Hermann Schulz: „Mandela & Nelson“

Hermann Schulz: Mandela & Nelson

Das Buch war eine Empfehlung der Buchhändlerin, einer rar gewordenen Spezies, die nicht nur Bücher verkauft, sondern auch den Inhalt in eigenen Worten wiedergeben kann. Bei dem Titel dachte ich sofort, dass die Handlung in Südafrika spielt, aber schnell begriff ich diesen Irrtum. Die Menschen von Bagamoyo stehen im Mittelpunkt dieses Buches.

Bagamoyo, nördlich der tansanischen Hafenstadt Dar-es-Salaam gelegen, war einmal, so lange ist das noch gar nicht her, die Hauptstadt von Deutsch-Ostafrika. Und der Ort, an dem die aus dem Landesinnern verschleppten Einheimischen als Sklaven verschifft wurden. Deutsche Kolonialpolitik, in Bagamoyo sind die Schatten dieser unheilvollen Zeit immer noch zu spüren. Gemeinsam mit meiner Frau habe ich 1998 diesen Ort auf unserer dreiwöchigen Tansania-Reise besucht. Die Reise dorthin war eine der aufregendsten meines Lebens, aber das ist eine andere Geschichte …

Ja, wie das Cover schon vermuten lässt, geht es in diesem Buch um Fußball. Aber es geht doch um so viel mehr. Der Autor lässt seinen Erzähler Nelson, Zwillingbruder von Mandela, unbekümmert über die harten Seiten des afrikanischen Alltags berichten, spart das dunkle Kapitel der Sklavenzeit nicht aus und blickt dennoch optimistisch auf jeden neuen Tag.

Als eine Jugendmannschaft aus Deutschland sich für ein Freundschaftsspiel ankündigt, muss Nelson plötzlich sehr viel organisieren, und das heißt: improvisieren. Die Gäste sollen einen guten Eindruck vom afrikanischen Fußball bekommen. Das wird, mit viel Lebensfreude und Witz, gelingen.

Gelu Vlaşin: „In der Psychiatrie behandelt“

Gelu Vlasin: In der Psychiatrie behandelt

Es gilt, das Werk eines 33-jährigen Dichters zu lesen, der heute kurz vor seinem 50. Geburtstag steht. Der 1999 in Rumänien erschienene Lyrikband hat, so lese ich in einer Rezension von Anke Pfeifer, den deprimism in seinem Land begründet. 2012 stellte Traian Pop dieses Buch dem deutschsprachigen Publikum zur Verfügung, Kerstin Ahlers übertrug die Gedichte ins Deutsche.

Was mag diese Lücke von 13 Jahren ausfüllen? Ich meine damit, in welchem Kontext steht dieses Erstlingswerk eines Lyrikers, der ein inzwischen beachtliches Œuvre vorzuweisen hat?

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Simon Schwartz: „Packeis“

Simon Schwartz: Packeis

Im Frühjahr 1945, die Zeitungen melden den Tod Hitlers, blickt ein alter Mann in seinen Spind, holt Eimer und Wischmopp heraus und beginnt, den Boden des naturgeschichtlichen Museums zu wischen. Hier beginnt der Rückblick auf die spannende Biografie des Afroamerikaners Matthew Henson, der als erster Mensch 1909 den Nordpol erreichte, in die Sagenwelt der Inuit einging und in der amerikanischen Gesellschaft wegen seiner Hautfarbe keine Anerkennung für seine wissenschaftlichen Leistungen erhielt. In der Graphic Novel „Packeis“ zeichnet Simon Schwartz den Lebensweg Hensons frei nach, ergänzt um eine ausführliche Zeittafel und zahlreiche Fotografien im Anhang.

Irgendwann habe ich mich als Kind vom Comic abgewandt, unzählige zerfledderte Fix&Foxi, Donald Duck, etwas Superman, Asterix. Ach, lange ist das her! Graphic Novel ist für mich etwas Neues, das ich jetzt entdeckte, als meine Kinder nach Comics gefragt hatten und ich losging, um zu sehen, was es heute so gibt: Packeis, ein tolles Buch.

