Nevfel Cumart: „Waves of Time – Wellen der Zeit“

Geborgte Heimat

Vor wenigen Tagen gelangte der zweisprachig deutsch-englische Lyrikband Waves of Time – Wellen der Zeit von Nevfel Cumart (* 1964) in meinen Besitz. Der Lyrikband erschien 1998, Eoin Bourke (1939–2017) übersetzte die Gedichte ins Englische.

So schließen sich Kreise. Mit Eoins Frau Eva habe ich an Übersetzungen der irischen Lyrikerin Moya Cannon ins Deutsche gearbeitet (der Band erschien 2017). Ich war zweimal zu Besuch in Berlin, wo ich Eoin begegnete und mit Eva intensiv an den Übersetzungen arbeitete. Berlin und Galway, zwei Heimaten eines Paares, das vom Deutschen ins Englische und vom Englischen ins Deutsche übersetzte, das sich der Sprachvermittlung, der Kulturarbeit verschrieb.

berlin II

wie kann diese riesige stadt
mit ihren gefräßigen häusern

wie können all diese kinder
in den tiefen straßenschluchten

wie können diese steinbrücken
die endlosen schienenstränge

wie können sie mein gott
mit nur einem bissen sonne leben.

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Wolfgang Allinger | Ute Kliewer: „Zeit zieht nicht. Erzähl mir von Darjeeling“

Lepcha lernen

Lepcha ist eine von ca. 7000 Sprachen, die momentan auf der Erde gesprochen werden. Noch, muss man sagen, denn ernst zu nehmende Schätzungen gehen davon aus, dass zum Ende dieses Jahrhunderts mehr als die Hälfte ausgestorben sein wird.

Auch Lepcha, das in Teilen Indiens (Sikkim, Darjeeling), Nepals und Bhutans gesprochen wird, ist eine gefährdete Sprache. In Gangtok befindet sich das Sikkim’s Endangered Language Documentation Project (SELDP) an der School of Languages and Literature, Sikkim University. Von dort kam mit der großzügigen Unterstützung von Nim Tshering Lepcha (Übersetzer), Pabitra Chettri (Technische Assistentin, SELDP) und Samar Sinha (Leiter, SELDP) ein Satz in Lepcha zu mir.

Er lautet: sonapre kursuksa miŋtʰjuŋ ɡum

Es ist eine Transkription, auf eine Fassung in Lepcha-Skript hoffe ich noch. Ich bin kein Linguist, also warum interessiert mich das?

Seit vier Jahren jage ich für ein Projekt der Künstlerin Vera Röhm mit Tausenden von Emailanfragen den entlegensten Sprachen unseres Planeten hinterher.

Dabei trete ich in Kontakt mit Professor*innen, die seit Jahrzehnten an einer Sprache forschen, aber auch Student*innen, die noch ganz am Anfang ihres Studiums sind und doch vielleicht bald die einzigen Expert*innen für die jeweilige Sprache sein werden.

Was motiviert Menschen, fremde, gefährdete Sprachen zu studieren?

Für Paul, eine der beiden deutschen Protagonisten der Reiseerzählung Zeit zieht nicht von Wolfgang Allinger und Ute Kliewer ist die Frage leicht zu beantworten.

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Dinçer Güçyeter: „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“

An: script@elifverlag.de
Betreff: Nachtfalter

Es ist Nacht. Und es ist Deutschland. Wer könnte darüber Klügeres sagen als König Rio I.?
Oh, es ist ein schönes Land …
… bei Nacht …

Und was ließe sich Sinnfälligeres über deine Existenz sagen als
Nachtfalter werden alle Vertreter der Schmetterlinge bezeichnet, die nicht zu den Tagfaltern gehören?
Punkt. Fertig. So einfach ist es nämlich.

Wenn du aber solcher Sprache, solchen Definitionen misstraust, dann bleibt dir nur, an deine Handschrift zu glauben. Du hast keine andere Wahl. Sie wird dir ein Vademecum sein, das nicht verschwindet, selbst wenn es im Ofen verbrannt wird.

