Artur Becker: „Drang nach Osten“

Tändelei und Allusion

Artur Becker, polnisch-deutscher Schriftsteller, ist identisch mit Artur Bekier, einem Siebzehnjährigen, der 1985 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste. In Beckers neuem Roman Drang nach Osten spielt die Figur Arthur Bekier die Hauptrolle.

Gleich nach seiner Ankunft in der BRD änderte er seinen Vornamen – er übermalte ihn, indem er ihm das deutsche H hinzufügte. Als Spätaussiedler
durfte man sich in dem Durchgangslager Friedland neu erfinden, obwohl
Arthur sich weder deutsch noch ostpreußisch fühlte […]

Dabei verschiebt das in den Vornamen eingefügte kleine h die Symmetrieachse. Das gibt dem Autor die Freiheit, keine Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, inwieweit jegliche Details des Romans seinem Leben und dem seiner Vorfahren entsprechen, inwieweit die Absicht der Figur Arthur, ein Buch über die Generationen vor ihm zu schreiben, sich mit der Intention des Autors deckt.

Trotzdem ist diese Verschiebung bedauerlich, denn die genannte Achse verliefe sonst durch das kleine t, das zumindest in meiner Handschrift an ein Kreuz gemahnt und uns zum Kern des Romans führt: jener Szene, in der ein Stalinist sein Opfer an Seilen befestigen und in die Luft heben lässt, es kreuzigt.

Die Männer befestigten die Seile an den etwa auf Augenhöhe angebrachten
Wandhaken, dann banden sie mit ihnen seine beiden Hände fest und zogen an den Seilen, bis seine Arme auf beiden Seiten waagerecht ausgestreckt waren und Ryszard wie ein Kreuz dastand.

[Eine Variante findet beispielsweise in Eritrea immer noch Anwendung. Die Foltermethode trägt den eingängigen Namen Jesus Christ: „As the name suggests, the victim is crucified by being tied with a rope to a tree or a cross and then left to hang, and sometimes beaten while hung.“ Quelle: Human Rights Watch. Eritrea. Service for Life. State Repression and Indefinite Conscription in Eritrea, 2009]

Links dieser Achse das Ar, das für den deutschen (arischen?) Teil von Bekiers Vorfahren stehen könnte, rechts das ur, das die polnische Seite repräsentiert, und in der Abkürzung ur. für urodzony, urodzona dem deutschen Wort geboren (beispielsweise am 07.05.1968) entspricht.

Wird solcherlei Spielerei dem Roman gerecht?

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Khalaf Ali Alkhalaf: „Tagebücher eines Krieges“

Über Leben

0 | Scham schläft, Krieg nicht

Scham lässt uns Menschen schrumpfen. Ganz klein werden wir, wollen uns im Nichts auflösen, können es nicht, verhalten uns ganz ruhig, verstecken uns vor uns selbst. Damit wir unsere hässliche Fratze nicht sehen müssen, schließen wir die Augen und … schlafen ein. Der Tod, der während des Kriegs seine Hochzeit mit verstümmelten Leichen immer wieder aufs Neue feiert, braucht keinen Schlaf. Er braucht den Blutrausch, der sich gleichermaßen der Schamlosigkeit und der Scham bedient. Wenn wir schlafen, hat der Tod ein leichteres Spiel.

Seit 2011 habe ich viel geschlafen.

Strategien, der Scham zu entfliehen, gibt es zahlreiche. Es ist unnütz, sie in Stellung zu bringen, denn ich bin mir des Versagens bewusst. Ein Impuls will mir diktieren: „Es ist nicht allein dein Versagen, die Politik …“ Strategien des Schutzes der eigenen Person sind mächtige Instrumente.

In Syrien haben mächtige Personen Instrumente genutzt, die Menschen vollkommen schutzlos zu machen: Scharfschützen, Fassbomben, Raketen, Giftgas, Hunger, Folter.

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Zwei georgische Lyrikerinnen: Bela Chekurishvili und Irma Shiolashvili

 

Bela Chekurishvili und Irma Shiolashvili wurden 1974 in Georgien geboren, studierten und arbeiteten in Tbilissi. Zur Zeit leben beide in Bonn und waren im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 2018 mit dem Ehrengast Georgia – made by Characters auf gemeinsamer Lesereise.

