Micho Mossulischwili: „Schwäne im Schnee“

Was mich mit Japan verbindet?

Mit dieser Frage beginnt eine Prosaminiatur des 1962 geborenen georgischen Schriftstellers Micho Mossulischwili, die in den von Irma Schiolaschwili und Joachim Britze ins Deutsche übertragenen Band „Schwäne im Schnee“ aufgenommen wurde. Darin beschreibt der Georgier, welchen Eindruck Akutagawa Ryûnosuke (1892-1927) auf ihn als jungen Studenten gemacht hatte, bevor er seine Novelle „Der Waldmann“ schrieb.

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Arundhati Roy: „Das Ministerium des äußersten Glücks“

Aftab und Anjun

Der zweite Roman der 1959 geborenen Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Arundhati Roy (deutsche Übersetzung: Anette Grube) enthält viele ineinandergreifender Lebensgeschichten, die tragfähig sind, stellvertretend für die 1,324 Milliarden Menschen Indiens (Stand: 2016) zu stehen, in ihrer Sprach- und Religionsunterschiedlichkeit, in ihrer Buntheit, ihrer Schrillheit, in der Armut und exzessiver Gewalt ebenso Raum geboten wird wie für ein wenig privates Glück.

Der sehr ansprechende Titel, ich verzeihe Roy den Griff in die marktschreierisch klingende Superlative, steht im äußersten Kontrast zum Kern des Buches, der sich mit dem Kaschmir-Konflikt, welch harmlose Alliteration für ein Gemetzel, bei dem die Welt wieder mal weg(ge)schaut (hat) und Gewalt, Terror, Folter und Tod freien Lauf lässt, auseinandersetzt.

Im „Reader’s Digest der englischen Sprache und Grammatik für ganz junge Kinder“ schreibt Tilo, eine der Hauptfiguren des Romans, auf, was sie beschäftigt:

NICHTS

Ich würde gerne eine dieser kultivierte Geschichten schreiben, in denen zwar nichts passiert, aber es trotzdem viel gibt, worüber man schreiben kann. So etwas ist in Kaschmir nicht möglich. Es ist nicht kultivert, was hier passiert. Es gibt zu viel Blut für gute Literatur.

F1: Warum ist es nicht kultiviert?
F2: Wie groß ist die hinnehmbare Menge Blut für gute Literatur?

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Lisa Elsässer: „flussbewohner“

Das Jahr der Liebe

Schatten und Licht bestimmen das lyrische Ich in Lisa Elsässers neuem Gedichtband: seine gegenwärtigen Gefühle, sein Sehnen, sein Verzweifeln. Dabei lese ich flussbewohner als eine Art lyrisches Tagebuch, das die An- und Abwesenheit des lyrischen Du verortet. Den einundachtzig, zumeist kurzen Gedichten sind Zeilen von Dorothy Parker vorangestellt, die den Weg, wohin die Lektüre des Bandes führt, vorzeichnen: in eine intime Schutzzone, in der das Du und das Ich sich begegnen, sich abstoßen, auseinderdriften, sich wieder annähern, eins werden, zwei bleiben und in unsichtbaren Überlagerungen mehrfach besetzt werden.

als das telefon nicht
klingelte, wusste ich
ganz genau, dass du
es warst
(Dorothy Parker)

Welche Erwartungen werden mit den Zeilen Parkers genährt? Erlebt Parkers Galligkeit, „Liebe ist ein Griff ins Klo“, eine Wiedergeburt in den Zeilen Elsässers: die lebensbejahende Lust am Leben, die Lust an Sexualität, das Todesnahe ihrer Verzweifung an der vom Leben inszenierten Langeweile, gegen die die Amerikanerin mit böswilligem Spott aufbegehrte oder mit Suizidversuchen? [Diese wenigen Zeilen über Parker können nicht das Leben der Schriftstellerin abbilden, schon gar nicht jene Aspekte abseits des Glamours: ihr Einsatz für die Rechte Unterpriviligierter und ihre Tätigkeit als Korrespondentin im Spanischen Bürgerkrieg.]

mein schreibtisch

hat eine affaire mit
einer alten dichterin
ich lasse sie und ihn
ein paar gedichte
schreiben über die so
genannte liebe meine
freiheit grenzenlos
(aus: „mein schreibtisch“)