… und nicht mal dann!

Du musst durch die Erinnerungen hindurchschreiten, das Fruchtwasser wie eine verbrauchte Flüssigkeit auskippen und dich deiner Hölle stellen, mein Prinz.

Aber was sage ich dir: Du hast es ja bereits getan. Deine Gedichte sind dir, sie sind wunderbar. Deine Gedichte sind du. Und das ist gut so.

Albert (= der das Alphabet eröffnet)

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Edem Awumey: „Die schmutzigen Füße“

Papaoutai

Es wäre vermessen zu erzählen, bei meiner Fahrt vor wenigen Tagen durch Paris (aus der Basse Normandie kommend) wäre auf der Boulevard périphérique ein Taxi vor mir, von links oder rechts ist unerheblich, eingeschert, während zeitgleich im Radio der französischsprachige Hit aus dem Jahr 2013 von Stromae lief.

Wahrscheinlich war es weiter Richtung Osten, Richtung Deutschland, Richtung Heimat, zwischen Reims und Metz. Ich hatte jedenfalls auf den Song gewartet. Irgendwann musste er ja in diesem Urlaub laufen, auch wenn er schon nicht mehr ganz aktuell ist.

Es ist der beste Song, der meine Vatersuche in französische Sprache kleidet. Er hat etwas Dringendes, das ich spüren konnte, ohne mir bislang des genauen Wortlautes oder der dahinterstehenden Biografie des belgischen Musikers Paul Van Haver | Stromae gewahr zu werden.

Einen Song zum Soundtrack eines Buches zu machen, ist wagemutig. Zumal diese Entscheidung innerhalb der ersten Kapitel fiel und das Buch erst einige Stunden danach, spät am Abend, gelesen, mit ebenso wohliger Zufriedenheit als auch reichlicher Irritation, zur Seite gelegt wurde.

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Dato Turaschwili: „Das andere Amsterdam“

Abschweifungen

Mit Das andere Amsterdam liegt der zuletzt erschienene Roman des georgischen Schriftstellers Dato (David) Turaschwili (* 1966) in deutscher Übersetzung von Katja Wolters vor.

Das Original სხვა ამსტერდამი (transkribiert: skhva amst’erdami) erschien 2014, dem Jahr des Todes von Amiran (Pako) Swimonischwili, von dem Turaschwili schreibt:

An dem Tag, als man in Tiflis Pako Svimonishvili beerdigte, ging ich in Amsterdam das Hotel suchen, in dem David Jaschwili (Jaschka) gestorben ist.

Ich kann der Spur Turaschwilis nicht folgen, seiner Suche, die letzten Endes eine Suche nach den Gründen seiner Reise in die Niederlande ist:

Warum ich überhaupt nach Amsterdam gekommen war, darüber dachte ich auch den ganzen Tag nach und erwog sogar, daß ich mir alles nur ausgedacht hätte: das Amsterdamer Abenteuer meines Großvaters, die auf der holländischen Insel lebende Georgierin, die mir E-Mails schreibt.

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Asmus Trautsch: „Caird“

1 – Im moralischen Eismeer

Der Band Caird, Gedichte von Asmus Trautsch, Illustrationen von Rebecca Michaelis, war bereits für Frühjahr 2016 angekündigt. Ging man beim Verlagshaus Berlin zunächst von einer Verschiebung um wenige Monate aus, hieß es später, der Band werde auf unbestimmte Zeit verschoben, möglicherweise erscheine er erst 2018.

Nun ist Caird erschienen und ich kann meine Zusage, diesen Band zu besprechen, einlösen. Doch eine Rezension für Fixpoetry wird es nicht sein, wie bekannt, hat Julietta Fix den Betrieb ihrer Plattform zu Beginn des Jahres 2021 eingestellt. Insofern bin ich an kein Wort mehr gebunden und habe die Freiheit, mich in unbezahlter Arbeit so ausführlich oder so kurz, wie ich möchte, zu diesem Band zu äußern.