Ein Anlass, ihre jeweils neuesten Lyrikbände nebeneinander zu legen, nach gemeinsamen Wurzeln zu suchen und nach dem Maß der Entfremdung in der neuen Heimat Ausschau zu halten.

Bela Chekurishvili: „Barfuß“

Übersetzung: Lika Kevlishvili (interlinear) und Norbert Hummelt
90 Seiten, Erscheinungsjahr: 2018
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg

Irma Shiolashvili: „Kopfüber“

Nachdichtung: Sabine Schiffner
92 Seiten, bilingual: georgisch – deutsch, Erscheinungsjahr: 2018
Pop Verlag, Ludwigsburg

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Julia Alvarez: „Die Zeit der Schmetterlinge“

Wer war Juan Bosch?

Anschließend stattete der Präsident uns einen Besuch ab. Er saß in Papás altem Schaukelstuhl, trank eine geeiste limonada und erzählte mir seine Geschichte. Er sagte, er werde eine Menge ändern: Die alten Generäle werde er abservieren, weil an ihren Händen das Bluts der Mirabal-Schwestern klebe; all die Ländereien, die sie sich angeeignet hätten, werde er unter den Armen verteilen lassen; und er wolle dafür sorgen, daß wir auf unser Land stolz sein können und es nicht von imperialistischen yanquis beherrscht werde.

Im Roman Die Zeit der Schmetterlinge aus dem Jahr 1994 der 1950 in der Dominikanischen Republik geborenen Schriftstellerin Julia Alvarez (Übersetzung aus dem Amerikanischen Englisch: Carina von Enzensberg und Hartmut Zahn) kommt Juan Bosch am Ende als Nebenfigur vor.

Bosch steht für den Bruch der über dreißig Jahre andauernden Trujillo-Diktatur, steht für die Hoffnung der Menschen auf bessere Zeiten. Wer Boschs Biografie nachliest, wird lesen, wie diese Hoffnungen innerhalb von Monaten zunichte gemacht wurden, wie die yanquis mit ihrem Geheimdienst und lokalen Eliten tiefgreifenden soziale Änderungen verhinderten, mit ihrer von Antikommunismus gelenkten Sichtweise das Elend der Menschen verlängerten und die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur verhinderten.

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Lesung zu „Mensch, Du hast Recht(e)!“

Rassismus geht uns alle an
Eine Veranstaltungsreihe der Ev. Erwachsenenbildung des Ev. Dekanats Darmstadt-Stadt, Amnesty International Bezirk Darmstadt, Kath. Bildungszentrum nr30 und Volkshochschule Darmstadt

Mensch, du hast Recht(e)!
Das mobile Lernlabor der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt am Main

Ausstellungseröffnung mit Lesung
Mittwoch, 29. August 2018  um 19 Uhr
Das Offene Haus, Rheinstraße 31, 64283 Darmstadt

Enoh Meyomesse, Autor, Historiker, Blogger und politischer Aktivist aus Kamerun, lebt seit 2015 in Darmstadt. In seinem Heimatland wurde er verfolgt und saß im Gefängnis.

Er liest eigene Texte auf Französisch, Eric Giebel liest die deutsche Übersetzung, und Maria Knissel trägt Texte zum Thema Rassismus vor.

 

Clarisse Nicoïdski: „Die Augen Die Hände Der Mund & Wege der Wörter“

hue vida i si fizu boca | es war Leben und wurde Mund

Clarisse Nicoïdski (1938-1996) war eine französische Schriftstellerin, die ihre Romane und ihre kunstkritischen Schriften auf Französisch verfasste. Ihre Muttersprache war jedoch eine andere. Ihre Lyrik schrieb Nicoïdski auf Sephardisch, der Sprache der Juden, die nach 1492 aus Spanien ausgewiesen wurden (Alhambra-Edikt) und in die Diaspora gingen. Die Sprache, heute unter ISO 639-3-Code: lad geführt, hat verschiedene Bezeichnungen: Ladino, Djudezmo, Djidio, Djudeo Espanyol, Judenspanisch, Spaniolit, Espanyolico oder Hakitía.

