Raoul Schrott: „Die Kunst an nichts zu glauben“

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Wo fromm ein eitel Spiel mit dem Schein

Ich gebe zu, für den kurzen Moment einer Lesung (Stadtkirche Darmstadt, 02.10.2015) habe ich an das Vorhandensein einer historischen Schrift in der Biblioteca Classense geglaubt, die Raoul Schrott als seine Entdeckung ausgibt: das „Manual der transitorischen Existenz“. Wäre ich auf der Höhe der Zeit und des deutschsprachigen Feuilletons gewesen, wäre mir der Trug bereits bekannt geworden. Denn Ende September hatte Hannelore Schlaffer in der Neuen Zürcher Zeitung geschrieben, dieses Manual stamme aus der gleichen Feder wie die Gedichte, entspringe Schrotts Kreation. Das Manual ist demnach ein Fake.

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Moya Cannon: „Keats Lives“ und „Hands“

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Moya Cannon, 1956 im County Donegal, Irland geboren, lebt in Dublin und hat bislang fünf Gedichtbände veröffentlicht. Oar (Salmon Publishing, Knockeven 1990, überarbeitete Fassung: The Gallery Press, Loughcrew 2000), The Parchment Boat (The Gallery Press, Loughcrew 1997), Carrying the Songs (Carcanet, Manchester 2007, beinhaltet eine Auswahl aus „Oar“ und „The Parchment Boat“), Hands (Carcanet, Manchester 2011) und, gerade erschienen, Keats Lives (Carcanet, Manchester 2015).

Ich bin überzeugt, mit dieser Lyrik eine große europäische Stimme zu hören. Was zeichnet diese Lyrik aus?

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Katja Petrowskaja: „Vielleicht Esther“

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„Statt rechtzeitig Fragen zu stellen, hatte ich mich am Wort Geschichte verschluckt.“

Katja Petrowskaja macht die Suche nach ihren Familienangehörigen zu einem Vornamen; all die gedachten Möglichkeiten, die die Fakten dort ersetzen müssen, wo die Leere, das Schweigen, der Verlust übermächtig ist, all die Zweifel, all die Verzweiflung an diesem Labyrinth „Familie“ : Vielleicht ist der erste Vorname, Esther der zweite Vorname ihrer Urgroßmutter.

Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau.
Wie, vielleicht?, fragte ich empört, du weißt nicht, wie deine Großmutter hieß?
Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt, erwiderte mein Vater, ich sagte Babuschka, und meine Eltern sagten Mutter.

Vielleicht Esther ist in Kiew geblieben. Sie bewegte sich in der plötzlich leer gewordenen Wohnung mit Mühe, das Essen brachten die Nachbarn. Wir dachten, fügte mein Vater hinzu, wir kämen bald zurück, aber wir sind erst nach sieben Jahren zurückgekommen.


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Ramsingh Urveti: „I Saw a Peacock with a Fiery Tail“

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Was passiert, wenn man ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes Gedicht anonymer Herkunft, das auf zweierlei Weise gelesen werden kann, zusammenbringt mit einem Künstler aus Zentralindien, 1970 geboren und einem Buchdesigner aus São Paulo stammend, heute in New York lebend?

Es entsteht prämierte Buchkunst vom Feinsten.

Das Gedicht I Saw a Peacock with a Fiery Tail ist fester Bestandteil von Anthologien zur Kinderpoesie in England, weist in seinen Lesarten des Verrückten, Absurden und des Geordneten, Normalen aber weit über Kinderreime hinaus.

Is the difference between fantasy and reality largely grammatical? Or are these inventions the very essence of poetry […]?

Wie Ramsingh Urveti und Jonathan Yamakami dieses Gedicht für Tara Books graphisch umsetzen und als Buch gestalten, ist sehr schön. Und diese Schönheit wirkt seit 2011, inzwischen in der 3. Auflage.

Einen Einblick gibt ein Video auf Youtube. Doch, Vorsicht! Dieses Buch in eigenen Händen zu halten, ist unvergleichlich. Und man muss gar nicht auf Buchmessen sein (wie gerade aktuell in Frankfurt) oder nach Chennai reisen, wo Tara Books zuhause ist, um Bücher aus dem Verlagsprogramm zu bekommen: Runge Verlagsauslieferung (Kontaktperson: Jutta Hartmann) in Steinhagen hilft gerne weiter.