Elsässer ist eine stille Beobachterin, die ihren Gefühlen keine pompösen und auf Außenwirkung gedachten Worte verleiht. Das Wortrepertoire ist bekannt, es gibt wenig Sprachexperimentelles. Severing Perrig nennt Elsässers Sprache eine Vermeidung des „kieselslangs“, des neumodisch Zeitgeistigen.

heute
eine muschel gefunden
im salzigen gras
ich dachte an dich
und hörte im wolkenmeer
das sanfte rauschen
deiner stimme

Als Tagebucheintrag ist das schön, als Ausgangsmaterial für eigene Entdeckungen und Begegnungen, als Lyrik, die mich mit meiner eigenen Gefühlswelt konfrontieren, mich (als Mann [es wäre falsch, den Genderaspekt völlig in Abrede zustellen]) rühren könnte, ist es mir an dieser Stelle zu konventionell, zu wenig. Wie aber das Gesagte neu sagen? Und wozu? Ist nicht schon alles gesagt? Und ist es nicht ausreichend wertvoll, dass überhaupt etwas gesagt wird, dass Worte gesprochen werden?

keine worte

kommen mir mehr
übern mund und
das licht ein kaltes
glas an meiner wange
mir zu füssen scherben
gefallene stunden

ohne glück

Das Phänomen und Problem der abgesetzten letzten Gedichtzeile kenne ich aus meinem eigenen Schreiben. Ist der Ton noch so leise, zurückhaltend, fast unhörbar, erliegt man/frau doch der Versuchung, etwas überdeutlich zu sagen, was längst zum Ausdruck gekommen ist. Hier wäre das Lektorat gefragt gewesen, um die letzte Zeile ersatzlos zu streichen.

Mein Eindruck beim ersten Lesen der Gedichte war, dass sie, gerichtet an ein Du, ausgerichtet auf ein zukünfiges Wir, mich nicht ansprechen, ganz im Sinne: Ich, ein ferner Kritiker, bin nicht gemeint. Es geht mich nichts an. Die Frage der Relevanz ist grundsätzlich ein Problem einer Lyrik, die den Dialog zwischen Du und Ich konsequent durchsteht, natürlich trifft das für jedes Tagebuch zu.

finissage

es ist das letzte
in diesem jahr
und zeig mir dein
gesicht im gedicht
das jahr der liebe
das zu ende geht

Bei näherem Hinschauen entwickelt Elsässer jedoch Wege, wie sie die zuvor genannten Kritikpunkte sehr weit hinter sich lässt. Das gelingt nicht durchgängig, aber die Lichtstrahlen sind kraftvoll und erwärmen mich. Dies geschieht durch eine leichte Verschiebung des Wortmaterials, die ausreicht, um den lästigen Eindruck des Schoneinmalgehörten abzuschütteln. Zwei Beispiele:

du wirst es mir nicht glauben

die bienen kommen dieses jahr
im herbst und die eichhörnchen
erwachen dann sie riechen gerne
nur einen winter lang den schnee

wir haben uns den sommer über
verschlafen einander zugewandt
betrachten die bienen und schnee
blüten treiben im offenen mund

und

wieder

schichte ich alte hölzer
sie scheuen feuer und so
brennt wieder nur der tag
erloschen weht seine
asche in die dämmerung

kalt die nacht ein tier
ohne fell und hier höre ich
die sprache zwischen holz
und scheu brennen
alle schichten lichterloh

Hier bin ich mitten im Geschehen, kann mich in die Situation einfinden. Die Worte fordern mich auf: Schau auf die Sprache zwischen den Dingen! Das macht mich neugierig. Ich dringe ein. Die Suche der Autorin nach einem Wesen mache ich zu meiner eigenen. Zumal Elsässers Verzicht auf Satzzeichen an vielen Stellen unterschiedliche Lesarten bietet. Die Möglichkeit, Zäsuren selbst zu setzen, ergibt sich aus einer klugen Verzahnung der Verse. Der Atem, Maß der Verslänge, darf variieren.

