Torbjørn Ekelund: „Gehen. Eine Wiederentdeckung“

Landschaft lesen

Ich war auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für einen Aktiv-Menschen, eine Outdoor-Existenz, die sich gerne rollend oder zu Fuß durch die Gegend bewegt. Das Cover sprach mich an, und weil noch ein paar Tage Zeit waren bis zum Fest, las ich in das Buch hinein.

Schon nach kurzer Zeit stand fest: Ich kann dieses Buch nicht verschenken, denn es ist für mich geschrieben, für mich, der ich wohl eher eine Indoor-Existenz führe, schreibend am Tisch meine Tage verbringe und viel zu viel sitze, statt mich zu bewegen.

Der Norweger Torbjørn Ekelund (* 1971) bringt  in Gehen. Eine Wiederentdeckung (Deutsch von Andreas Brunstermann) die Grundbeziehung der Bewegung und des Weges  auf den Punkt.

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Michael Spyra: „Die Berichte des Voyeurs“

Und seh‘ ich dich dort unbekleidet laufen,
ich sollte klingeln, um uns Stoff zu kaufen.

Diese beiden Verse aus dem ersten Band von Michael Spyra (* 1983 in Aschersleben) geben die Richtung vor, in der sich auch die 100 Liebesgedichte des Bandes Die Berichte des Voyeurs bewegen. Es ist eine Pendelbewegung zweier Menschen zwischen Nacktheit und Verhüllung, zwischen Schamlosigkeit und Scham.

Schrieb ich angesichts gardinenloser Fenster von „einem Zwischenraum von Voyeurismus und Banalität“ und zeigte mich enttäuscht über das Ende einer Verhüllungs- oder auch Entrückungssehnsucht (uns Stoff kaufen), so muss ich mich angesichts des Titels des neuen Bandes ernsthafter mit dem Spiel, den Spielarten der Liebe beschäftigen, also deren Leichtigkeit nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn die Anziehungskraft zweier Menschen ist, das belegen Die Berichte des Voyeurs, ein Untersuchungsgegenstand, der einen langem Atem braucht, eine genaue Beobachtungsgabe, ein richtiges Timing, ja geradezu eine Fürsorge für die Beobachteten und einen starken Hang zur Diskretion. Spyra nimmt uns als Leser*innen hier in die Pflicht, bei aller Direktheit, mit der zwei Menschen aufeinanderzusteuern und sich vereinen.

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Nevfel Cumart: „Waves of Time – Wellen der Zeit“

Geborgte Heimat

Vor wenigen Tagen gelangte der zweisprachig deutsch-englische Lyrikband Waves of Time – Wellen der Zeit von Nevfel Cumart (* 1964) in meinen Besitz. Der Lyrikband erschien 1998, Eoin Bourke (1939–2017) übersetzte die Gedichte ins Englische.

So schließen sich Kreise. Mit Eoins Frau Eva habe ich an Übersetzungen der irischen Lyrikerin Moya Cannon ins Deutsche gearbeitet (der Band erschien 2017). Ich war zweimal zu Besuch in Berlin, wo ich Eoin begegnete und mit Eva intensiv an den Übersetzungen arbeitete. Berlin und Galway, zwei Heimaten eines Paares, das vom Deutschen ins Englische und vom Englischen ins Deutsche übersetzte, das sich der Sprachvermittlung, der Kulturarbeit verschrieb.

berlin II

wie kann diese riesige stadt
mit ihren gefräßigen häusern

wie können all diese kinder
in den tiefen straßenschluchten

wie können diese steinbrücken
die endlosen schienenstränge

wie können sie mein gott
mit nur einem bissen sonne leben.

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Wolfgang Allinger | Ute Kliewer: „Zeit zieht nicht. Erzähl mir von Darjeeling“

Lepcha lernen

Lepcha ist eine von ca. 7000 Sprachen, die momentan auf der Erde gesprochen werden. Noch, muss man sagen, denn ernst zu nehmende Schätzungen gehen davon aus, dass zum Ende dieses Jahrhunderts mehr als die Hälfte ausgestorben sein wird.

