Volker Braun: „Luf-Passion“

Eremiteninseln | Hermite Islands

I

Mit Luf-Passion hat Volker Braun (* 1939) eine Textcollage vorgelegt, die vom Verlag als Gedichtzyklus beworben und von den meisten Rezensent*innen so verstanden wird.

Interessanterweise fehlt diese Kategorisierung im Buch, neutraler wird von einem Text gesprochen. Die Widmung sollte stutzig machen. Der Text ist für den Trommler (hier scheint mir das deutsche Wort für den Drummer und Percussionisten zu kurz greifend) Günther Baby Sommer.

Sommer (* 1943) ist eine Größe in der europäischen und internationalen Jazzszene und hat schon mehrfach mit Autor*innen zusammengearbeitet, um Texte musikalisch zu hinterlegen und in Performances zur Aufführung zu bringen.

Von vornherein strebt Braun eine Zusammenarbeit mit dem Musiker an, mit dem Ziel, den Text auf die Bühne zu bringen. Insofern ist die Bezeichnung dramatisches Gedicht treffender. Aber ich gehe soweit zu sagen, dass die Textcollage ebenso als Libretto verstanden werden kann.

„Volker Braun: „Luf-Passion““ weiterlesen

Jean-Philippe Toussaint: „Das Verschwinden der Landschaft“

Never forget:
My Atlegrim, Aline Bastin, Yves Cibuabua-Ciyombo, Mélanie Defize, Oliver Delespesse, David Dixon, Sabrina Esmael Fazal, Raghavendran Ganesan, Léopold Hecht, Loubna Lafquiri, Gilles Laurent, Marie Lecaille, Janina Panasewicz, Patricio Rizzo, Johan Van Steen, Lauriane Visart
22-03-2016

Die Geschichte, die Jean-Philippe Toussaint (* 1957 in Brüssel) in Das Verschwinden der Landschaft erzählt (deutsche Übersetzung: Joachim Unseld), ist kurz und der Inhalt in wenigen Sätzen wiedergegeben.

Ein Mann sitzt unbeweglich im Rollstuhl in einem Haus mit Meeresblick. Durch eine Baumaßnahme wird die Sicht verbaut, die Landschaft verschwindet und dem Mann geht die Kraft aus, sich an die Ereignisse zu erinnern, die ihn in diese ausweglose Situation geführt haben.

„Jean-Philippe Toussaint: „Das Verschwinden der Landschaft““ weiterlesen

Adolf Endler: „Das Sandkorn“

Titelschutz

Kurz vor der Druckfreigabe meines neuen Gedichtbands Sandkorn stellte ich überrascht und erschrocken fest, dass es bereits einen Gedichtband gibt, oder mit der Kurzfristigkeit des Buchmarktes gesprochen: gab, der nahezu einen identischen Titel trägt.

Das Sandkorn von Adolf Endler (1930–2009) erschien 1974 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

„Adolf Endler: „Das Sandkorn““ weiterlesen

Eric Giebel: „Sandkorn“

Mein neuer Gedichtband ist soeben erschienen.

Sandkorn
Gedichte, 116 Seiten
edition offenes feld (eof), Band 76, Dortmund 2022
ISBN 978-3-75621-365-8
19,50 Euro [D]

Zu beziehen über den Buchhandel, BoD Norderstedt oder mich.

Als ich das Buch zum ersten Mal in der Hand halte und den Text auf der Rückseite lese, springt mir ein Fehler ins Auge. Da steht:
Widerstände eines kleines Kindes,
offenbar sind es solche gegen die deutsche Grammatik.

Perfektion ist der wahre Makel!