Was zumeist gut gelingt, generiert, es soll nicht verschwiegen werden, auch schwache Verse.

denn auch wenn uns doch die
(aus: „die tage flüchten jetzt“)

Über ein Wort im Gedicht „schweigen“ habe ich mich verwundert: die „mundkeller“. Ich kann mir dieses Wort nicht ohne Andreas Neesers Gedicht „Großmutters Mund war ein Keller“ aus dem Band „Wie halten Fische die Luft an“ (Haymon, Innsbruck 2015) denken. Bin ich auf einer falschen Spur oder führen die beiden Schweizer mittels ihrer Bände einen poetischen Dialog?

in begleitung stummer fische
tauchst du in den trüben grund
(aus: „angeln“)

die flüsse hüten dümpeln tage dahin
spiegeln sich in seltenen pegeln
vielleicht ist es ihr alter die jahre und
dass sie und wir diese fische noch sehen
(aus: „summertime“)

Das titelgebende Gedicht gehört zweifelsohne zu den stärksten des Bandes. Elsässer lässt ihren Worten mehr Raum, das Gedicht ist länger als die meisten anderen und geht in die Tiefe des Flusses. Es lässt sich lesen im Dialog mit Neesers „Die Strömung wird stärker“ oder als melancholischer Monolog. Gleichwie meine oder jede andere Lesart ist: „flussbewohner“ ist ein großartiger Text, bei dem das Sprachmaterial, die Verse, die festzulegenden Atemzäsuren sich zu einer starken Präsenz vereinen.

deine schmerzen hast du
mir hinterlassen wie schöne
kieselsteine ordne ich nun dein

und mein nicht auseinander
zu halten ist das flussgeschliffene
grau dem das wasser beibrachte

still still zu liegen so wie wir
manchmal in der stille lagen
und über uns das fliessen

in der strömung einander
zugewandt stumm im dunkel
zogst du aus ohne ein gepäck
(aus: „flussbewohner“)

 

Simone Scharbert: „Erzähl mir vom Atmen“

Atmen Gedichte?

Ja sicher, täten sie es nicht, sie wären tote Worte. Um der Lebendigkeit willen lese ich Gedichte! Die Worte, gleich wie sie gesetzt sind, sprechen mit mir. Bin ich als Empfänger gut eingestellt, habe die richtige Wellenlänge, geschieht sofort etwas in mir, mit mir. Oft genug habe ich gehört, Gedichte müssen für sich, aus sich selbst heraus sprechen. Und doch: manchmal brauche ich Zusatzinformationen.

Simones Scharberts Lyrikdebüt „Erzähl mir vom Atmen“ liefert im Annex drei Kurzbiografien von Frauen, die, wie ich denke, für die Lektüre essentiell sind: Anna Atkins, Alice James und Francesca Woodman.

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Michael Longley: „Gefrorener Regen“

Steinbrech und Katzenpfötchen

Und Gottheil, Tausendgüldenkraut, Gelbe Moorlilie, Binsengras, Teufelshütchen, Schwarzdorn, Wollgras, Flachs, Stechginster, Schlüsselblume, Schöllkraut, Weißdorn, Thymian, Baldrian, Weiderich, Mädesüß, Zweiblatt, Hahnenfuß, Besenheide, Engelwurz, Ruprechtskraut, Majoran, Kuhpeterlein, Sonnentau, Saatwicke, Weiße Silberwurz, Salbei-Gamander, Kuckuckslichtnelke, Sternmiere, Gotteshand, Liebfrauenstroh, Winde, Zarter Gauchheil, Efeu, Hagedorn, Holzapfel, Enzian, Echtes Labkraut, Schlehe, Wacholderbeere, Zittergras, Strandnelke, Augentrost, Wilder Wein, Kastanien,  Klatschmohn, Kornblumen, Esche, Giftiger Goldregen, Parnassia, Meerfenchellilie.

Unter jeder dieser 53 Pflanzenarten, die in den Gedichten Michael Longleys ( * 1939) präsent sind, liegen etwa 10 Tote im Alter zwischen 0 und 19 Jahren, die zwischen 1969 und 1998 im Nordirlandkonflikt, irisch: Na Trioblóidí, englisch: The Troubles, gewaltsam zu Tode kamen.