Was unterscheidet Caird des Jahres 2016 von Caird des Jahres 2021? Das kann letztlich nur der Autor selbst wissen und die wenigen Leute, die das Skript in seiner Fassung von vor fünf Jahren kannten.

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John Glenday: „The Firth“

Meeresarm

Es mag an der Fließrichtung des Wassers liegen, denke ich, ob es sich an jenen Stellen, wo sich Süßwasser mit Salzwasser vermischt, um einen Meeresarm oder eine Flussmündung handelt.

Nutze ich Meeresarm eher, wenn die Flut ins Land greift, das Süßwasser Richtung Quelle drängt, und bin ich bereit, von Flussmündung zu sprechen, wenn die Ebbe Untiefen im Mündungsbereich offen legt, also die Arbeit des Flusses, seinen Sedimenttransport belegt?

Im Englischen wird für beide Begriffe das Wort estuary verwendet. In schottischen Wörterbücher findet sich:

FIRTH, n.1 Also firt (Ork.), furth. An arm of the sea, often constituted by the broad estuary of a river
[https://dsl.ac.uk/entry/snd/firth_n1]

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Jan Koneffke: „Die Tsantsa-Memoiren“

Tato (alias … ) als Chronist

In dem neuen Roman von Jan Koneffke (* 1960 in Darmstadt) überblickt ein personaler Erzähler die Zeit von ca. 1780 bis in die Jetztzeit. Wie das? Ist er unsterblich? Oder wird hier versucht, eine auktoriale Erzählweise (eine gottgemäße Perspektive) in eine Person hineinzumogeln?

Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten, denn sie berührt unmittelbar den Kern dessen, was dieser Roman thematisiert.

Koneffke schummelt nicht. Er stellt uns keine auktorialen Erzähler zur Verfügung, sondern einen personalen. Aber handelt es sich beim Erzähler um eine Person? Und wenn, wie kann sie über einen so langen Zeitabschnitt aus eigener Erfahrung, eigener Anschauen berichten?

Nicht alle werden den Titel des Romans auf Anhieb verstehen, denn das Wort Tsantsa kommt aus der kleinen JívaroSprachfamilie, die in Peru und Ecuador gesprochen wird, und bezeichnet Schrumpfköpfe (oder Englisch: shrunken heads). Koneffkes Erzähler ist also bereits gestorben,  ist ein nach den Regeln indigener Völker präpariertes Ding (?) aus menschlichen Überresten.

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Beate Laudenberg, José F. A. Oliver, Ulrike Wörner (Hg.): „kinderleicht & lesejung. Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur“

Blick für eine Zukunft

Die vorliegende Publikation, die die Vorlesungen der Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur des Hausacher LeseLenzes und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe von 2014 bis 2019 versammelt, ist eine Pflichtlektüre für alle, die sich über den Stand der Kinder- und Jugendliteratur im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) informieren und sich inspirieren lassen wollen.

Was zeichnet gute Kinder- und Jugendliteratur aus? Wie gelingt sie? Welche Beschränkungen herrschen für Autorinnen und Autoren? Wie erreichen sie ihr Publikum?

Die fünf Dozent*innen Thorsten Nesch, Franco Supino, Nils Mohl, Kathrin Schrocke und Julia Willmann werfen Fragen auf und geben individuelle Antworten, bezogen auf ihr Schreiben. Dabei formulieren sie teilweise erstmals eine Poetik, ihre Lehre von der Dichtkunst, eine Disziplin, die mir größten Respekt abnötigt.

Dass ein Text klüger als seine Urheberin, sein Verfasser ist, das ist ein alter Hut, eine gern zitiertes Bonmot. Ich habe es mir mal mit Worten von Adam Zagajewski in mein Notizbuch eingetragen:

Ich muss sagen, dass ich keinen dummen Lyriker spielen möchte, aber ich verstehe meine Gedichte nicht ganz. Das ist das Süße und das Wunderbare an der Lyrik: dass wir nicht ganz verstehen, was wir herstellen.
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Larry Tremblay: „Der feiste Christus“

Das Haus

Ich möchte widersprechen. Schon der erste Halbsatz des Klappentextes erscheint mir falsch, irrig. Der Protagonist, die zentrale Gestalt ist nicht Edgar, sondern das Haus.