Bachtyar Ali: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“

Nachtwind

Oh, der Nachtwind weht sanft, warm und leise
über die Wälder, die Städte und Dörfer
Rio Reiser: Bei Nacht

1995 hatte ich einen Traum über meinen plötzlich und viel zu früh verstorbenen Vater. Ich notierte mir auf:

»Vater ist ein toter Körper, geschrumpft zu einem annähernd ebenen, ledrigen Stück Pergament. Der verschrumpelte Körper ist nur noch an wenigen Stellen dreidimensional, ansonsten ein toter Lappen. Er ist leicht zu tragen.«

Es berührt mich sehr und spendet mir Trost, den ich nach so langer Zeit immer noch vertragen kann, dass er im übertragenen Sinn mit dem Protagonisten Djamschid Khan des Romans Mein Onkel, den der Wind mitnahm von Bachtyar Ali (* 1966 in Sulaimaniya, Nordirak) eine furiose Auferstehung als literarische Figur, die im Herbstwind hoch über mir flattert, erlebt und ich diesen gekonnten Flug bezeugen darf.

Die Originalausgabe der Romans ist in Sorani (Zentralkurdisch) geschrieben und erschien bereits 2010. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Ute Cantera-Lang (* 1974 in Erlangen) und Rawezh Salim (* 1973 im Irak), einem Übersetzer-Duo, das sich dem Werk Alis angenommen hat (mit Ausnahme des hier ausführlich gewürdigten Romans Die Stadt der weißen Musiker) und das uns mit Sherzad Hassans Roman Die Nacht, in der Jesus herabstieg in den kommenden Wochen das Werk eines weiteren kurdischen Autors präsentieren wird.
„Bachtyar Ali: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm““ weiterlesen

Adalber Salas Hernández: „Auf dem Kopf durch die Nacht“

Den Toten mit Grippe

La eternidad no es un pañuelo, ¿sabes?

 

Freunde, wie stelle ich es mir vor: Caracas auf einem Taschentuch, / in dem die Barrios das Muster bilden auf der blanken, geglätteten Baumwolle / und Rotze schnell wachsende Krebsgeschwüre sind, die wuchern, / den alten Kern auffressen mit der Gewalt einer ewigen Krankheit, / die wir nicht aussprechen können, weil unsere Münder zerschossen und verfault?

Freunde, wie übersetzen wir Worte, spiegeln deren Sinn, wiewohl wir (noch) / der Grammatik des sozialen Friedens frönen? Unsere Schreibtische stehen auf vier / Beinen und tragen die Last unserer Ellbogen, deren Rauheit die Joppen / zurückliegender, glücklicher Tage längst durchgescheuert. Ach, eure ewige / Husterei! Euer nie endend wollender Schleim, der eure Nasen gefangen hält!

Diese Zeilen reagieren auf das Gedicht VII (Planto por la muerte de Maese Don Domingo).

Es ist mein hilfloser Versuch, die Distanz zwischen Caracas und Europa zu verkürzen, die Riesenlücke zwischen einem collapsed state und noch funktionierenden Demokratien zu schließen. Kann ich nun, nach ein paar hingeworfenen Zeilen, beginnen, eine Rezension des Buches zu schreiben? Wie verhandeln wir Lyrik angesichts der Toten, die uns den Spiegel vorhalten?

„Adalber Salas Hernández: „Auf dem Kopf durch die Nacht““ weiterlesen

Torbjørn Ekelund: „Gehen. Eine Wiederentdeckung“

Landschaft lesen

Ich war auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für einen Aktiv-Menschen, eine Outdoor-Existenz, die sich gerne rollend oder zu Fuß durch die Gegend bewegt. Das Cover sprach mich an, und weil noch ein paar Tage Zeit waren bis zum Fest, las ich in das Buch hinein.

Schon nach kurzer Zeit stand fest: Ich kann dieses Buch nicht verschenken, denn es ist für mich geschrieben, für mich, der ich wohl eher eine Indoor-Existenz führe, schreibend am Tisch meine Tage verbringe und viel zu viel sitze, statt mich zu bewegen.

Der Norweger Torbjørn Ekelund (* 1971) bringt  in Gehen. Eine Wiederentdeckung (Deutsch von Andreas Brunstermann) die Grundbeziehung der Bewegung und des Weges  auf den Punkt.