Armin Steigenberger: „die fortsetzung des glücks mit anderen mitteln“

Armin Steigenberger: die fortsetzung des glücks mit anderen mitteln

Ich fand nicht gleich den Schlüssel, der mir ermöglichte, in die poetischen Raumabfolgen Armin Steigenbergers, eines befreundeten Lyrikers aus München, einzutreten. Vielleicht hatte ich zunächst einen Widerwillen, einen fremden Schlüsselbund durchzuprobieren, bis sich der Buntbart ins Schloss fügte.

In „scharf stellen:“ schreibt Armin einen Satz, der mir sehr missfiel, aber die Tür öffnete: das gedächtnis ist längst / gelöscht. Wenn ich diesen Satz als Prämisse für seine Gedichte lese und mich darauf einlasse, gibt Armins Sprache einen weitreichenden Einblick in einen Zeitabschnitt, der, von der Moderne über Post-Moderne und Post-Post-Moderne kommend, Copy&Paste-Moderne genannt werden muss. Das ist die Ära, in der wir heute leben und in unserem Handeln permanent überwacht werden.

Wir alle sind im koma dieser lichterlohen stadt, werden mit Werbephrasen und Lügen abgespeist, die uns animieren sollen, noch mehr von uns preiszugeben, uns zu verkaufen, uns zu Objekten zu machen, die beliebig hin- und hergeschoben werden können: wir sprechen navideutsch, wir pixeln uns im lateralen schaum, wir beten für unser plastik / verschmortes glück.

Die Sprache hat das Gedächtnis zersetzt. Das Gehirn ist nicht mehr fähig, eine Historie aufzuzeichnen und Signale des Widerstandes auszusenden.

Was zunächst als Bestandaufnahme des Totalitären kühl und distanziert erscheint, wird unerwartet weich gebrochen, etwa, wenn das lyrische Ich doch noch vage Rückblicke halten kann. früher wurde das, was wirklich gut war / in zeitungspapier gewickelt / also die liebe und das herbe / seewasser der auster.

Da spricht eine Stimme, die sich dem Totalitarismus von FacebookGoogle&Co ausliefert, ohne die Hoffnung gratis abzuliefern.

David Safier: „28 Tage lang“

David Safier: "28 Tage lang"

Wann werden meine Kinder dieses Buch lesen? Gibt es ein richtiges Alter für diese Geschichte, die uns in einem spannenden (Jugend-)Roman die Vernichtung des Warschauer Ghettos näher bringt, den Kampf ums nackte Überleben, den jüdischen Widerstand, der 28 Tage lang dem absoluten Zerstörungswillen der SS im Warschauer Ghettoaufstand trotzt?

Safier zeigt exemplarisch an seiner Hauptfigur Mira wichtigen Facetten des Ghettolebens und Ghettosterbens im Jahr 1942 und 1943 auf. Und stellt dabei uns durch den Mund Miras Fragen, etwa, wie wir als Mensch leben wollen, zu welcher Sorte Mensch wir gehören wollen.

Eine einfache Zuordnung wäre: Ich gehöre zur Sorte Nachfahre der Täter. Safier ist in dieser reduzierten Logik Nachfahre der Opfer. Die Schnittmenge wäre: Wir sind deutsche Schriftsteller, die die Erinnerung an Krieg und Vernichtung bewahren müssen.

In diesem Sinn habe ich meine kurze Prosa „Das blonde Schaf“ geschrieben, das an verschiedenen Orten und Zeiten spielt, ihren Kern jedoch im Warschau zwischen Kriegsbeginn und der ersten Aktion im Juli 1942 hat, als mit dem Versprechen, Brot und Marmelade auszuteilen, Juden zum Umschlagplatz gelockt wurden. Martha, meine Protagonistin wird in Treblinka sterben, Safiers Mira entkommt dem Ghetto durch die Kanalisation, so wie es Marek Edelman und wenigen Kämpfern im Mai 1943 gelungen ist.

Danilo Kiš: Sanduhr

Danilo KIš - Sanduhr

Ich gebe zu, seit mehr als 25 Jahren lebe ich in Darmstadt und habe doch in dieser Zeit die Entscheidungen der Darmstädter Jury Buch des Monats nicht oder eher am Rande mitbekommen.

Das Buch des Monats Februar ist von Mark Thompson, einem britischen Historiker. „Geburtsurkunde. Die Geschichte des Danilo KIš“ ist die Biografie eines „halb vergessenen Mitteleuropäers von weltliterarischen Rang“, wie es Jurymitglied Wilfried F. Schoeller treffend sagt.