Ein Blick auf die Kapitelüberschriften dieses an Umfang recht schmalen Romans des Kanadiers Larry Tremblay (Jahrgang 1954) weist in die gleiche Richtung: Es sind nicht die Menschen, die die Handlung bestimmen. Wie das? Hier stimmt etwas nicht. Oh, ja!

Das Ding – Das Tier – Die Badewanne – Das Telefon – Das kleine Tier – Das Kleid – Der Kaffee – Das Vaterunser – Der Krankenwagen  – Der Eiffelturm – Das Sonderangebot – Das Präservativ – Das Auge – Die Bibel – Der Film – Der Lagerraum – Der Bart – Das Heft – Der Friedhof – Die Kerze – Der Fleck – Die Pastete – Das zweite Heft – Die Müllsäcke – Das Foto – Der Kuchen – Der Pfeil – Die Inspektoren – Der Kühlschrank – Die Perücke – Der Gefreite – Das Kästchen – Die Hunde – Die Kette

Dies ist eine so stringente Kette, dass die Ausnahmen (Die Inspektoren und Der Gefreite) [Sonderstellung der Tiere, juristisch zwischen Ding und Mensch] mir fast als handwerkliche Mängel erscheinen. Hat hier einer sich nicht bewusst gemacht, was er tut? Agiert er impulsiv aus dem Unterbewusstsein heraus, ohne auf Fehler zu achten und sie zu korrigieren?

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Edem Awumey: „Nächtliche Erklärungen“

Rare Zwischenräume

Der 1975 in Lomé (Togo) geborene Schriftsteller Edem Awumey erhält durch den Übersetzer und Verleger Stefan Weidle seinen ersten Auftritt auf dem deutschen Buchmarkt. Der Autor lebt in der Nähe von Ottawa. Explication de la nuit (deutsch: Nächtliche Erklärungen) ist bereits sein vierter Roman und sollte den Auftritt Kanadas auf der Frankfurter Buchmesse 2020 bereichern. COVID-19 und eine abgelehnte Übersetzungsförderung durch das Canada Council for the Arts brachten die Pläne des Verlegers durcheinander. Nichtsdestotrotz, das Buch liegt vor und wird sich auch ohne die Unterstützung des Ehrengastes seinen Weg von Togo nach Kanada, von Kanada nach Deutschland und in die Welt bahnen, mächtig genug sind die Werkzeuge des Erzählers, roh, unmittelbar und doch auch zärtlich zugleich die Sprache, die er anwendet, um seine Geschichte zu erzählen.

Ito Baraka und seine Freunde Beno, Wali und Sika sind junge Studenten in Lomé, die von einer besseren Zukunft träumen und – da träumen unter dem vergreisenden Diktator nicht erlaubt ist: die Partei, die antiimperialistische Revolution, ER steht für die bessere Zukunft – ihre Zuflucht in der Literatur suchen. Samuel Becketts Werk gibt Stichworte vor.

Wir dachten noch über dieses Vierpersonenstück nach, als Wali in der Unibibliothek einen Beckett auslieh, den wir noch nicht gelesen hatten, Endspiel. Und da uns der Zufall manchmal in die Hände spielt, bestand das Personenverzeichnis aus drei Männern und einer Frau. Das waren wir, wir selbst steckten in derselben lähmenden Scheiße wie Becketts Geschöpfe […]