„Torbjørn Ekelund: „Gehen. Eine Wiederentdeckung““ weiterlesen

Angelika Overath: „Schwarzhandel mit dem Himmel | Marchà nair cul azur“

Schleichhändlerin

Gleich zweimal bezichtigt sich die Deutsch-Schweizer Schriftstellerin Angelika Overath (* 1957 in Karlsruhe) in ihrem kurzen Vorwort zum Gedichtband Schwarzhandel mit dem Himmel | Marchà nair cul azur des Schmuggels, also der rechtswidrigen Verbringung von Waren oder Personen über eine Grenze.

Welche Grenze wird überschritten? Welche Ware geschmuggelt?

Die Autorin, die seit 2007 in Sent, Unterengadin, Schweiz lebt, hat sich selbst in den kleinen Sprachraum des Rumantsch (Rätoromanischen), genauer gesagt: ins Idiom des Vallader, eingeschleust.

„Angelika Overath: „Schwarzhandel mit dem Himmel | Marchà nair cul azur““ weiterlesen

Michael Spyra: „Die Berichte des Voyeurs“

Und seh‘ ich dich dort unbekleidet laufen,
ich sollte klingeln, um uns Stoff zu kaufen.

Diese beiden Verse aus dem ersten Band von Michael Spyra (* 1983 in Aschersleben) geben die Richtung vor, in der sich auch die 100 Liebesgedichte des Bandes Die Berichte des Voyeurs bewegen. Es ist eine Pendelbewegung zweier Menschen zwischen Nacktheit und Verhüllung, zwischen Schamlosigkeit und Scham.

Schrieb ich angesichts gardinenloser Fenster von „einem Zwischenraum von Voyeurismus und Banalität“ und zeigte mich enttäuscht über das Ende einer Verhüllungs- oder auch Entrückungssehnsucht (uns Stoff kaufen), so muss ich mich angesichts des Titels des neuen Bandes ernsthafter mit dem Spiel, den Spielarten der Liebe beschäftigen, also deren Leichtigkeit nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn die Anziehungskraft zweier Menschen ist, das belegen Die Berichte des Voyeurs, ein Untersuchungsgegenstand, der einen langem Atem braucht, eine genaue Beobachtungsgabe, ein richtiges Timing, ja geradezu eine Fürsorge für die Beobachteten und einen starken Hang zur Diskretion. Spyra nimmt uns als Leser*innen hier in die Pflicht, bei aller Direktheit, mit der zwei Menschen aufeinanderzusteuern und sich vereinen.

„Michael Spyra: „Die Berichte des Voyeurs““ weiterlesen

Nevfel Cumart: „Waves of Time – Wellen der Zeit“

Geborgte Heimat

Vor wenigen Tagen gelangte der zweisprachig deutsch-englische Lyrikband Waves of Time – Wellen der Zeit von Nevfel Cumart (* 1964) in meinen Besitz. Der Lyrikband erschien 1998, Eoin Bourke (1939–2017) übersetzte die Gedichte ins Englische.

So schließen sich Kreise. Mit Eoins Frau Eva habe ich an Übersetzungen der irischen Lyrikerin Moya Cannon ins Deutsche gearbeitet (der Band erschien 2017). Ich war zweimal zu Besuch in Berlin, wo ich Eoin begegnete und mit Eva intensiv an den Übersetzungen arbeitete. Berlin und Galway, zwei Heimaten eines Paares, das vom Deutschen ins Englische und vom Englischen ins Deutsche übersetzte, das sich der Sprachvermittlung, der Kulturarbeit verschrieb.

berlin II

wie kann diese riesige stadt
mit ihren gefräßigen häusern

wie können all diese kinder
in den tiefen straßenschluchten

wie können diese steinbrücken
die endlosen schienenstränge

wie können sie mein gott
mit nur einem bissen sonne leben.

