Andreas Neeser: „Nachts wird mir wetter“

: Hätten Wörter ein Gedächtnis

, fragt der Schweizer Andreas Neeser (* 1964) in seinem neuesten Lyrikband Nachts wird mir wetter,

wäre das
eine gute Nachricht?
(Einsagen. Aus – XVI)

Wörter mit einem künstlichen Intelligenzapparat zu versehen, der in Sekundenschnelle ausspuckt, wer, wann, wo und wie oft welche Wörter benutzt hat? Wem warum gelungen ist, aus Wörtern Worte zu machen? Aus den Einzelelementen einer Sprache Zusammenhänge zu flechten oder zu weben, je nach Handwerkskunst und Tradition? Wäre das eine gute Nachricht?

Nein, ich glaube nicht.

Das Gedächtnis (und das Vergessen) darf auf der Seite der Menschen bleiben, jedenfalls im Bereich der Literatur, der Lyrik, der Sprache.

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Emma Adbåge: „Unsere Grube“

Die Erwachsenen stehen miesepetrig oben am Rand.

Der schönste Satz des Gewinners des Deutschen Jugendliteraturpreises 2022 in der Kategorie Bilderbuch.

Das von der schwedischen Autorin und Illustratorin Emma Adbåge (*1982 in Linköping) gestaltete Buch (ins Deutsche von Friederike Buchinger) erzählt aus Sicht der Kinder über ihren Lieblingsspielplatz, unsere Grube, wo die Spiele nicht vorgegeben sind durch die Erwachsenen mit ihren verkopften Vorstellungen über Regeln und Unfallvermeidung, sondern sich deren Kontrolle entziehen und freien Lauf nehmen. Die Spiele heißen

Bärenmama, Hütte, Verstecken, Kiosk …

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Tatjana Gromača: „Die göttlichen Kindchen“

Darlegung

Allzu leichtfertig, allzu inflationär fällt das Wort von messerscharfen, sezierenden Worten. Und dann dieser Satz:

Es gibt verschiedene Arten von Messern, aber für das Abschlachten von Menschen im Krieg sind am besten etwas längere Exemplare geeignet, so wie die Jagdmesser zum Schlachten von Wildschweinen.

Mit dieser Exposition beginnt Tatjana Gromača (* 1971 in Sisak) ihren Roman Die göttlichen Kindchen (aus dem Kroatischen von Will Firth).

Welche Erwartungen an ihren Roman weckt Gromača mit diesem ersten Satz? Darf man einen Ton voll scharfzüngigem Witz erwarten, wie es der Klappentext vorschlägt?

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Tadeusz Dąbrowski: „Wenn die Welt schläft“

Zertrümmerte Tastatur der Stadt

Es ist meine erste Begegnung mit dem polnischen Lyriker Tadeusz Dąbrowski (* 1979 in Elbląg), ermöglicht durch die Übersetzerin Renate Schmidgall.
Sie hat Gedichte der beiden letzten Lyrikbände Ausdrucksmitte(l) von 2016, Scrabble von 2020 und neuere, unveröffentlichte Gedichte zu einem Band zusammengefasst.

Die Gedichte lesen sich in der deutschen Fassung leicht und selbstverständlich, sie scheinen auf den ersten Blick keine allzu großen Geheimnisse zu bergen, sie erzählen aus dem Leben, sie erzählen vom Leben, wie es ist, aus der Perspektive eines lyrischen Ich-Erzählers, der nahe am Autor verortet ist. Sie erzählen von Reisen und Lesestationen eines Schreibenden, der seinem Beruf in verschiedenen Städten nachgeht, dabei immer im Gepäck die Entfremdung und die Sehnsucht.

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Verónica Gerber Bicecci: „Leere Menge“

Und wo sind die Scherben?
Über die Umdeutung einer gemeinsamen Schnittmenge.

Die vom deutschen Mathematiker Georg Cantor (1845-1918) begründete Mengenlehre schaffte es in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts als Schulstoff in meine Grundschule, die im Volksmund gemeinhin Volksschule genannt wurde (ein Ausdruck, der weit in die deutsche Geschichte reicht und nach Schnittmenge, Differenz und Komplement verschiedener Systeme fragt: Kaiserreich, Weimarer Republik, das Dritte Reich, das getrennte Deutschland).