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Juan Gelman: „Leidland – País del dolor“

Tinte, die kein Leid schreibt

Das Werk des Dichters Juan Gelman (1930-2014) wurde mit allen wichtigen Literaturpreisen der spanischsprachigen Welt ausgezeichnet. Es umfasst 31 Lyrikbände und kann, folgt man den Betreibern der Webseite des Schriftstellers, in drei Schaffensphasen aufgeteilt werden; Einleitung: Utopie und Revolution (1956-1973) | Exil: Unterbrechungen und Erinnerung (1980-1994) | Ein glühendes Handwerk (1997-2014). Zu jeder dieser Phasen liegt mir ein Band in deutscher Übersetzung vor: So arbeitet die Hoffnung. Lyrik des argentinischen Widerstands in der Übertragung von Wolfgang Heuer und Miquel Salí von 1978 (Oberbaumverlag Berlin), Kom/positionen & Darunter, übertragen von Juana und Tobias Burghardt aus dem Jahr 2013 (Edition Delta, Stuttgart) sowie das zu besprechende Leidland, für das Walter Eckel, Direktor des Heidelberg Centers Lateinamerika, für Übertragung und Einführung in Leben und Poesie des Argentiniers verantwortlich zeichnet.

Leid ist der Schlüsselbegriff dieser Gedichtauswahl aus dem Spätwerk Gelmans. Es verdichtet sich in den beiden Zeilen:

Cuando el dolor se parece a un país
se parece a mi país.

Wenn das Leid einem Land gleicht,
dann gleicht es meinem Land.
(aus: „País“ – „Land“)

Ohne dass Gelman das Wort benutzt, ist es folgerichtig, aus diesen beiden Zeilen das Titelwort zu bilden: Leidland. Die Übersetzung ist dabei nicht zwangsläufig. Im Deutschen gibt es feine Unterschiede zwischen Schmerz und Leid, die spanische Sprache bietet für Schmerz el dolor, für Leid el sufrimiento an. Ist der Schmerz eher ein akutes Ereignis, wird es im chronischen Zustand zum Leid.

Si el dolor es físico y de alma
el sufrimiento, díganme
cómo se distribuye la pasión
del cuerpalma […]

Wenn der Schmerz körperlich ist und seelisch
das Leiden, sagt mir,
wie sich die Leidenschaft
der Körpseele verteilt […]
(aus: „Distribuciones“ – „Verteilungen“)

Aber diese Finessen spielen keine Rolle angesichts der Verschleppung und Ermordung von Gelmans Sohn Marcelo und seiner schwangeren Schwiegertochter María im Jahr 1976. Die Gefolterten und die Angehörigen der Desaparecidos, der Verschwundenen, sind lebenslang durch unendliches Leid gezeichnet.

Im Bereich der Sprache sind mir in Eckels Übertragungen einige Alliterationen aufgefallen, die sich im Original nicht abbilden.

[…]
En el tajo de sus corrientes extrañas.

[…]
Im Schnitt seiner seltsamen Strömungen.
(aus: „El tajo“ – „Der Schnitt“)

Keine Frage: Leidland ist ein kraftvoller Titel. Land des Schmerzes fiele dagegen weit ab.

Es gibt, wie ich denke, einen weiteren Grund, Leidland der Gedichtauswahl voranzustellen. Zu finden ist dieses Wort in Rilkes Duineser Elegien. Rilke versteht Leidland als Zwischenraum zwischen Leben und Tod, ein Raum der Trauerkultur. Er schreibt:

Doch der Tote muß fort, und schweigend bringt ihn die ältere
Klage bis an die Talschlucht,
wo es schimmert im Mondschein:
die Quelle der Freude. In Ehrfurcht
nennt sie sie, sagt: – Bei den Menschen
ist sie ein tragender Strom. –Stehn am Fuß des Gebirgs.
Und da umarmt sie ihn, weinend.
(aus: Rainer Maria Rilke „Die zehnte Elegie“)

Mir scheint, Rilke Klagelied stimmt überein mit der Ansprache des totlebendigen Vaters an seinen lebendigtoten Sohn.