„Nevfel Cumart: „Waves of Time – Wellen der Zeit““ weiterlesen

Wolfgang Allinger | Ute Kliewer: „Zeit zieht nicht. Erzähl mir von Darjeeling“

Lepcha lernen

Lepcha ist eine von ca. 7000 Sprachen, die momentan auf der Erde gesprochen werden. Noch, muss man sagen, denn ernst zu nehmende Schätzungen gehen davon aus, dass zum Ende dieses Jahrhunderts mehr als die Hälfte ausgestorben sein wird.

Auch Lepcha, das in Teilen Indiens (Sikkim, Darjeeling), Nepals und Bhutans gesprochen wird, ist eine gefährdete Sprache. In Gangtok befindet sich das Sikkim’s Endangered Language Documentation Project (SELDP) an der School of Languages and Literature, Sikkim University. Von dort kam mit der großzügigen Unterstützung von Nim Tshering Lepcha (Übersetzer), Pabitra Chettri (Technische Assistentin, SELDP) und Samar Sinha (Leiter, SELDP) ein Satz in Lepcha zu mir.

Er lautet: sonapre kursuksa miŋtʰjuŋ ɡum

Es ist eine Transkription, auf eine Fassung in Lepcha-Skript hoffe ich noch. Ich bin kein Linguist, also warum interessiert mich das?

Seit vier Jahren jage ich für ein Projekt der Künstlerin Vera Röhm mit Tausenden von Emailanfragen den entlegensten Sprachen unseres Planeten hinterher.

Dabei trete ich in Kontakt mit Professor*innen, die seit Jahrzehnten an einer Sprache forschen, aber auch Student*innen, die noch ganz am Anfang ihres Studiums sind und doch vielleicht bald die einzigen Expert*innen für die jeweilige Sprache sein werden.

Was motiviert Menschen, fremde, gefährdete Sprachen zu studieren?

Für Paul, eine der beiden deutschen Protagonisten der Reiseerzählung Zeit zieht nicht von Wolfgang Allinger und Ute Kliewer ist die Frage leicht zu beantworten.

„Wolfgang Allinger | Ute Kliewer: „Zeit zieht nicht. Erzähl mir von Darjeeling““ weiterlesen

Elke Barker: „Und zwischen uns das Meer“. Edition Darmstädter Textwerkstatt Band 1

Deine leise eindringende Stimme

Als sich am Ende des Buches immer mehr Schnee auftürmt, habe ich es begriffen: Die 24 Erzählungen von Elke Barker (* 1969), die in dem Band Und zwischen uns das Meer versammelt sind, sind lose nach Jahreszeiten gruppiert. Es gibt entgegen meines subjektiven Eindrucks also mehrere Jahreszeiten in dem Buch.

Dabei möchte ich doch gerne behaupten, dass der Sommer die überragende Rolle in Barkers Geschichten spielt. Es ist, um eine Hörbuch-Produktion von Peter Kurzeck zu zitieren: Ein Sommer, der bleibt.

Oder vielleicht mehr noch ist es eine Anhäufung von heißen Tagen, die unweigerlich an die Sommer von Zsuzsa Bánk in ihren Romanen Die hellen Tage, Der Schwimmer oder Sterben im Sommer denken lassen. Der Erzählband Bánks trägt den Titel Heißester Sommer.

Dass mit Kurzeck und Bánk zwei Namen aufgerufen werden, in deren Obhut man sich als Leser*in begeben kann, mit der Sicherheit, dort gut aufgehoben zu sein, dort gut versorgt zu werden und für die Dauer der Lektüre einen sicheren Ort zu haben, ist kein willkürliches Namedropping. Auch bei Elke Barker ist man in guten Händen. Sie erzählt einfühlsam und berührend.

„Elke Barker: „Und zwischen uns das Meer“. Edition Darmstädter Textwerkstatt Band 1“ weiterlesen