In der schwärzesten Scheiße saßen wir, weshalb das ganze Volk singen und tanzen mußte, wenn das Land einen hochrangigen Gast willkommen hieß, irgendwelche Mandatsträger, einen Monarchen oder Despoten in Uniform mit Schokoladenorden, das Volk im Ehrenspalier vom Flughafen bis zum Präsidentenpalast: Schüler, Beamte, Lehrer, Neugeborene auf dem Rücken ihrer jungen Mütter, die nichts von dem lustigen Spektakel verpassen wollten, Medizinmänner und sämtliche Stadtheilige, die wild gestikulierten und das Liedchen ewigen tropischen Glücks schmetterten […]

Die Freunde proben Endspiel am Strand, doch als einer krank wird, kommen sie auf die Idee, Sätze aus dem Stück als Flugblätter drucken zu lassen und in Lomé zu verteilen. Was als leichtfüßige, subversive Aktion beginnt, wird in den Unruhen der Jahre 1990/1991 zu einer tödlichen Gefahr. Menschen sterben im Kugelhagel oder verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Leichen werden vom Meer angeschwemmt. Awumey schont uns nicht, spart Folter und Mord nicht aus. Er lässt seine Figur Ito an einer Stelle sagen:

Ich muß nicht beschreiben, welch tierisches Geschrei sich erhob, das ohrenbetäubende Brüllen der Geschlagenen, deren Haut aufriß und deren Fleisch sich unter den Hieben in Fetzen ablöste.

Ito ist in Haft und den Häschern des Systems ausgeliefert. Die Freundschaft zu Koli Lem, dem Alten, der seiner Sehkraft beraubt wurde, lässt Ito die Zeit im Gefängnis überstehen. Er liest dem Blinden Bücher der Weltliteratur vor, sie reden darüber, der Alte nimmt den Jungen in die Pflicht, später über alles zu schreiben.

Als Ito aus der Haft kommt und mit Glück seiner Erschießung entrinnen kann, kehrt er zunächst nach Lomé zu seinen Eltern zurück, beginnt zu schreiben und nimmt ein Jahr später eine Einladung zu einem Stipendiumsaufenthalt in Kanada an.

Ito ist auf dem Weg zurück von Québec nach Hull in der Nähe von Ottawa. Er weiß, dass es keine Zeit mehr hat. Er wird sterben, die Leukämie frisst sich in seinen Körper, der ohnehin vom Alkohol geschwächt ist. Dennoch schreibt er, muss seine Geschichte fertigschreiben, muss Koli Lem gerecht werden, auch wenn er längst weiß, dass er sich nicht zum Flugmenschen, von denen Koli ihm berichtet hatte, eignet, sondern eine lichtscheuen Ratte geworden ist. Itos Freundin Kimi Blue ist drogensüchtig, zusammen suchen sie Momente des Glücks, die ihnen von ihren Geschichten zugestanden werden.

Kimi Blue stammte aus dem Indianerreservat von Kitigan Zibi Anishinabeg in der Nähe vom Maniwaki nördlich von Ottawa. Nach dem Tod ihres Vaters, der sich eines Tages am einzigen Baum im Hinterhof ihres Hauses erhängt hatte, mußte sie einige Jahre allein für ihre geisteskranke Mutter sorgen, die obendrein verfaulte Lungen hatte und als Folge eines Verkehrsunfalls und eines ausschweifenden Lebens an den Rollstuhl gefesselt war. Kimi arbeitete dort in einem Lebensmittelgeschäft und machte nach der Arbeit noch einen Abstecher zur Hütte eines Typen, der sie und ihre Mutter mit Zigaretten, Alkohol und Kokain versorgte.

Kimi will die Hoffnung nicht aufgeben, die Hoffnung von den Drogen wegzukommen, die Hoffnung, mit Ito eine Zukunft zu haben. Sie bestellt den Krankenwagen. Doch ihr Freund will nichts davon wissen.

Nein. Wir fahren nicht ins Krankenhaus. Wir gehen schlafen und spielen uns vor, es wäre eine ganz normale Nacht. Und wie schon seit drei Monaten werde ich meinen Kopf zwischen deinen Brüsten vergraben, ein debiler alter Sack, der sich trotz allem noch ans Leben klammert.

 

Gespräch mit dem Übersetzer Stefan Weidle auf Faustkultur.