Robert Seethaler: „Der Trafikant“

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Weil ich Trafikant bin
Robert Seethaler schreibt „eine kleine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt“

Am Ende liegt eine „merkwürdige Stille über der Stadt“, die kurz darauf durch ein Vibrieren der Luft zerschnitten wird. Anezka beginnt, um ihr Leben zu laufen. Vielleicht tropft ihr noch einmal ein „Burschi“ aus dem Mund und vielleicht würde Franz, lebte er noch, ein letztes Mal antworten: „Nenn mich nicht Burschi! Mein Name ist Franz Huchel.“ Es ist der 12. März 1945, die Alliierten schicken sich an, ihre Bomben über Wien abzuwerfen.

Romane, deren Spannungsbögen außerhalb der erzählten Geschichte liegen, können von hinten nach vorne besprochen werden. Sie laufen keine Gefahr, vom Kritiker die Pointe zerredet zu bekommen. Robert Seethalers 2012 veröffentlichter Roman „Der Trafikant“ gehört in diese Kategorie. Wir lesen die Geschichte des Franz Huchel vom Anfang und im Grunde wissen wir anhand der geschichtlichen Fakten vom Ende. Alles fügt sich selbstverständlich und leicht, unabhängig von der Schwergewichtigkeit der Handlung, die in den Jahren 1937 und 1938 angelegt ist.

Am 7. Juni 1938 wird Franz von der Gestapo abgeholt und im Hotel Metropol einer Behandlung unterzogen, die er nicht überleben wird. Zuvor hatte er mit dem Finger auf Wien gezeigt, als er die Hose seines bereits ermordeten Lehrmeisters Otto Trsnjek an einem Fahnenmast hisste, wo zuvor eine Hakenkreuzfahne aufgezogen war.

Jeder hat sich mit jedem gestritten, und alle haben alle angeschrien, und vor lauter Aufregung hat man ziemlich lang nicht daran gedacht, die Hose von da oben herunterzuholen. Als dann aber endlich doch einer auf die Idee gekommen ist, an der Leine zu ziehen, ist etwas wirklich Bemerkenswertes passiert. Genau in diesem Moment ist nämlich ein Wind aufgekommen. […] Das war keine normale Hose. Es war praktisch nur eine halbe. Eine einbeinige Hose war das. Das andere Hosenbein war ungefähr auf Kniehöhe abgeschnürt. […] Und für einen kurzen Augenblick hat dieses braune, zerknitterte und schon ein bisserl ausgebeulte Hosenbein dort oben am Himmel ausgesehen wie ein Zeigefinger. Wie ein riesiger Zeigefinger, der den Leuten den Weg weist. Wohin der genau gezeigt haben soll, bleibt natürlich allerhöchstens Spekulation. In jedem Fall aber, wenn Sie mich fragen, weit, weit weg.

Am 4. Juni 1938 verlässt Professor Dr. Sigmund Freud mit seiner Familie Wien. Die Reichsfluchtsteuer hat einen Großteil des Vermögens aufgezehrt. Franz kommt noch an den Bahnsteig, kann aber wegen des Gedränges auf dem Bahnsteig nur aus der Ferne beobachten, wie Tochter Anna, Freud in den Waggon schiebt.

Am 3. Juni 1938, bei ihrem letzten Gespräch, hatte Franz zu Freud gesagt:

„Und Sie kommen ja zurück. In jedem Fall und ganz bestimmt kommen Sie zurück. Weil Heimat ist Heimat, und Zuhause ist Zuhause. Und irgendwann wird sich der Hitler wieder beruhigt haben. Und alle anderen auch. Und alles wird wieder so sein wie früher. Oder was meinen Sie, Herr Professor?“

Anezka, dieses böhmische Mädchen, das Franz‘ Hormonhaushalt so durcheinander bringt, ist jetzt mit einem SS-Offizier zusammen.

„ Ach so ist das“, sagte Franz nach einer Weile. Anezka blinzelte träge.
„ Ja, so ist das“, antwortete sie.

Am 16. Mai 1938 werden Franz die persönlichen Gegenstände von Otto zugestellt. Es ist die Mitteilung „vom Ableben des Ihnen bekannten Trafikanten Herrn Otto Trsnjek“.

In vielen kleinen Schritten ließe sich die Handlung rückverfolgen, etwa der Tag, an dem Franz beginnt, seine Träume zu notieren und auf das Schaufenster der Trafik zu kleben, Ottos Verhaftung, Franz‘ Sex mit Anezka, die Schmierereien an der Trafik („Judenfreund“), Franz‘ Gespräche mit Freud über das weibliche Geschlecht, die Postkarten, die Franz seiner Mutter schickt, die ersten Lehrtage in der Trafik, diesem kleinen Laden, wo sich Zeitschriften, Zeitungen und Rauchwaren stapeln, wie Otto seinen Lehrling lehrt, Zeitungen zu lesen und sich ruhig zu verhalten, Franz‘ Ankunft in Wien. Alles Schritte hin zur Exposition:

An einem Sonntag im Spätsommer des Jahres 1937 zog ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über das Salzkammergut, das dem bislang eher ereignislos vor sich hin tröpfelnden Leben Franz Huchels eine ebenso jähe wie folgenschwere Wendung geben sollte.

