braver Bürger! Aber wo bleibt die Poesie? Sie stellt sich in diesem Moment nicht ein. Sollten wir uns unterwerfen unter das Diktat einer Verwaltungsvorschrift? Wo bleibt unsere Freiheit? Wollen wir Staatsdienst und Staatsschutz einen Triumph gönnen? Hatte die Securitate einen Fußnotenapparat?

Das sind hoch fliegende, auch ketzerische Gedanken, ja! Kleiner, pragmatischer gesprochen: manchmal tut eine Erläuterung gut, aber es ist sicher nicht schlechter, wenn auf hochgestellte Zahlen verzichtet wird. Das hat übrigens auch Erich Fried in seinem 1974 veröffentlichen Gedichtband „Höre, Israel!“, der vom Autor als „Gedichte und Fußnoten“ verstanden werden wollte. Trotz aller Wichtigkeit des politischen Kontextes bei Fried und anderen: „Gedichte und Überschreibungen“ sind mir sympathischer, ohne Fußnoten.