Auch Lepcha, das in Teilen Indiens (Sikkim, Darjeeling), Nepals und Bhutans gesprochen wird, ist eine gefährdete Sprache. In Gangtok befindet sich das Sikkim’s Endangered Language Documentation Project (SELDP) an der School of Languages and Literature, Sikkim University. Von dort kam mit der großzügigen Unterstützung von Nim Tshering Lepcha (Übersetzer), Pabitra Chettri (Technische Assistentin, SELDP) und Samar Sinha (Leiter, SELDP) ein Satz in Lepcha zu mir.

Er lautet: sonapre kursuksa miŋtʰjuŋ ɡum

Es ist eine Transkription, auf eine Fassung in Lepcha-Skript hoffe ich noch. Ich bin kein Linguist, also warum interessiert mich das?

Seit vier Jahren jage ich für ein Projekt der Künstlerin Vera Röhm mit Tausenden von Emailanfragen den entlegensten Sprachen unseres Planeten hinterher.

Dabei trete ich in Kontakt mit Professor*innen, die seit Jahrzehnten an einer Sprache forschen, aber auch Student*innen, die noch ganz am Anfang ihres Studiums sind und doch vielleicht bald die einzigen Expert*innen für die jeweilige Sprache sein werden.

Was motiviert Menschen, fremde, gefährdete Sprachen zu studieren?

Für Paul, eine der beiden deutschen Protagonisten der Reiseerzählung Zeit zieht nicht von Wolfgang Allinger und Ute Kliewer ist die Frage leicht zu beantworten.

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Dinçer Güçyeter: „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“

An: script@elifverlag.de
Betreff: Nachtfalter

Es ist Nacht. Und es ist Deutschland. Wer könnte darüber Klügeres sagen als König Rio I.?
Oh, es ist ein schönes Land …
… bei Nacht …

Und was ließe sich Sinnfälligeres über deine Existenz sagen als
Nachtfalter werden alle Vertreter der Schmetterlinge bezeichnet, die nicht zu den Tagfaltern gehören?
Punkt. Fertig. So einfach ist es nämlich.

Wenn du aber solcher Sprache, solchen Definitionen misstraust, dann bleibt dir nur, an deine Handschrift zu glauben. Du hast keine andere Wahl. Sie wird dir ein Vademecum sein, das nicht verschwindet, selbst wenn es im Ofen verbrannt wird.

… und nicht mal dann!

Du musst durch die Erinnerungen hindurchschreiten, das Fruchtwasser wie eine verbrauchte Flüssigkeit auskippen und dich deiner Hölle stellen, mein Prinz.

Aber was sage ich dir: Du hast es ja bereits getan. Deine Gedichte sind dir, sie sind wunderbar. Deine Gedichte sind du. Und das ist gut so.

Albert (= der das Alphabet eröffnet)

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Edem Awumey: „Die schmutzigen Füße“

Papaoutai

Es wäre vermessen zu erzählen, bei meiner Fahrt vor wenigen Tagen durch Paris (aus der Basse Normandie kommend) wäre auf der Boulevard périphérique ein Taxi vor mir, von links oder rechts ist unerheblich, eingeschert, während zeitgleich im Radio der französischsprachige Hit aus dem Jahr 2013 von Stromae lief.

Wahrscheinlich war es weiter Richtung Osten, Richtung Deutschland, Richtung Heimat, zwischen Reims und Metz. Ich hatte jedenfalls auf den Song gewartet. Irgendwann musste er ja in diesem Urlaub laufen, auch wenn er schon nicht mehr ganz aktuell ist.

Es ist der beste Song, der meine Vatersuche in französische Sprache kleidet. Er hat etwas Dringendes, das ich spüren konnte, ohne mir bislang des genauen Wortlautes oder der dahinterstehenden Biografie des belgischen Musikers Paul Van Haver | Stromae gewahr zu werden.