Ich erinnere mich noch an den Aufschrei meiner Mutter, die sich mit anderen zusammentat, um gegen diesen unverständlichen Unterrichtsstoff zu protestieren. Muss ich erwähnen, dass dies im Westen des Landes geschah?
Muss ich mutmaßen, dass sie die Klappe gehalten hätte, wäre sie im Osten des Landes geblieben?

Ach Mama, jetzt bist du fast ein Jahr tot und ich lese und bespreche ein Buch, das die Mengenleere auf Gefühlslagen anwendet. Du fragst nach?

Leere Menge ist von der mexikanischen Künstlerin und Schriftstellerin Verónica Gerber Bicecci (* 1981 in Mexiko) geschrieben und mit Zeichnungen (Diagrammen) versehen. Die Übersetzung aus dem mexikanischen Spanisch stammt von Birgit Weilguny (* 1980).

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Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri & Uli Krappen: „Nusret und die Kuh“

Fortgehen und Heimkehren

Nusret lebt bei seinen Großeltern in einem Dorf im Kosovo. Die Eltern wohnen mit den Nusrets Geschwistern in Deutschland. Die Entfernung zwischen der alten und der neuen Heimat der Familie ist groß, Briefe verkürzen sie. Doch die Großeltern können nicht lesen und Nusret ist noch nicht in der Schule, also hilft der freundliche Briefträger aus.

Anja Tuckermann erzählt in Nusret und die Kuh eine Geschichte über Heimat, Exil, Sehnsucht und über die Wichtigkeit, Lesen und Schreiben zu erlernen. Die Kuh tut es Nusret gleich, auch sie lernt das Alphabet. Als Nusret nach einem Besuch im Kosovo zurück nach Deutschland fährt, die Kuh aber bei den Großeltern bleibt, liest fortan die Kuh die Briefe aus Deutschland vor.

Das Buch ist von  Mehrdad Zaeri und Uli Krappen lebhaft, wild, phantasie- und liebevoll illustriert.

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Schirin Nowrousian: „Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai“

Katzen rennen hinter jedem Wort her

Ich bin mir sicher, die Antipathie besteht beiderseits. Wie diese Katze, sicher ein leicht fett gewordener, kastrierter Kater mich ansieht: misstrauisch, frustriert, mürrisch.

Ich gebe zu, ich bin kein besonderer Freund des Katzentiers, auch kein Käufer von Katzenkalendern, wiewohl es ein offenes Branchengeheimnis ist, das damit Lyrikpublikationen querfinanziert werden können. Aber dort sind ohnehin nur diese jungen Dinger drin! Der Wächter des mehrsprachigen Lyrikbands Wilna-Worte | Vilniaus žodžiai von Schirin Nowrousian (* 1975 in Bochum) (ins Litauische von Vertė Austėja Merkevičiūtė) bleibt regelmäßig bei den Shootings für den Kalender unberücksichtigt, vielleicht ist er ein ehemaliger König der Gosse.

Jedenfalls hat er mir über Tage den Zugang zu den Gedichten verwehrt. Ich schlich mich schließlich in einem Moment seiner Unachtsamkeit von hinten in den Band. Und siehe: Es funktioniert.

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Volker Braun: „Luf-Passion“

Eremiteninseln | Hermite Islands

I

Mit Luf-Passion hat Volker Braun (* 1939) eine Textcollage vorgelegt, die vom Verlag als Gedichtzyklus beworben und von den meisten Rezensent*innen so verstanden wird.

Interessanterweise fehlt diese Kategorisierung im Buch, neutraler wird von einem Text gesprochen. Die Widmung sollte stutzig machen. Der Text ist für den Trommler (hier scheint mir das deutsche Wort für den Drummer und Percussionisten zu kurz greifend) Günther Baby Sommer.

Sommer (* 1943) ist eine Größe in der europäischen und internationalen Jazzszene und hat schon mehrfach mit Autor*innen zusammengearbeitet, um Texte musikalisch zu hinterlegen und in Performances zur Aufführung zu bringen.