Du bist also zurück.
Als ob nichts geschehen wäre.
Als ob das Konzentrationslager, nein.
Als ob seit 23 Jahren,
in denen ich dich nicht gehört und gesehen habe.
[…]
Du wirst jetzt nie mehr aufhören aufzuhören.
Wieder und wieder kommst du zurück,
und ich muss dir erklären, dass du tot bist.
(aus: „Wiederkünfte“)

Es ist ein Frage, die auch Eckel umtreibt: Wie kann ein Mensch solches Leid aushalten, ohne daran zu zerbrechen? Im Kapitel Leid, Liebe und die Poesie zitiert Eckel in seinen einleitenden Worten Gelman.

Keine von der Natur oder vom Menschen verursachte Katastrophe hat jemals den Faden der Poesie durchtrennen können.
(aus: „Rede zur Verleihung des Juan-Rulfo-Preises,“ 2000)

Eckel schreibt weiter:

Doch haben nicht alle, die über das Schreiben die „Erinnerungswunde“ zu schließen suchten, stellvertretend seien hier Primo Levi und Paul Celan genannt, ihr Leben auf natürliche Weise beenden können.

Wenn hier über Shoah oder Khurbn gesprochen wird, so wird der Bezug von Gelman, dessen Eltern ukrainische Einwanderer jüdischen Glaubens waren, durch einen historischen Vergleich (nicht: Gleichsetzung) hergestellt.

[…]
Gräber im Wasser geschaufelt, Paul Celan. […]
(aus: „Land“)

Eckel kommentiert:

Wenn auch das religiöse Motiv und die industrielle Perfektion der Vernichtungsmaschinerie in Argentinien im Vergleich zu Deutschland nicht vorhanden waren, so standen die argentinischen Folterzentren ihren deutschen Vorbildern in Grausamkeit und Perversion in nichts nach.

Der Akt des Schreibens, des Dichtens ist das, was Gelman davor rettet zu zerbrechen. Graben ist hierfür weit mehr als eine Naturmetapher. Wenn man Gelmans Suche nach seiner zwangsadoptierten Enkelin María Macarena und die Aufklärung der Verbrechen an seiner Familie nimmt, ist das Graben in der Geschichte, deren Oberfläche durch Amnestie und Amnesie versiegelt wurde, ein konkreter Akt, einer, der mit der Verurteilung des Staates Uruguay durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica am 24. Februar 2011 Rechtsgeschichte schrieb.

Der kahle Baum, auf dem zwei Vögel sitzen, die Einbandgestaltung von Jürgen Kostka, steht für den Dichter und seine Poesie. Auf der Rückseite trägt der Baum neue Blätter, Hoffnung auf eine neue Zeit mit

[…] Tinte,
die kein Leid schreibt
(aus: „Wetten“)

Es mag banal klingen: Durch die Kraft der Liebe wird diese Hoffnung in die Welt getragen. Mara La Madrid, Psychotherapeutin aus Buenos Aires, wird Gelmans große Stütze beim Graben unterhalb des Vergessens und später seine zweite Frau. In einem ihr gewidmeten Gedicht ist für immer festgehalten:

Deine Luft ist die Sonne, die ich habe
und die gestern im Heute schreibt.
Die Reise besteht darin,
Himmel zu bauen, die von Dauer sind.
(aus: „Von Dauer“)

 

Matthew Sweeney: „Hund und Mond“

Cabáiste dearg – Blue Cabbage

Matthew Sweeney, 1952 im irischen County Donegal geboren, hat für seine Poesie den Begriff des alternative Realism geprägt. In Deutschland wurde dieser sich von Surrealismus und magischem Realismus absetzende Ausdruck mit Sweeneys Aufenthalten in Deutschland und spätestens mit der ersten Übersetzung ins Deutsche von Jan Wagner („Rosa Milch“, Berlin-Verlag, Berlin 2008) bekannt und findet nun wieder, mit der zweiten zweisprachigen Ausgabe von Sweeneys Poesie, Anwendung.