Es sind schon viele lobende Worte über Buch und Autor aus den Trichtern maßgeblicher Feuilletonredaktionen in die Welt gegangen. Da macht es wenig Sinn, drei Jahre nach Erscheinen des Buches hinterherzukommen wie „die alt Fasnacht“, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Lieber nutze ich den mir gebotenen Raum, einem Tagtraum zu folgen und eine literarische Analogie aufzuzeigen.

Am Gleis II des Wiener Westbahnhofs saßen vierhundertzweiundfünfzig politische Gefangene zusammengedrängt in den hinteren Waggons eines Sonderzugs und warteten auf die Abfahrt nach Dachau. Am gegenüberliegenden Bahnsteig saßen eine alte Frau und ein kleiner Bub nebeneinander auf einer Bank und bissen abwechselnd von einem großen Butterbrot ab. […] Als das Pfeifsignal zur Abfahrt losschrillte und der Zug sich in Bewegung setzte, hüpfte der Bub von der Bank und lief winkend und lachend den Bahnsteig entlang. In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames: Alle Gefangenen an den Fenster winkten zurück.

Warum werde ich das Bild des Trafikanten Otto nicht los, der Einbeinige, der sich mit seinen Krücken durch die Welt bewegt? Ich sehe dieses Kind und ich sehe tagträumend Otto in diesem Deportationszug. Und ich sehe das Winken des Kindes. Das erinnert mich an einen Text, der mich damals im Deutschunterricht der sechsten Klasse sehr gerührt hatte. Eben habe ich nachgeschaut und bin erstaunt: „Die Nacht im Hotel“ von Siegfried Lenz ist aus dem Jahr 1949. Nie hatte ich mit diesem Text Wunden aus einem gerade zu Ende gegangenen Krieg in Verbindung gebracht. Vielmehr die eigene Verletzlichkeit aus meinen Kindertagen der Siebziger Jahre. Wie auch immer: die Melodie, die Seethaler in dieser Szene anspielt, findet sich bei Lenz in der Begegnung des winkenden Kindes am beschrankten Bahnübergang und dem Zurückwinken des Versehrten mit dem an einer Krücke festgebundenen Taschentuch wieder. In einem kurzen Moment treffen sich bei Lenz und bei Seethaler Ungleiche, für einen kurzen Moment erkennen sie sich in ihrer Menschlichkeit. Das ist großartig.

Ilse Hehn: „Tage Ost – West“

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Ohne Fortsetzung und Fußnoten
Gedichte und Überschreibungen von Ilse Hehn über die Heimat Banat und andere Zungen

In Wort und Bild präsentiert der Pop Verlag die 1943 geborene Schriftstellerin und Bildenden Künstlerin in ihrer neuesten Veröffentlichung. Die eingefügten bildnerischen Arbeiten gehen dabei über die oft gesehene ausschmückende Funktion bei Lyrikpublikationen hinaus. Auch wenn der kreative Prozess – entsteht zuerst der Text, wird dann daraus die Collage mit Textfragmenten oder inspirieren die Farben, die Materialität der Collage und einzelne Textsplitter zur Ausarbeitung eines Gedichts? – nicht erlebbar ist, so wird schon beim ersten Anschauen der bildnerischen Arbeiten klar: Ilse Hehn versteht das Wechselspiel zwischen Literatur und Kunst. 18 Arbeiten, Fotografien oder Fotocollagen mit Überschreibungen und Übermalungen, auch Materialmontagen aus Buchseiten und Baumrinden, bringen uns die Künstlerin nahe. Bedauerlicherweise fehlen Angaben zur Größe der Kunstwerke und zum Entstehungsjahr. Es ist reizvoll, das Titelbild neben eine Arbeit von Shirin Neshat mit dem Titel „I am It’s Secret (aus der Serie: „The Women of Allah Series“) von 1993 zu legen. Zwei andere Arbeiten sagen mir besonders zu. Sie unterscheiden sich durch ihre Farbtemperatur stark: „Wüste, bilderlos“ mit Malerei aus dem Zyklus „Die Farbe Ägyptens“, ein Fest der Hitze, in Ocker und gebrannten Erdtönen, dagegen „Palimpsest I“ mit der Bläue von Schnee und Eis. (Heute las ich in der Zeitung, dass die Schotten mehr Wörter für Schnee haben als die Inuit: 421!) Farblos bleibt dagegen die Arbeit „Fieberwahn“, eine Schwarz-Weiß-Collage, die Aktenschnipsel der Securitate zur Person Hehns anordnet. Ich hege den Verdacht, hier soll die Armut, die Phantasielosigkeit, die Drögheit des Überwachungsapparates vorgeführt werden. Dennoch funktioniert die Collage nicht, wie auch die Wortcollage mit dem Titel „Das Eigenleben der Wörter“. Vielleicht liegt es am Fehlen der Zwischentöne, jener Grauwerte, die ich schon Horst Samson ans Herz gelegt, die er vehement abgelehnt hat und die in Hehns farbigen Arbeiten diese feinen Nuancierungen ausmachen.