Einen Song zum Soundtrack eines Buches zu machen, ist wagemutig. Zumal diese Entscheidung innerhalb der ersten Kapitel fiel und das Buch erst einige Stunden danach, spät am Abend, gelesen, mit ebenso wohliger Zufriedenheit als auch reichlicher Irritation, zur Seite gelegt wurde.

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Dato Turaschwili: „Das andere Amsterdam“

Abschweifungen

Mit Das andere Amsterdam liegt der zuletzt erschienene Roman des georgischen Schriftstellers Dato (David) Turaschwili (* 1966) in deutscher Übersetzung von Katja Wolters vor.

Das Original სხვა ამსტერდამი (transkribiert: skhva amst’erdami) erschien 2014, dem Jahr des Todes von Amiran (Pako) Swimonischwili, von dem Turaschwili schreibt:

An dem Tag, als man in Tiflis Pako Svimonishvili beerdigte, ging ich in Amsterdam das Hotel suchen, in dem David Jaschwili (Jaschka) gestorben ist.

Ich kann der Spur Turaschwilis nicht folgen, seiner Suche, die letzten Endes eine Suche nach den Gründen seiner Reise in die Niederlande ist:

Warum ich überhaupt nach Amsterdam gekommen war, darüber dachte ich auch den ganzen Tag nach und erwog sogar, daß ich mir alles nur ausgedacht hätte: das Amsterdamer Abenteuer meines Großvaters, die auf der holländischen Insel lebende Georgierin, die mir E-Mails schreibt.

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Asmus Trautsch: „Caird“

1 – Im moralischen Eismeer

Der Band Caird, Gedichte von Asmus Trautsch, Illustrationen von Rebecca Michaelis, war bereits für Frühjahr 2016 angekündigt. Ging man beim Verlagshaus Berlin zunächst von einer Verschiebung um wenige Monate aus, hieß es später, der Band werde auf unbestimmte Zeit verschoben, möglicherweise erscheine er erst 2018.

Nun ist Caird erschienen und ich kann meine Zusage, diesen Band zu besprechen, einlösen. Doch eine Rezension für Fixpoetry wird es nicht sein, wie bekannt, hat Julietta Fix den Betrieb ihrer Plattform zu Beginn des Jahres 2021 eingestellt. Insofern bin ich an kein Wort mehr gebunden und habe die Freiheit, mich in unbezahlter Arbeit so ausführlich oder so kurz, wie ich möchte, zu diesem Band zu äußern.

Was unterscheidet Caird des Jahres 2016 von Caird des Jahres 2021? Das kann letztlich nur der Autor selbst wissen und die wenigen Leute, die das Skript in seiner Fassung von vor fünf Jahren kannten.

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John Glenday: „The Firth“

Meeresarm

Es mag an der Fließrichtung des Wassers liegen, denke ich, ob es sich an jenen Stellen, wo sich Süßwasser mit Salzwasser vermischt, um einen Meeresarm oder eine Flussmündung handelt.

Nutze ich Meeresarm eher, wenn die Flut ins Land greift, das Süßwasser Richtung Quelle drängt, und bin ich bereit, von Flussmündung zu sprechen, wenn die Ebbe Untiefen im Mündungsbereich offen legt, also die Arbeit des Flusses, seinen Sedimenttransport belegt?

Im Englischen wird für beide Begriffe das Wort estuary verwendet. In schottischen Wörterbücher findet sich:

FIRTH, n.1 Also firt (Ork.), furth. An arm of the sea, often constituted by the broad estuary of a river
[https://dsl.ac.uk/entry/snd/firth_n1]

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Jan Koneffke: „Die Tsantsa-Memoiren“

Tato (alias … ) als Chronist

In dem neuen Roman von Jan Koneffke (* 1960 in Darmstadt) überblickt ein personaler Erzähler die Zeit von ca. 1780 bis in die Jetztzeit. Wie das? Ist er unsterblich? Oder wird hier versucht, eine auktoriale Erzählweise (eine gottgemäße Perspektive) in eine Person hineinzumogeln?

Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten, denn sie berührt unmittelbar den Kern dessen, was dieser Roman thematisiert.