Leopold Federmair: „Die lange Nacht der Illusion“

Das Leuchten der Ränder

Man kann sich nicht lange der Illusion hingeben, das Leuchten an den Rändern unserer Welt, das stets auch bedeutet: an den Rändern unserer Sprache(n), unseres verbalen Ausdrucksvermögens, sei ein Licht am Ende einer anhaltenden Dunkelheit. Was uns Leopold Federmair, mittlerweile seit 17 Jahren in Japan lebend, in seinem neuen Roman vorführt, ist eine Erstarrung, ein Verlöschen, ein Scheitern – und ein Trotzdem. Mit Die lange Nacht der Illusion schließt der Österreicher nach Tokyo Fragmente (2018) und Schönheit und Schmerz (2019) seine Japan-Trilogie ab.

Es geht um ein aufgebrochenes Dreieck zwischen Mutter, Vater und Tochter. Oder nein, besser: um die der Stabilität der Familie verlustig gewordenen Hauptpersonen Yuuki, Theo und Yoko.

Sie hatte ihren Mann nie „Vater“ genannt, wie es so viele japanische Ehefrauen taten, sobald ein Kind da war (auch in Geschäften, auf Ämtern, im Krankenhaus wurde man so angesprochen). Die Einzelperson war identisch mit der Rolle, die sie spielte.

Dies sind Sätze mit universellem Inhalt. Sie belegen, dass Ränder überall sind. Findet diese Nichttrennung von Person und Rolle nicht auch flächendeckend in Europa und sonst auf der Welt statt? Und führt dieses Verschleifen nicht früher oder später zu einem Identitätsverlust? Das sind Fragen, die in der Familie bleiben dürfen, um dort ihre Antwort zu finden.

Ja, man kann sagen, Federmairs Roman ist eine „kleine Japan-Kunde“, wie es Sebastian Fasthuber formuliert hat, aber er geht noch sehr viel tiefer in den Bereich zwischenmenschlicher Nicht-Kommunikation, die per se immer nur an den Rändern geschieht. Wir alle leben auf einer schmalen Kruste Zivilisation und vergessen, wie sehr es im Innern (unseres Planeten) brodelt. Und schaffen dann doch (trotzdem!) eine kühne und kühle Analyse, die Worte setzt, wo Leerstellen sich eingenistet haben.

Die Beziehung zwischen uns, Yuuki und mir, ist mit der Zeit immer feiner geworden, ein jedesmal zerbrechlicheres, reineres Gespinst aus Zeit. Und dann wieder gröber, mag sein, es gab Brüche und Abbrüche, so wie jetzt, plötzlich, ohne Übergang, keine Brücke, nicht einmal eine Furt.

Yuuki trennt sich von Theo, als Yoko in der sechsten Klasse ist. Sie verlässt Tokio und die Familie. Theo erinnert sich:

Plötzlich, ohne Vorankündigung, während der Ferien. Ein Kollege in der Zweigstelle ihrer Firma in Nagasaki, kaum älter als sie, zuständig für International Consulting, war einem Herzinfarkt erlegen, angeblich konnte nur Yukki ihn so kurzfristig ersetzen. Für sechs Monate, hatte es geheißen, bis ein Ortsansässiger eingeschult wäre, aber bald war von einem Jahr die Rede gewesen.

Federmair baut den Roman in zwei Teilen (Okarina und Kinkakuji) auf und ergänzt eine Einleitung (Affektenlehre) und einen kurzen Schlusstext (Kein Traum). Er macht sich Gedanken über das Erzählen und sucht nach neuen Formen der Romanstruktur. Als Instanz Autor wird Federmair erkennbar, wenn er schreibt:

Kaum eine Erzählung echter („echter“) Ereignisse läßt sich mit exakt der selben Anzahl von Worten bewältigen, die eine andere beansprucht; nicht einmal zwei Versionen ein und desselben Ereignisses sind in der Regel gleich lang, ganz zu schweigen von unterschiedlichen Rhythmen, Pausen, Akzentuierungen. Mehr noch, es fragt sich, ob zwei Ereignisse überhaupt gleichzeitig geschehen können. […] Blieb immer noch die Frage, wer beginnen würde, wie bei einem Gesellschaftsspiel, etwa: Der Jüngste zuerst. Oder nach der alten Regel des Gentlemans: Ladies first! Ich oder du, im Grunde genommen ist es egal.