Die Gedichte sind in drei Abschnitte aufgeteilt. Mit „Die Heimat, die Zunge“ als erster Teil wird Bezug auf Elias Canetti und dessen autobiographischer Arbeit „Die gerettete Zunge: Geschichte einer Jugend“ genommen. Und auch auf die 2013 von Samson herausgegebenen Anthologie „Heimat – gerettete Zunge“. Hehns Gedicht „Temeswar. Ein Befund“, im Band gleich an zweiter Stelle, gehört zu den Stärksten dieser Veröffentlichung. Ein vorangestelltes Epigraph zitiert T. S. Eliot mit einem Ausschnitt aus „The Waste Land“, dann beginnt das nach erfolgter Untersuchung festgestellte Ergebnis:

eine Oper ist Zentrum im
Verkehr der Gesten
die Bäume haben anscheinend aufgegeben
zu fragen wie Fuß fassen in diesen Zeiten
zwischen Einkaufswagen hat man jetzt
Palmen gepflanzt
im Supermarkt addiert die Kassiererin
das Verlangen nach Posten nach Arbeit
ihr geht alles so leicht von der Hand
unterdessen greifst du nach Klopapier

Der Abschnitt „Zieh Leine, Poesie“ wird geprägt durch die Erlebnisse einer Ägypten-Reise, die aus touristischen Attraktionen, terroristischer Bedrohung und gesellschaftlicher Umwälzung am Tahrir-Platz in Kairo ihre Anspannung speist.

während ich notiere wo ich bin
1. Februar 2010 zerfällt in Dinge die
Stunde sandig rauen Flugsand
Aufleuchten inmitten
von Staub

Im letzten Abschnitt „Kleine Fernen“ sind weitere Reisebilder verarbeitet. Doch so schön die Szenen aus Florenz sind, die die Stadtlandschaft der Renaissance als Gegenstand eines Vergangenheit und Gegenwart reflektierenden Beobachters belegen, mich zieht es zur Naturlandschaft, nach Norden, wo die Ausdrücke karg werden und, gerade in dieser Reduktion, wunderschön, wortgewandt.

Der Tag ist knapp geworden
wo immer sich Sprache niederlegt
verschwinden Wörter unter
papiernem Weiß

Über allen Gedichten schwebt die Frage der Heimat. Kann ich in der Ferne auch heimisch werden? Reicht es, wenn ich meine Zunge im Gepäck habe? Oder lässt mich die Landschaft der Kindheit nie mehr los? Solcherlei Geplänkel mag altmodisch erscheinen oder nach Tagesaktualität klingen: nach Flüchtlingen, nach Sprachkursen. Ich denke an Canetti, der mit Brachialgewalt Deutsch lernen musste und ich denke ans Banat, vor kurzem eine mir literarisch wie geographisch unbekannte Region, die meine Muttersprache Deutsch in der Fremde bewahrte. Wo also ist Heimat verortet?

Abschließend möchte ich ein Thema zur Diskussion stellen, das mich beim Lesen der Gedichte beschäftigt hat.

Also so könnte es sein:
Eine Explosion, ein Schuss, ein
Comic ohne Fortsetzung und Fußnoten.