Die Entscheidung Nicoïdskis, allein ihre Lyrik auf Sephardisch zu schreiben, versteht sie selbst als Totengebet, „als Kaddisch für ihre verstorbene Mutter und die verlorene Kindheitssprache.“ Nicoïdski schreibt im Vorwort zu der Herausgabe der Gedichte Lus ojus las manus la boca 1978:

Meine Mutter war eine Italienerin, aufgewachsen in Triest, ursprünglich aus Sarajevo. Mein Vater, der in Sarajevo aufwuchs, traf sie 1936 in Spanien (Barcelona), wo ihre Familie zu jener Zeit lebte. […] Viele Sprachen wurden Zuhause gesprochen: Italienisch, Serbokroatisch, einige Wörter auf Deutsch und ein wenig Französisch. […] Eine Sprache hatten meine Eltern, die beiden bekannt war: wir nannten sie „unser Spanisch“ und sie stammte von unseren Großeltern, die zu den „türkischen Osmanen“ gelangten, wie es hieß, seit der Inquisition Spaniens. Diese Sprache assimilierte viele Wörter der fremden Länder, die sie durchquerte.

Wir folgen in den Gedichten einer Rede gegen das Vergessen, einem Plädoyer für den Gebrauch einer Sprache, gegen die Versteinerung, gegen die Stummheit. Diese Rede ist angesichts der Tatsache, dass der in Sarajevo verbliebene Teil der Familie in der Shoah zu Tode kam, viel mehr als nur ein Kieselstein auf den Gräbern der Vorfahren.

und wie sollte ich
eure verlorenen Augen vergessen
(aus: Die Augen)

Das sind die beiden ersten Verse des Bandes, ein Auftakt, der mit geringen Worten alles sagt. So ist das poetische Verfahren der Autorin: Der Schrei, das Entsetzen über das Unsagbare findet Platz in Worten von größter Allgemeinheit, lässt jedoch Raum für die vielen Toten.

es war Leben
und wurde Mund
(aus: Der Mund)

was wirst du sagen?
in deinem Mund
können die Wörter Steine sein

und können Wörter sein

was wirst du sagen?
(aus: Wege der Wörter)

Die Gedichte Nicoïdskis sind von erdrückender Intimität, weil sie mit den Toten sprechen, gegen den Tod sprechen.

im inculgaré a tus bezus
com’un cantu
si me dexas
comu palavra di maldición
mi inculgaré
a tu hora
cuando si quedará
di spantu
in las callis di mi pasadu
ondi ti starás
caminandu

ich werde mich an deine Lippen hängen
wie ein Lied
wenn du mich verlässt
wie ein Wort des Fluches
werde ich mich
an deine Zeit hängen
wenn sie vor Entsetzen
anhalten wird
auf den Straßen meiner Vergangenheit
wo du stets
wandeln wirst
(aus: Wege der Wörter)

Das vollständige Manuskript von Caminus di Palavras ist verschollen. Juana und Tobias Burghardt haben Übersetzungen ins Spanische und Englisch gesichtet und drei für verloren gehaltene Texte Nicoïdskis zusätzlich zu den 19 Gedichten, die 1980/81 in der Zeitschrift poesía vorabgedruckt wurden, ins Deutsche übertragen.

Nicoïdski weckte in Juan Gelman den Wunsch, auf Sephardisch zu schreiben. Er verfasste Dibaxu | Debajo von 1983 bis 1985 und notiert:

Als hätte die äußerste Einsamkeit des Exils mich zu den Wurzeln in der Sprache gedrängt, die tiefsten und verbanntesten der Sprache. […] Hingegen weiß ich, dass mir die sephardische Syntax eine verlorene Reinheit und ihre Diminutive zurückgab, eine Zärtlichkeit anderer Zeiten, die lebendig ist und deshalb voller Trost.

 

 

Anette und Peter Horn (Hrsg.): 100 Poems from Bangladesh

The future breathes in my throat, in my grave

Die von Anette und Peter Horn herausgegebene englischsprachige Anthologie „100 Poems from Bangladesh“, erschienen 2017 in der Edition Delta (Stuttgart), stellt 25 Autoren vor, die alle im unterschiedlichen Alter die Geburtsstunde ihres Staates am 16. Dezember 1971 miterlebt haben. Nachdem Indien entscheidend in den Krieg und Genozid (West-)Pakistans gegen die bengalische Bevölkerung (Ost-)Pakistans eingegriffen hatte, wurde Ostpakistan Ende 1971 völkerrechtlich anerkannt und gab sich den Namen Bangladesch.