Zunächst folgen wir Yuuki nach Nagasaki. Das Kapitel Okarina baut eine durch Einsamkeit und Entfremdung bedrohliche Kulisse auf, die sich in einer Extremwetterlage mit Starkregen, Überflutungen und schließlich einem Erdrutsch Bahn bricht und dabei alles, was an Ordnung und Sicherheit gültig war (hierfür die Metapher des violetten Müllsacks, dessen Inhalt nicht fachgerecht entsorgt wird), mit sich reißt.

Unschwer, sich dieses Katastrophenszenario vorzustellen, haben wir doch noch die Bilder des Tsunamis vom 11. März 2011 in unseren europäischen Köpfen. Doch wer in Japan lebt, braucht nicht so weit zurückgreifen, Murenabgänge und Hochwasser kommen immer wieder (öfter?) vor. Federmair dürfte hier den Bergrutsch vom Juli 2018 verarbeitet haben, als im Westen Japans und seinem Wohnort Hiroshima über hundert Menschen starben. Oder aber jenen vom August 2014 mit Dutzenden Toten.

Sturzbäche suchten sich Wege, Bette entstanden im Nu, Seitenarme flohen in den unversehrten Wald, vereinzelt kollerten Steine, schwarze Schollen rührten sich dumpf wie Rücken gewaltiger Schlangen. Die Mulde vor der Straße, am Fuß der Böschung, war jetzt, im lidlosen Traum, ein See. Und dann, im nächsten, wie letzten Augenblick, lag alles still, das Grollen war verklungen, nur das viel leisere, fast schon zarte Rauschen des Regens erfüllte den für immer – Jahrzehnte oder Jahrhunderte – veränderten Raum: die Traumlandschaft einer Mure […]

In der Szene, als Yuuki im obersten Stockwerk des Hochhauses der Künstlerin begegnet, die nachts die Okarina spielt, liegt ein besonderer Zauber mit ebenso viel Irritation wie Hoffnung. Yuuki, die Einzelgängerin, begegnet Menschen, Individuen, die nicht in der Uniformität der japanischen Gesellschaft aufgehen. Da passt jemand nicht ins System – und das ist gut so! Das nächtliche Okarinaspiel ist eine gelungene Interpretation einer Szene aus dem Animefilm Mein Freund Totoro, in der Totoro auf der Baumkrone thront, die Okarina spielt und eine kindlich-naive Hoffnung schenkt: Trotz alledem, alles wird gut!

Kurz nach der Katastrophe telefonieren Yuuki und Theo. Ist die Entfernung, die Entfremdung groß, so sind doch beide froh, einander zu hören, das wohl bekannte Schweigen des anderen zu hören, ein Lebenszeichen, wertvoll im Angesichts des Todes: ein Leuchten der Ränder!

Theos Perspektive, die im Kapitel Kinkakuji ausgebreitet wird, ist mit Yuukis nicht deckungsgleich. Kann es nicht sein. Der verlassene Ehemann, der sich um seine inzwischen in der Pubertät befindlichen Tochter kümmert, er hätte sich Raum nehmen können für eine lange Klage, ein Lamento auf die Ungerechtigkeit der Welt. Er tut es nicht. Er nimmt sich zurück. Der Fokus ist auf der Gegenwart, in der Theo sich seines viel tiefer gehenden Scheiterns am Leben, das sich in den kleinen Dingen zeigt, gewahr wird. Zum Beispiel am Erlernen der Schriftzeichen:

So viele Zeichen mußten draußenbleiben, sie schafften den Eintritt nicht, gewannen kein Bleiberecht. Bei seiner Tochter hingegen, das bemerkte er nicht nur im Hinblick auf die Landessprache, sondern auch beim Erkennen und Behalten von Details auf Bildern und in Filmen oder beim Anhören und Bewahren von Melodien und Liedtexten, genügte ein ein- oder zweimaliges Hören, Sehen oder Schreiben, damit sie, wahrscheinlich für alle Zeiten, ins Gedächtnis Aufnahme fanden.