Koneffke schummelt nicht. Er stellt uns keine auktorialen Erzähler zur Verfügung, sondern einen personalen. Aber handelt es sich beim Erzähler um eine Person? Und wenn, wie kann sie über einen so langen Zeitabschnitt aus eigener Erfahrung, eigener Anschauen berichten?

Nicht alle werden den Titel des Romans auf Anhieb verstehen, denn das Wort Tsantsa kommt aus der kleinen JívaroSprachfamilie, die in Peru und Ecuador gesprochen wird, und bezeichnet Schrumpfköpfe (oder Englisch: shrunken heads). Koneffkes Erzähler ist also bereits gestorben,  ist ein nach den Regeln indigener Völker präpariertes Ding (?) aus menschlichen Überresten.

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Beate Laudenberg, José F. A. Oliver, Ulrike Wörner (Hg.): „kinderleicht & lesejung. Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur“

Blick für eine Zukunft

Die vorliegende Publikation, die die Vorlesungen der Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur des Hausacher LeseLenzes und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe von 2014 bis 2019 versammelt, ist eine Pflichtlektüre für alle, die sich über den Stand der Kinder- und Jugendliteratur im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) informieren und sich inspirieren lassen wollen.

Was zeichnet gute Kinder- und Jugendliteratur aus? Wie gelingt sie? Welche Beschränkungen herrschen für Autorinnen und Autoren? Wie erreichen sie ihr Publikum?

Die fünf Dozent*innen Thorsten Nesch, Franco Supino, Nils Mohl, Kathrin Schrocke und Julia Willmann werfen Fragen auf und geben individuelle Antworten, bezogen auf ihr Schreiben. Dabei formulieren sie teilweise erstmals eine Poetik, ihre Lehre von der Dichtkunst, eine Disziplin, die mir größten Respekt abnötigt.

Dass ein Text klüger als seine Urheberin, sein Verfasser ist, das ist ein alter Hut, eine gern zitiertes Bonmot. Ich habe es mir mal mit Worten von Adam Zagajewski in mein Notizbuch eingetragen:

Ich muss sagen, dass ich keinen dummen Lyriker spielen möchte, aber ich verstehe meine Gedichte nicht ganz. Das ist das Süße und das Wunderbare an der Lyrik: dass wir nicht ganz verstehen, was wir herstellen.
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Larry Tremblay: „Der feiste Christus“

Das Haus

Ich möchte widersprechen. Schon der erste Halbsatz des Klappentextes erscheint mir falsch, irrig. Der Protagonist, die zentrale Gestalt ist nicht Edgar, sondern das Haus.

Ein Blick auf die Kapitelüberschriften dieses an Umfang recht schmalen Romans des Kanadiers Larry Tremblay (Jahrgang 1954) weist in die gleiche Richtung: Es sind nicht die Menschen, die die Handlung bestimmen. Wie das? Hier stimmt etwas nicht. Oh, ja!

Das Ding – Das Tier – Die Badewanne – Das Telefon – Das kleine Tier – Das Kleid – Der Kaffee – Das Vaterunser – Der Krankenwagen  – Der Eiffelturm – Das Sonderangebot – Das Präservativ – Das Auge – Die Bibel – Der Film – Der Lagerraum – Der Bart – Das Heft – Der Friedhof – Die Kerze – Der Fleck – Die Pastete – Das zweite Heft – Die Müllsäcke – Das Foto – Der Kuchen – Der Pfeil – Die Inspektoren – Der Kühlschrank – Die Perücke – Der Gefreite – Das Kästchen – Die Hunde – Die Kette

Dies ist eine so stringente Kette, dass die Ausnahmen (Die Inspektoren und Der Gefreite) [Sonderstellung der Tiere, juristisch zwischen Ding und Mensch] mir fast als handwerkliche Mängel erscheinen. Hat hier einer sich nicht bewusst gemacht, was er tut? Agiert er impulsiv aus dem Unterbewusstsein heraus, ohne auf Fehler zu achten und sie zu korrigieren?

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