Nehme ich diese letzte Zeile des Gedichts „Fahrt nach Abu Simbel“ für bare Münze, so muss sich die Autorin doch ratlos fühlen angesichts der eigenen Worte. Ich höre den Wunsch heraus, Eindeutigkeiten zu liefern, die eben nicht der Erläuterung bedürfen. Warum ist dann aber in diesen Gedichtband ein Fußnotenapparat eingefügt, der der DIN 5008 entspricht? Wovon ich spreche? Diese Norm hält die Schreib- und Gestaltungsregeln für Textverarbeitung fest. Ihre Anwendung findet sie im Büro- und Verwaltungsbereich. Sie legt fest, dass Fußnoten als Konsultationszeichen (oder auch Anmerkungsziffern genannt) im Lauftext darzustellen sind, durch hochgestellte arabische, fortlaufend nummerierte Zahlen. Am Ende der Seite, getrennt durch mindestens eine Leerzeile zum Text folgt der Fußnotenstrich, danach in Konsultationsgröße, einem kleineren Schriftgrad, die Erläuterungen.

Unabhängig von der Sinnhaftigkeit dieser Erläuterungen, stellt sich mir die Frage nach der Lesbarkeit der Texte. Meine Selbstbeobachtung war: ich werde aus dem Lesefluss geworfen, die poetischen Abfolgen werden brachial unterbrochen. Das ging bis zu einem Unwillen, über diese Hürden zu springen und weiterzulesen. Der Titel eines Gedichtes ist wie folgt dargestellt:

SAQQARA14 / Grabstätte des Kagemni15

Natürlich lese ich die Fußnoten mit, bin doch auch nur ein braver Bürger! Aber wo bleibt die Poesie? Sie stellt sich in diesem Moment nicht ein. Sollten wir uns unterwerfen unter das Diktat einer Verwaltungsvorschrift? Wo bleibt unsere Freiheit? Wollen wir Staatsdienst und Staatsschutz einen Triumph gönnen? Hatte die Securitate einen Fußnotenapparat?

Das sind hoch fliegende, auch ketzerische Gedanken, ja! Kleiner, pragmatischer gesprochen: manchmal tut eine Erläuterung gut, aber es ist sicher nicht schlechter, wenn auf hochgestellte Zahlen verzichtet wird. Das hat übrigens auch Erich Fried in seinem 1974 veröffentlichen Gedichtband „Höre, Israel!“, der vom Autor als „Gedichte und Fußnoten“ verstanden werden wollte. Trotz aller Wichtigkeit des politischen Kontextes bei Fried und anderen: „Gedichte und Überschreibungen“ sind mir sympathischer, ohne Fußnoten.

 

Maria Knissel: „Spring!“

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Das System Margot

Die Verletzung ist aufgebrochen. Nicht der Bänderriss, nicht der Muskelfaserriss, nicht die ungezählten blauen Flecken auf fast allen Knochen meines Körpers, die zum Glück von Brüchen verschont geblieben sind, nicht die „Heidelbeeren“ genannten Blutblasen an den Händen, nicht die eingerissene Haut an den Fingerkuppen, die sich schon seit weit mehr als einem Vierteljahrhundert nicht mehr durch die engen Fingerlöcher der Röllchenriemchen schieben müssen. Die Verletzung ist die tief greifende Erniedrigung, die sich im Körper eines Kindes versteckt hat, das von der Teilnahme an Olympischen Spielen träumte, nur weil jemand von Talent gesprochen hatte; und dann war ich in die Falle der Durchhalteparolen getappt. Ohne Fleiß kein. Du kannst jetzt nicht abbrechen! Du musst den Satz zu Ende führen. Nein, muss ich nicht! Ich höre auf, wann ich will.

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Jan Koneffke: „Vor der Premiere“

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Borg, Cotta und Strauch

Ich beschäftige mich gerne mit dem Frühwerk von Prosaautoren, insbesondere mit ihren Erstlingen. Meist mit zeitlich großem Abend, wenn die Autoren schon große, ganz große Namen haben und hoffentlich von ihrem Schreiben leben können.

Dieser Tage fand ich im Spendenregal einer Kirchengemeinde die Erzählung „Vor der Premiere“ von Jan Koneffke aus dem Jahr 1988. Koneffke, 1960 in Darmstadt geboren, kenne ich als fachkundiger Juror beim Leonce-und-Lena-Preis. Eigentlich unverzeihlich, den Autoren Koneffke nicht zu kennen. Jetzt konnte ich das nachholen.