Mit dem Wort Bleiberecht ruft Federmair eine Diskussion um Migration auf. Ist es nicht eine legitime Forderung, dass die, die zu uns kommen und bleiben wollen, unsere Sprache erlernen, sich an unsere Regeln halten? Der wachsame Nachbar hat einen Hinweis an den violetten Müllsack angebracht, nach ein paar Tagen wird der Bemerkung mehrsprachig, vielleicht, nein: bestimmt ist der Malefikant ein Ausländer!

Was passiert jedoch, wenn trotz guten Willens nicht gelingt, in Sprache und Kultur tief genug einzutauchen?

Sein Wunsch, diese Sprache zu erlernen, und nicht nur die gesprochene Sprache, sondern auch die Schrift, mit der sie festgehalten wird, dieser Wunsch war erwacht, als er den bekanntesten der Romane Yukio Mishimas in einer alten, längst vergriffenen deutschen Übersetzung las. Oder genauer, als er das Buch mit der holperigen Übersetzung und dem Fünfzigerjahre-Cover, das den Schattenriß eines Tempels mit Rot und Gelb drumherum zeigte, weglegte, weil er es nicht mehr länger ertrug, die Eleganz von Mishimas Sätzen, die er zu ahnen glaubte, mit solch groben deutschen Füßen getreten zu sehen.

Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Ein Yoko mitgegebenes Informationsschreiben der Schule kann Theo nicht lesen, deren Zeichen nicht entziffern, nicht richtig deuten. Die Tochter muss ihm den Text vorlesen. Hier zeigt sich, was es heißt, müde vom Leben zu sein: Ein Prozess des Welkens, während die Tochter aufblüht und ihre Kraft, ihre Duftmarken verströmt. Manchmal sagt sie ihrem Vater, er sei dumm. Halb, um ihn zu necken, halb, um ihn zu verletzen, in einem Ablösungsprozess, in dem Väter alt werden.

An irgendeinem Punkt, der ihm entgangen war und den er auch im Rückblick nicht genau zu bestimmen vermochte, hatte sich alles geändert. Die Geschichte – seine Geschichte – war gekippt. Einmal, als er seiner in Zorn geratenen Tochter schweigend zuhörte, sah er dieses Kippen deutlich vor sich: ein Bunker im Sand der Atlantikküste. Der Betonklotz verwandelte sich, während die zornige Stimme lauter wurde, in ein riesiges, viel zu großes, behäbiges Tier, das langsam zur Seite fiel und dann schicksalsergeben im Staub lag, es würde sich nie mehr erheben.

Federmair findet Worte für Prozesse innerhalb der Familie, die uns allzu oft verletzt zurücklassen, kraftlos, ratlos. Dass er seiner Figur Theo nahe ist und dabei eine Sprachkraft entwickelt, die Distanz schafft, Selbstbeobachtung ohne Anflug von Larmoyanz ermöglicht, die Leere in unaufgeregter und präziser Weise füllt, das ist Sprachkunst.

Übersetzen kann man nur trotzdem. Trotz was? („Wotrotz“?) Leben kann man nur trotzdem. […] Worte machen inmitten einer Unzahl von Wörtern. Indem er bis zum letzten Atemzug seine wachsende Tumbheit bekämpfte, bekämpfte und umhegte, würde der Roman vom Goldenen Tempel aus den verbrannten Wörtern noch einmal, das erste Mal, entstehen.

Am Ende erweist sich das Leuchten doch als reines Licht einer hinter sich gelassenen Dunkelheit.