Die sehr erfreuliche Juryentscheidung ist ein guter Anlass, zum Bücherregal zu gehen und abermals eines meiner wichtigsten Bücher in die Hand zu nehmen.

„Sanduhr“, so habe ich das Buch gelesen, kurz nach dem Tod meines Vaters vor 20 Jahren, ist der Versuch, sich der Vaterfigur literarisch anzunähern. Das geschieht auf einem europäischen und multikulturellen Boden, der von den Nazis überrannt und dessen jüdische Existenz vernichtet wurde. Kiš‘ Vater starb in Auschwitz.

Zu der deutschen Erstausgabe von 1988 wagt Thomas Rothschild von der Frankfurter Rundschau die Prognose: „Mit großer Verspätung werden Kritik und Publikum einen der wichtigsten europäischen Schriftsteller entdecken.“ Solche Verspätungen wären E.S., der literarischen Vaterfigur, als Inspektor der (serbokratischen? jugoslawischen? ungarischen?) Eisenbahnen unerträglich gewesen.

Möge die Juryentscheidung dazu beitragen, dass Danilo Kiš, der im Oktober 1989 starb, endlich bei uns ankommt, an Tagen, die über die Existenz von Menschen in europäischen Kriegsgebieten entscheiden können.

Rolf Lappert: „Auf den Inseln des letzten Lichts“

Rolf Lappert: Auf den Inseln des letzten Lichts

Im Oktober 2010 stellte der 1958 in Zürich geborene Rolf Lappert seinen Roman „Auf den Inseln des letzten Lichts“ in der Stadtkirche Darmstadt vor. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich schon bei einer Lesung das Buch kaufen und es gar signieren lassen. (Wenn mein Buch solche Leserinnen und Leser hat, dann wird es wohl nichts mit der ersten Million.) Aber die Geschichte der Geschwister Megan und Tobey fand ich sehr spannend und nahm mir vor, das Buch später zu kaufen und zu lesen.

Dieser Tage schloss die jokers-Filiale in Darmstadt und im Ausverkauf fand ich eine Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg. Preis: 2,50 Euro. Rechnet man das auf die Seitenanzahl (541) um, kostete mich dieses Buch pro Seite weniger als 5 Cent. Natürlich rechnet man die Honorare für Schriftsteller anders und natürlich kennt jeder, der einen Verlagsvertrag abschließt, die Wörter Remittenden und Verramschung. Hässliche Wörter, weil der Wert eines Buches und damit der Wert der Arbeit eines Schreibenden eben nicht mit dem Marktwert abgedeckt werden kann.

Noch bin ich nicht ganz durch die Geschichte durch. Ich frage mich, was hinter diesen so unterschiedlichen Geschwistern steckt. Megan, die ältere, die es als Tierschützerin auf eine philippinische Insel verschlägt, Tobey, der jüngere, der sein Glück als Musiker in Dublin nicht findet, sich auf die Suche nach seiner Schwester macht und doch nur noch ihr Grab findet. Trotz aller Unterschiede sind beide verbunden über die Erinnerungen an eine nicht gerade problemlose Kindheit. Irland, ihre Heimat lässt sie nicht los. Auch wenn die Philippinen sehr weit entfernt sind, so groß ist keine Welt.

Horst Samson: „Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin“

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Wir lesen zu wenig Lyrik, wir alle, uns Lyrikerinnen und Lyriker eingeschlossen. Das ist nicht neu und wird gerne als Grund dafür genannt, dass Lyrik nicht mehr öffentlich diskutiert wird. Die Katze, die sich in den Schwanz beißt: Keine Besprechungen im Feuilleton, kein Publikumszuspruch, keine Besprechungen im Feuilleton, etc.

Dabei sollte über die Leselust gesprochen werden, die es bereiten kann, den Tag ausklingen zu lassen mit den Gedichten einer fremden Person, die einem im Laufe des Abends nähertritt, sich durch ihre Worte vorstellt und dann später, vielleicht erst gegen Mitternacht, vertraut sein wird. Ich spreche also nicht davon, mal ein, zwei Gedichte anzuschauen, sondern einen Gedichtband konzentiert zu lesen.

Diese Woche habe ich Horst Samsons 2014 im Pop Verlag erschienenen Band „Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin“ gelesen und bin mit dem Autor auf eine Zeitreise gegangen von der Verbannung seiner Eltern in die Baragan-Steppe, seiner Geburt 1954, vom stalinistischen Rumänien, dem Exil bis in die Gegenwart.