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Zsuzsanna Gahse: „JAN, JANKA, SARA und ich“

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Büren TG
Ein urbanes Puzzle aus sichtbaren und unsichtbaren Teilen

Zsuzsanna Gahse hat ihrer Leserschaft mit dem im August erschienenen Buch ein Puzzle geschenkt. Ich mag dieses Geduldsspiel; die Ecken sind schnell heraussortiert, die Randteile ohne Probleme zusammengefügt, doch dann wird es schwieriger. Am Ende liegt ein Bild vor mir, das vortäuscht, einen Gesamtblick auf die Landschaft zu gewähren. Doch ohne die unsichtbaren Teile, die im Verborgenen darauf warten, sich den Personen zu öffnen, die sich nicht mit dem ersten Eindruck zufrieden geben, bleibt das Spiel unvollständig.

Die Eckteile
Die Personen setze ich in die Ecken. Jan, Janka, Sara und die „ich“ genannte Stimme bilden meinen Ausgangspunkt. Hinzu kommen weitere zwanzig Personen, die in unterschiedlicher Länge und Häufigkeit Auskunft geben über das, was sie bewegt. Sie geben ihre freimütigen Meinungen in einem Tonstudio in Büren zu Protokoll, das sich, sozusagen als freiheitlich-demokratische Instanz, verpflichtet, diese Audio-Sammlung der Einheimischen und ihrer Besucher vor einer Verwertung dauerhaft zu schützen. Das Ich lebt unten im Tal (Talstimme) und wirft einen anderen Blick auf Büren, diese rasant wachsende Stadt auf dem Wellenberg.

Wir züchten hier Häuser, in erster Linie Rassehäuser. Jeder soll zwei Wohnungen oder Häuser haben, wegen des guten Tons, weil zur Sittsamkeit zwei Domizile gehören, mindestens, damit niemand auf einen einzigen Ort beharrt und dort kleben bleibt. (Schwarm · Jan)

Mir macht es nichts aus, wie Büren wächst und wächst. Nachmittags, wenn ich mit dem Auto von Konstanz nach Hause fahre, sehe ich die Ortssilhouette, den wachsenden Umriss, und der gefällt mir. Ich glaube nicht, dass es viele Leute gibt, die das Zubauen der Hügel und der übrigen Landschaften gut finden, genau genommen ist das Zupflastern ein Horror, ein herrlicher Untergang der Erde. (Bang · Janka)

Nachher erzähle ich die Geschichte meinem Vater, der mit vierundachtzig gestorben ist. Wir werden miteinander ein großes Zahlenspiel beginnen, ein Alterszahlenspiel. Zum Beispiel acht mal acht. Vierundsechzig bedeutete früher ein gewisses Alter. Vierundsechzig mal acht kommt als Alter nicht in Frage. (Schach · Sara)

Sie haben ihre Meinung, ich die meine, und außer meiner Meinung gibt es deine Deinung, und die Unserung. Gemeinsam steigen sie den Hang hinauf, unterwegs begegnen sie der Ihrung, Deinung hustet und hat einen roten Kopf. (Taltext)

Die Randteile
Die Landschaft setzt die Ränder. Ich erkenne ein breites Tal in der Ostschweiz, wir sind im Kanton Thurgau (TG). Selbst mit Adleraugen und Google Earth gelingt es nicht, Büren auf dem Wellenberg zu verorten. Die Stadt als sozial unverträgliche Utopie, eine Fiktion, die ohne den Samen der Gegenwart, diesem Lebenslabor zwischen Vergangenheit und Zukunft, nicht aufgehen kann.

Aus der Vogelperspektive ist das Thurtal eine übersichtliche Landschaft, eine ehemalige Seegegend, wie ich seit Kurzem weiß. Bis in die Nacheiszeit hinein lag im Tal ein Gletschersee, immerhin so groß wie der heutige Zürichsee, nördlich und südlich von zwei langgestreckten Höhenzügen begrenzt, dem Seerücken und dem Wellenberg, von zwei Rivalen, wie ich oft meine, wobei die Gegnerschaft nur eine Sache der Perspektive ist. Am Wellenberg gibt es, wie schon erwähnt, einige Standorte, von denen aus der Blick unmittelbar zum Seerücken führt, von Berg zu Berg, als hätte man eine einzige Berglandschaft vor sich. Das Tal bleibt dabei ausgespart, es liegt in einer Falte, versunken in einer Falte, und von einer Gegnerschaft der Berge kann dann keine Rede sein. (Taltext)