So schreibt die Darmstädter Jury in der Begründung für die Auszeichnung Buch des Monats im Oktober 2017 für Hund und Mond (Übersetzung: Jan Wagner, Hanser-Verlag, Berlin 2017) :

„Seine Texte seien ‚alternativer Realismus‘, sagt der 65jährige irische Lyriker Matthew Sweeney über seine fantastischen neuen Erzählgedichte. […]“

Unabhängig davon, ob dieser vom Autor eingesetzte Begriff trägt, lese ich mit Verwunderung, dass die Jury sagt, was der Autor vorsagt. Die Tendenz zur Verschlagwortung, zur Verschubladung im Buchmarkt macht auch vor der Kritik nicht Halt, verstellt die Details einer Poetologie, die nicht durch Schlüsselbegriffe, sondern nur durch das Werk belegt werden können.

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Ragnar Helgi Ólafsson: „Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“

Auf der gerade zu Ende gegangenen Frankfurter Buchmesse 2017 hatte ich die Gelegenheit und das Vergnügen, einer Lesung von Wolfgang Schiffer zu lauschen, der als (Mit-)Übersetzer das Lyrikdebüt des isländischen Schriftstellers, Künstlers, Grafik-Designers und Filmemachers Ragnar Helgi Ólafsson, 1971 in Reykjavík geboren,  in der Lyrikbuchhandlung präsentierte.

Das Buch ist, wiewohl es gerade erst im Herbst erschien, bereits überraschend oft wahrgenommen worden, es gibt eine Besprechung im Signaturen-Magazin und auf Blogs. Unverständlich hingegen, dass es bei der Präsentation der Icelandic Publishers Association in Halle 5.0 nicht ausgestellt war und in einem Gespräch darauf verwiesen wurde, das Buch sei von 2015. Ja, das Original, nicht aber die Übersetzung von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer! Welchen Sinn macht es, wenn das Ergebnis der durch ein Translation Grant geförderten Arbeit nicht auf einer internationalen Buchmesse zu sehen ist?

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Jerome Rothenberg: „Khurbn“

where the warm flux inside the corpse
changes to stone

Erst war langes Schweigen. Zur Scham gesellte sich Verdrängung, schließlich Gedächtnisverlust.

1979 trat in mein damals 14 Jahre altes Leben das Wort Holocaust. Es kam als Titel des US-amerikanischen Vierteilers „Die Geschichte der Familie Weiss“, klopfte an in unserem Wohnzimmer und bat über den Fernseher Einlass. Gegen den Widerstand meines Vaters wurde dieses Wort in unsere wie in unzählig weitere deutsche Familien gebracht und setzte sich fest.

Sehr viel später erst, schon im 21. Jahrhundert, trat das Wort Shoah hinzu. Wenn meine Erinnerung nicht trügt, war Claude Lanzmanns 540 Minuten dauernder Film auf mehreren VHS-Videokassetten.

Nun also: Khurbn. Ein drittes Wort für den Grund des langen Schweigens. Ein Schweigen, das sich mit einem deutschen Wort nicht füllen lässt, es sei denn, man verwendet den verbrecherischen Euphemismus Endlösung, nutzt die Lingua Tertii Imperii.

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John Burnside: „Ashland & Vine“

Meine Sorte Wildfang

In der Biografie der US-amerikanischen Dramatikerin und Menschenrechtsaktivistin Lorraine Hansberry (1930–1965) finden sich Motive, die John Burnside in seinem neuen Roman episch ausbreitet, um einen Abschnitt amerikanischer Geschichte des 20. Jahrhunderts ins Bewusstsein zu rufen, wie es seine Figur Laurits, ein Filmemacher mit europäischen Wurzeln, tut.

Laurits schüttelte den Kopf. „Kannst du nachlesen“, sagte er. „Steht in den Geschichtsbüchern.“ Er gab sich ernst, doch war ihm anzumerken, dass es sich um eines seiner Lieblingsthemen handelte, eines, von dem er wusste, dass es Huey ärgern würde. „Ihr Amerikaner kennt eure eigene Geschichte nicht …“

Hansberry starb kurz vor meiner Geburt. Und ihr Name trat erst mit Raoul Pecks Dokumentarfilm I Am Not Your Negro (2017) über den mit Hansberry befreundeten Schriftsteller James Baldwin in mein Leben.

Hansberrys Eltern engagierten sich gegen die Rassentrennung. Burnsides Figur Jean Culver, die der jungen Studentin Kate ihre Familiengeschichte über Wochen erzählt, verliert 1935 in Alabama ihren Vater, der sich als Anwalt gegen die Rassentrennung einsetzt. der als Anwalt Politik, Geschäft und Gerechtigkeit unter einen Hut bringen will. Ein beauftragter Mord. An einer Straßenkreuzung.