Meine Jahre, verlorene
Gedichte, Wörter holen mich

(aus: „Bei den Sonnenblumen“)

Manchmal reichen zwei Verse, um die Welt und die Bestimmung des lyrischen Ich darin zu fixieren. Das ist die wunderbare Kraft der Lyrik, die uns Samson zur Verfügung stellt. Machen wir etwas daraus, trotz alledem!

Peter Härtling: „Zwettl“

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In einer Zeit, in der die Bücher immer schneller aus den Buchläden verschwinden, so sie es bis dorthin geschafft haben, gleicht es einem Wunder, einem Buch aus den Achtzigern auf der Straße zu begegnen.

Letzten Herbst waren die Quitten schnell reif geworden. Ich hatte noch keinen Gelee gemacht, da gab es auf dem Markt schon keine Früchte mehr. Eine Freundin aus der Frankfurter Straße gab mir einen Tipp. Der Nachbar um die Ecke bietet noch welche zum Verkauf, sagte sie. Auf dem Bürgersteig dieses Nachbarn stand eine Kiste mit alten Büchern, aus der ich Härtlings „Zwettl“ herausnahm. Der Titel sagte mir nichts, aber der Untertitel „Nachprüfung einer Erinnerung“ weckte mein Interesse. So ging ich mit Quitten und Buch bestückt zurück in die Frankfurter Straße.

„Zwettl“ geht auf die Suche nach Indizien, die Erinnerungen an Kindheit und Krieg, an die Eltern belegen. Härtling möchte herausfinden, was genau wann und warum geschehen ist, ob seine Erinnerungen exakt sind. Für diesen Abgleich fährt er 1971 nach Zwettl, nordwestlich von Wien, befragt Verwandte und offizielle Stellen.

Was Härtling findet, findet sich im Widerspruch zu anderslautenden Aussagen. „Es sei, berichtigt Tante K. mit Erbitterung, alles falsch. So habe es sich nicht zugetragen.“

„Zwettl“ belegt nicht eine Wahrheit, sondern dokumentiert ihre aus verschiedenen Perspektiven, Verzerrungen und Erinnerungslücken hervorgehenden Widersprüche durch „Löschung eines Kapitels“, „Exkurse“ und „Korrekturen“. Und es ist mit 126 Seiten ein schmales, aber großes Buch einer Vater-Sohn-Suche.

Luis Sepúlveda: „Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte“

Luis Sepúlveda: Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte

Ein Fund beim Kinderbuchflohmarkt in der Schule. Intuitiv wusste ich, das ist ein Juwel, das fälschlicherweise unter die Masse eselohriger Leselernbücher geraten war. Ich habe das Buch sofort in die Hand genommen und nicht mehr hergegeben. Es stammt in der 11. Auflage aus dem Jahr 2007. Trotz des für ein Buch inzwischen hohen Alters hat es seinen Schwung nicht verloren. Es wirkt frisch und unverbraucht, so wie die ersten Flügelschläge der Möwe Afortunada. Obwohl meine Kinder meine Vorlesestimme längst nicht mehr brauchen, sie lesen viel und schnell, haben sie ihre Augen geschont und dieser Geschichte von Katzen, Möwen und einem Dichter gerne zugehört. Ein großes Vergnügen, mit tollen Illustrationen von Sabine Wilharm.

Alexander Zinn: „Das Glück kam immer zu mir“

Alexander Zinn: Das Glück kam immer zu mir

Es hat viele Jahre gedauert, bis ich im April zum ersten Mal in der Gedenkstätte Buchenwald war. „Jedem das Seine“, erst neulich sagte das meine türkischstämmige Friseurin zu mir und meinte damit die Freiheit jedes Einzelnen, das zu tun, was er will. Und ich schwieg, was ich selten tue, wenn ich Victor Klemperers „LTI“ zu Ohren bekomme, was häufig geschieht.

Das 2011 im Campus-Verlag erschienene Buch über Rudolf Bradza habe ich mir an diesem kalten, nebligen Morgen im Buchshop der Gedenkstätte mitgenommen. Innerhalb weniger Tage las ich dieses gut recherchierte und gut geschriebene Buch. Danke, Alexander Zinn.