Von vornherein strebt Braun eine Zusammenarbeit mit dem Musiker an, mit dem Ziel, den Text auf die Bühne zu bringen. Insofern ist die Bezeichnung dramatisches Gedicht treffender. Aber ich gehe soweit zu sagen, dass die Textcollage ebenso als Libretto verstanden werden kann.

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Jean-Philippe Toussaint: „Das Verschwinden der Landschaft“

Never forget:
My Atlegrim, Aline Bastin, Yves Cibuabua-Ciyombo, Mélanie Defize, Oliver Delespesse, David Dixon, Sabrina Esmael Fazal, Raghavendran Ganesan, Léopold Hecht, Loubna Lafquiri, Gilles Laurent, Marie Lecaille, Janina Panasewicz, Patricio Rizzo, Johan Van Steen, Lauriane Visart
22-03-2016

Die Geschichte, die Jean-Philippe Toussaint (* 1957 in Brüssel) in Das Verschwinden der Landschaft erzählt (deutsche Übersetzung: Joachim Unseld), ist kurz und der Inhalt in wenigen Sätzen wiedergegeben.

Ein Mann sitzt unbeweglich im Rollstuhl in einem Haus mit Meeresblick. Durch eine Baumaßnahme wird die Sicht verbaut, die Landschaft verschwindet und dem Mann geht die Kraft aus, sich an die Ereignisse zu erinnern, die ihn in diese ausweglose Situation geführt haben.

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Adolf Endler: „Das Sandkorn“

Titelschutz

Kurz vor der Druckfreigabe meines neuen Gedichtbands Sandkorn stellte ich überrascht und erschrocken fest, dass es bereits einen Gedichtband gibt, oder mit der Kurzfristigkeit des Buchmarktes gesprochen: gab, der nahezu einen identischen Titel trägt.

Das Sandkorn von Adolf Endler (1930–2009) erschien 1974 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale).

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Eric Giebel: „Sandkorn“

Mein neuer Gedichtband ist soeben erschienen.

Sandkorn
Gedichte, 116 Seiten
edition offenes feld (eof), Band 76, Dortmund 2022
ISBN 978-3-75621-365-8
19,50 Euro [D]

Zu beziehen über den Buchhandel, BoD Norderstedt oder mich.

Als ich das Buch zum ersten Mal in der Hand halte und den Text auf der Rückseite lese, springt mir ein Fehler ins Auge. Da steht:
Widerstände eines kleines Kindes,
offenbar sind es solche gegen die deutsche Grammatik.

Perfektion ist der wahre Makel!

Bachtyar Ali: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“

Nachtwind

Oh, der Nachtwind weht sanft, warm und leise
über die Wälder, die Städte und Dörfer
Rio Reiser: Bei Nacht

1995 hatte ich einen Traum über meinen plötzlich und viel zu früh verstorbenen Vater. Ich notierte mir auf:

»Vater ist ein toter Körper, geschrumpft zu einem annähernd ebenen, ledrigen Stück Pergament. Der verschrumpelte Körper ist nur noch an wenigen Stellen dreidimensional, ansonsten ein toter Lappen. Er ist leicht zu tragen.«

Es berührt mich sehr und spendet mir Trost, den ich nach so langer Zeit immer noch vertragen kann, dass er im übertragenen Sinn mit dem Protagonisten Djamschid Khan des Romans Mein Onkel, den der Wind mitnahm von Bachtyar Ali (* 1966 in Sulaimaniya, Nordirak) eine furiose Auferstehung als literarische Figur, die im Herbstwind hoch über mir flattert, erlebt und ich diesen gekonnten Flug bezeugen darf.

Die Originalausgabe der Romans ist in Sorani (Zentralkurdisch) geschrieben und erschien bereits 2010. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Ute Cantera-Lang (* 1974 in Erlangen) und Rawezh Salim (* 1973 im Irak), einem Übersetzer-Duo, das sich dem Werk Alis angenommen hat (mit Ausnahme des hier ausführlich gewürdigten Romans Die Stadt der weißen Musiker) und das uns mit Sherzad Hassans Roman Die Nacht, in der Jesus herabstieg in den kommenden Wochen das Werk eines weiteren kurdischen Autors präsentieren wird.
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