Hansberrys Eltern engagierten sich gegen die Rassentrennung. Burnsides Figur Jean Culver, die der jungen Studentin Kate ihre Familiengeschichte über Wochen erzählt, verliert 1935 in Alabama ihren Vater, der als Anwalt Politik, Geschäft und Gerechtigkeit unter einen Hut bringen will. Ein beauftragter Mord. An einer Straßenkreuzung.

… Ecke Ashland und Vine. Ashland und Vine, Ashland und Vine, Ashland und Vine. Unablässig höre ich im Kopf den Singsang dieser Worte. Wie ein Fluch.

Hansberry protestiert gegen die Hinrichtung von Ethel und Julius Rosenberg im Juni 1953. Deren Vergehen: Rüstungsspionage für die Sowjetunion. Burnside lässt Jeans Bruder Jeremy, der Augenzeuge des Mords an seinem Vater war, nach dem Krieg zum Spion werden, dem alle Mittel zur Verfügung stehen, um gegen den Kommunismus zu kämpfen. Es ist Jeremys privater Feldzug, den Mann aufzuspüren, der den Kommunisten entscheidende Details zum Atombombenprogramm verraten hat. Er findet Yonas Sax in England. Die Figur ist angelehnt an Theodore (Ted) Hall, dessen Spionagetätigkeit erst 1995 aufgedeckt und dessen Verrat als schwerwiegender eingestuft wird, als jener des Ehepaars Rosenberg. Burnside war mit Hall freundschaftlich verbunden, wie er in der Danksagung schreibt. Die Begegnung zwischen Jeremy und Sax wird Jeremys Leben, seine Überzeugungen, seine Loyalität über den Haufen werfen.

Sax nickte. „Also warum sind Sie gekommen, Mr …?“
Jeremy schüttelte den Kopf. „Ich versuche nur, die Wahrheit herauszufinden.“
„ Die Wahrheit?“ Sax schien leicht amüsiert, machte sich aber nicht über ihn lustig. Eher hatte er Mitleid mit ihm. „Darf ich Sie fragen, wie Sie damit vorankommen?“

Hansberry war verheiratet, aber homosexuell. Das Thema der sexuellen Selbstbestimmung wird bei Burnside durch Jean aufgegriffen, die ihre einzige Liebe Lee an einen Mann verliert, an das alleingültige heterosexuelle Verständnis von Ehe, beinah hätte ich geschrieben: der fünfziger Jahre. Es ist gut so, dass die Fünfziger mit dem Beginn des Oktobers 2017 in Deutschland beendet sind.

Wildfang – selbst heute noch ist mir die Etymologie unklar. Damals aber lautete die eigentliche Frage, was das für mich bedeutete. Hatte mich geprägt, wie die Leute mich sahen? Wie sie mich nannten? Oder hatten sie eine gewisse Eigenheit gespürt, die schon immer da gewesen war, jetzt aber an die Oberfläche gelangte? Denn ehrlich gesagt, bis ich Lee kennenlernte, hatte ich keine Ahnung gehabt, dass ich anders war. Ich fühlte mich nur nicht zu Männern hingezogen, kannte aber auch keine Männer, die ich sonderlich attraktiv fand, weshalb ich glaubte, mehr hätte es damit nicht auf sich.

Wildfang, ein mir bislang unbekanntes Wort, entspricht in etwa dem von Burnside benutzten Wort Tomboy (Zur Diskussion über diesen Begriff vergleiche: FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Nr. 33 (2002). Ich erinnere mich an eine Erzählung meiner Mutter. Kurz vor der Heirat machten meine Eltern einen Hotelurlaub auf einer Mittelmeerinsel. Bei der Miss-Wahl am Abend schmuggelte sich mein Vater in Frauenkleidung unter die Siegesaspirantinnen. War mein Vater tomgirlish? Und was sagt das über seine Ehe aus und seine Homosexualität?