Die sichtbaren Teile
Nach und nach bringe ich die Teile in ihre Position, sie greifen ineinander. Es gibt Teile, deren Inhalt ich schneller erkenne, für andere brauche ich länger, lege sie wieder weg, um im zweiten Anlauf erfolgreich zu sein. Es ist ein zufälliges Spiel und die Vollendung des Landschaftsabbildes ist dabei eine unvorstellbar hohe Anzahl von Möglichkeiten. Da passiert es, dass ich im Prozess den Sinn des Einzelteils nicht erkenne und mich das Gefühl der Beliebigkeit erschleicht. Warum halte ich gerade jetzt dieses Teil in der Hand? Wozu ist es gut? Sicher hat die Autorin die vierundzwanzig Stimmen nicht zufällig gesetzt, sondern wohl bedacht, einer inneren Logik folgend. Ein Buch muss einem Spannungsbogen, wie immer er ausgeprägt sein mag, folgen, um nicht Gefahr zu laufen, weggelegt zu werden. Diese Notwendigkeit widerspricht jedoch dem Wesen des Puzzles. (Selbst meine Vorgehensweise, erst alle Teile auf die bedruckte Seite zu drehen, Eckteile, Randteile zu suchen und zu fügen, dann mit dem Kern zu beginnen, ist sehr fraglich. Mein Sohn beweist mir gerne, dass es auch anders geht.) Das Puzzle lebt die Anarchie, bevor es sich der Ordnung fügt. Wenn wir Erwachsenen das Puzzle beendet haben, seien wir ehrlich, verlieren wir sofort das Interesse am Spiel. Kinder können das Puzzle erneut fügen, dabei des Spieles wegen voller Freude andere Wege nutzen, um ein neues Bild zu erschaffen. Doch Kinder sind im urbanen Konzept von Büren (TG) nicht mehr vorgesehen.

In Büren wurden seit zwei Jahren keine Kinder mehr geboren, allerdings gebe es neu Hinzugezogene mit Kindern, stand in dem Blatt, dem natürlich niemand trauen muss. Bei solchen Mitteilungen fällt einem unwillkürlich ein, wie abfällig die Leute hier über Frauen oder Paare mit Kindern reden. (Wahl · Janka)

Das ist bedrohlicher als die Panzer, die Gahse am Ende aufrollen lässt. Ja, der Krieg rückt näher in die Mitte Europas, Überwachung, Entrechtung und Enteignung. Wenn jedoch keine Kinder mehr da sind, die die Bilder neu zusammensetzen, wird unsere Gesellschaftsordnung totalitär und tot.

Die unsichtbaren Teile
Ein Name, ein Buchtitel schwebt über der Lektüre: Italo Calvino und sein 1972 erschienenes Buch „Die unsichtbaren Städte“, über das Wikipedia die Auskunft erteilt: „Kein Roman, sondern ein singuläres, sich gegen alle Gattungsbezeichnungen sperrende Stück Literatur […], verdichtet sich mehr und mehr zu einem beklemmenden Panorama einer von Zerfall und Untergang bedrohten Welt.“ Das Recycling dieser Worte für Gahses Buch sei erlaubt.

Ein weiteres unsichtbares Teilchen sehe ich in Werner Dürrsons „Das Kattenhorner Schweigen“, ein schmaler Gedichtband, der 1985 mit dem Bodensee-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Da blickt jemand von der anderen Seeseite auf den Seerücken und erahnt vielleicht noch im Hintergrund den Wellenberg. Freilich: Büren, wie es Gahse aufleben lässt, gab es in den Achtziger Jahren noch nicht. Aber das Verschwinden einer Kulturlandschaft zugunsten einer Parzellierung von Grundstücken, diese Einigelungswut, die ihren Ausdruck in Immobilienwirtschaft, sozialer Kälte und Gedächtnisverlust findet, ist bereits bei Dürrson präsent.

Freundlicherweise gibt die Autorin mit einer Danksagung an Richard Sennett und Georges Perec wesentliche Hinweise, wo ihre unsichtbaren Teile zu finden sind. Richard Sennett, 1943 geborener US-Soziologe, Sohn kommunistischer Eltern, „seine Hauptthemen sind die Vereinzelung, Orientierungslosigkeit und Ohnmacht moderner Individuen, die Oberflächlichkeit und Instabilität zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Ausübung von Herrschaft“ (Wikipedia). Georges Perec (1936 – 1982), sein Hauptwerk „La Vie mode d’emploi“ (deutsch: „Das Leben Gebrauchsanweisung“) ist formal und inhaltlich ein Puzzle. Ich komme nicht umhin, die „Werkstatt für Potentielle Literatur“ (franz. „L‘ Ouvroir de Littérature Potentielle“, OuLiPo) zu erwähnen, ohne dessen Programmatik das Werk Perecs nicht entstanden und verstanden wäre. Darüber ließe sich noch viel Notwendiges sagen, lesenswert ist Gundel Mattenklotts Abhandlung „Über einige Spiele in Georges Perecs Roman ‚Das Leben Gebrauchsanweisung’“. Ich will es bei meiner kleinen Freude belassen, dass auch Calvino Oulipien war, genauer gesagt: ist. Verstorbene bleiben Mitglied und gelten als entschuldigt. Ein interessanter Umgang mit Lebenszeit, Verklärung, Vergangenheit, Stillstand und Fortschritt.