From 25 March to 16 December, 1971
There are 267 days in total
According to Pravda, the Pak Army killed
3 million Bengalis during the Liberation War
It was a war against unarmed people
By killers and rapists of the Pak Army
And they killed 3 million ÷ 267
= 11,236 people per day

(aus: Rabiul Husain „ Oh ! The War !“)

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Roxana Crisólogo: „Eisbrecher“

Taunetze sind Grenzen

Die Gedichte der peruanisch-finnischen Lyrikerin Roxana Crisólogo sind „Schlingpflanzen“, die „den unumkehrbaren Gang des Rauchs erdrosseln“. Sie bahnen sich ihren Weg, hinterlassen Stränge, die zu den Wurzeln führen, durchdringen Grenzen, ziehen sich und die sie umgebende Welt zusammen und lassen doch an anderer Stelle Nebenwege zu, die luftig sind, die Nischen entstehen lassen.

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Aleksander Nawrocki: „Mir träumte von meiner Kindheit“

In der Kurpie

Sie liegt in der nordpolnischen Tiefebene im nördlichen Masowien an der Grenze zur Woiwodschaft Ermland-Masuren. Einst als die grüne und die weiße Wildnis bezeichnete Waldgebiete auf sumpfigem Boden, einst gefürchtet von den Kreuzrittern, ist sie heute auf welligen Straßen Transitstrecke von der Hauptstadt zu der touristisch frequentierten masurischen Seenplatte und der ostpreußischen NS-Bunkerarchitektur. In dieser Region, die seit dem 10. Jahrhundert zu Polen gehört, wurde 1940 Aleksander Nawrocki in Bartniki nahe Przasnysz geboren. Als Autor und vor allem als Übersetzer ist er in Polen nicht unbekannt, ebenso wie in den Ländern, deren Literatur er ins Polnische übertragen hat: Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Finnland, Estland, Russland und weitere. Narockis Werk ist umfangreich. Seine Lyrik nun im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen, war das Anliegen des 1942 in Dresden geborenen Übersetzers Peter Gehrisch.

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Johann Lippet: „Kopfzeile, Fußzeile“

Mitgift Heimat

Sie ist ein Geschenk, das wir nicht verweigern und dem wir uns nicht entziehen können. Heimat wird uns mitgegeben, ob wir es wollen oder nicht. Wir können uns nach ihr sehnen oder vorgeben, unsere Wurzeln vergessen zu haben. Beides setzt voraus, dass wir irgendwann einmal, aus welchen Gründen auch immer, die Heimat verlassen haben. Gründe dafür gibt es zahlreicher als für das Festhalten an der Heimat.

Muss man die Geschichtsvergessenen an Gewalt, Terror, Krieg, Armut der vergangenen Jahrhunderte in Europa und weltweit erinnern, an die Migrationsfurchen, die die Politik im großen Kontext wie auf lokaler, regionaler Ebene verursacht hat? Im gesellschaftlichen Diskurs um Heimat geht es aktuell und schon sehr viel länger um Abgrenzung, Abschottung. Diese Haltung übersieht aus politischem Kalkül, dass Heimat und Migration Geschwister, keine sich hasserfüllt gegenüberstehenden Gegner sind.

Johann Lippet, 1951 in Wels (Österreich) geboren, kehrte 1956 ins Banat, in das Geburtsdorf seines Vaters zurück. Rumänien verließ er 1987. Seit 1998 lebt er in Sandhausen bei Heidelberg.

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Takis Würger: „Der Club“

Schnörkellos und direkt ist Takis Würgers Sprache in seinem literarischen Debüt „Der Club“, dem 2017 viel Aufmerksamkeit des deutschen und deutschsprachigen Feuilletons zuteil wurde. Ich schreibe selten über Bestseller. Und will mich kurz halten.

Es ist weniger die spannend aufbereitete Geschichte eines Verbrechens (bei dem es um schmutzige Männerphantasien und ausgelebte Allmacht geht, um sexuellen Missbrauch an jungen Studentinnen innerhalb einer elitären Gruppe in Cambridge, dem Club), als die Herkunft der Hauptfigur Hans, die mich in Bann gezogen hat. Wie der Tod in das Leben des Kindes kommt, diese Passage ist kompromisslos hart. Später, nachdem die Handlung sich zum Krimi entwickelt, in der Hans die Täter finden und überführen soll, später kommt der Tod erneut unerwartet: im Schlaf.

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