Die Gegenwart kommt nicht einmal zufällig vor, und entsprechend sind die alten Fotos, die sie sammeln, eine Ölhaut gegen die Gegenwart. (Flachs · Jan)

 

 

Antje Herden: „Letzten Donnerstag habe ich die Welt gerettet“

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Die Welt zu retten, ist eine ziemlich aufregende Angelegenheit.

Kurt, Sandro und die Prinzessin beobachten merkwürdige Veränderungen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, müssen sie in die Unterwelt absteigen, im Dunkel(deutsch)land von Kanalisation und Bunkeranlagen. Dort treffen sie auf Kröten, Ratten und Molche, die viel größer als normal sind und den Kindern bedrohlich nahekommen.

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Rudolf Gramich: „Das Wayang-Spiel“

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Indonesien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2015

Rudolf Gramichs Roman „Das Wayang-Spiel“ erschien 1999 im Horlemann-Verlag. Damals war der Verlagssitz in Bad Honnef, heute ist er unter Leitung von Anja Schwarz in Angermünde. Der Verlag hat in seiner Asienreihe einen Schwerpunkt Indonesien, der zur Buchmesse mit fünf neuen Titeln herausgestellt wird.

Rudolf Gramich (1931 – 2010) lebte achtzehn Jahre in Indonesien und hat in „Das Wayang-Spiel“ die indonesische Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne beschrieben. Vieles bleibt den Lesern, die sich noch nicht mit Geschichte und Kultur Indonesiens beschäftigt haben, fremd, unbekannt. Dennoch oder aber gerade deswegen lohnt es sich, dieses Buch zu lesen, das das nächtliche Spiel des Puppenspielers (Dalang) zum Anlass nimmt, die Menschen zwischen unterschiedlichen religiösen Traditionen (hinduistische, christlich, muslimische), Befreiungskampf, Militärdiktatur und dem Kahlfraß eines aufkommenden Turbokapitalismus zu zeigen.

Und so profund Gramichs Kenntnisse über die javanische Kultur, die ihren Ausdruck im Schattenspiel der Lederfiguren (Wayang kulit) und der Gamelan-Musik, die Gramich erlernt hatte, findet, hört man die tiefe Sehnsucht heraus, selbstbestimmt und fern der Götzen des Marktes zu leben.

„Leben, einmal leben ohne Gott und ohne Götter. Einfach so leben.“

Gramich jedoch zeigt die Götter bereits als alte Männer, die mit der Gegenwart nicht mehr zurecht kommen. Sie finden die alten Wege nicht mehr, stoßen auf Hochhäuser, in deren oberen Geschosse kleine, mächtige Männer das Land für ihre Zwecke aufteilen.  Hier wird die Lebensgrundlage einer Gesellschaft zerstört, die einst auf dem Prinzip gegenseitiger Nachbarschaftshilfe (Gotong-Royong) aufbaute.

Gunnar Decker: „1965. Der kurze Sommer der DDR“

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Wir malen alle den gleichen Vogel aus
Gunnar Decker vermisst den Möglichkeitsraum der
intellektuellen Elite der DDR vor dem 11. Plenum des
Zentralkomitees (ZK) der SED im Dezember 1965

Jochen Schanotta, siebenjährig, lernt fürs Leben. Der Lehrer sagt
ihm noch: „und daß du nicht über den Rand malst!“ Ich Idiot hab’s so
gemacht, und am Ende hatte ich den gleichen Vogel wie alle. Gunnar
Decker arbeitet als Redakteur der (ehemals ostdeutschen)
Theaterzeitschrift „Theater der Zeit“, Georg Seidels Stück „Jochen
Schanotta“ findet sich im (ehemals westdeutschen) Pendant
„Theater Heute“ (4/87). Andreas Döhler als Schanotta am
Deutschen Theater (2011/2012) bringt den Widerspruch zwischen
Autonomie und Indoktrination der Jugend mit dieser
Eingangsszene auf den Punkt. Nach der Uraufführung des
Stückes in der DDR 1985 am Berliner Ensemble wird eine
Kampagne gegen Seidel, dessen Figur nicht dem sozialistischen
Leitbild entspricht, losgetreten.

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