Naheliegend, warum Burnsides Lügen über meinen Vater für mich ein sehr wichtiges Buch ist: Die Frage der Selbstinszenierung des Vaters, die Suche des Sohnes. Wer kann schon von sich behaupten, auf dieser Suche nach Wahrheit vorangekommen zu sein?

Burnside bleibt sich treu, er schreibt über Trauer und gewaltige, gewalttätige Eruptionen, die die Welt und sogar Amerika erschüttern. Da wird Laurits niedergestochen, er verblutet im Dunkel einer einsamen Straße, während Kate versucht, Hilfe zu holen. Es ist ein sinnloser Tod. Wie es zu viele gibt. Jeremy war nicht nur Zeuge des Mords an seinem Vater, im Zweiten Weltkrieg kann er als amerikanischer Soldat mit französischen Widerstandskämpfern ein Massaker der SS nicht verhindern. Der Ort wird nicht genannt, das Wort Oradour-sur-Glane flackert in mir auf, aber wie viele weitere Orte hat es gegeben? Jeremys Sohn Simon kämpft in Vietnam, bevor er desertiert. Am Ende wird er seine Tante Jean besuchen und mit Kate, die Jean am Lebensende pflegt, sprechen.

„Mordlust“, sagte er dann auf Deutsch. Wissen Sie, was Mordlust ist? Ein spezifischer Ausdruck, ein Fachbegriff. Man könnte ihn mit bloodlust übersetzen, aber das klingt so gewöhnlich – manchmal braucht man ein Wort aus einer anderen Sprache, um der Sache die nötige Schwere zu verleihen.
M? Lai war keine Ausnahme. Wir wissen heute mehr, aber wir wissen längst nicht alles, und das werden wir auch nie.

Jeremys Tochter Jennifer bleibt verborgen. Sie unterstützt die Ziele der Weathermen, einer revolutionären Organisation kommunistischer Männer und Frauen, die sich nach der kaltblütigen Ermordung Fred Hamptons, eines Aktivisten der Black Panther Party, am 4. Dezember 1969 vom amerikanischen Studentenbund SDS abspaltet und für mehrere Bombenattentate verantwortlich ist. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten führt sie das Leben einer Staatsfeindin im Untergrund.

Zu Jeans Begräbnis liest Simon einige Zeilen aus einem Gedicht von Ted Berrigan.

„Mein Land ist ein gutes Land …“

Das klingt wie eine Beschwörungsformel, über die sich die Trauer wie ein Bleimantel legt.

 

 

Vicente Valero: „Die Fremden“

Die abgewandte Seite der Familie

Vicente Valero, 1963 auf Ibiza geboren, hat 2014 ein Buch über „fremde Verwandte“ veröffentlicht. Herausgekommen ist, nun in deutscher Übersetzung von Peter Kultzen vorliegend, ein im Umfang schmales, doch bedeutendes Stück Prosa, das als Romandebüt beworben wird, vom Autor selbst als Bericht verstanden werden will. Formal mag er, wie der Klappentext nahelegt, an W.G. Sebalds Die Ausgewanderten erinnern, vier Biografien, die skizziert werden, doch sowohl vom Umfang (Sebald: 354 Seiten, Valero: 128 Seiten) als auch von der Vorgehensweise erscheint mir der Vergleich nicht ganz stimmig. Sebald zeichnet das Leben jüdischer Männer nach, sicherlich mit einer auch von Valero genutzten Mischung aus Fakten und Mutmaßungen, die ermöglichen, ein Bild, eine Würdigung, eine Erinnerungsschrift entstehen zu lassen. Valero jedoch wendet sich durch seinen Ich-Erzähler der eigenen Familie zu. Diese Zuwendung erinnert mich an ein Werk ähnlich dichten Umfangs, das ich als ein großes Stück Literatur einer Vater-Sohn-Suche kennengelernt habe, das den Autor, wie Valero auch, auf einen Friedhof führt. Ich spreche von Peter Härtlings Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung von 1982. Doch wenden wir uns von Analogien ab und Valeros Werk zu.

Keine Biografie, mag sie noch so kurz sein, ist frei von Labyrinthen – wer sie betritt, läuft Gefahr, nie mehr herauszufinden. (Trotzdem blühen in diesen dunklen und unübersichtlichen Regionen fast immer die schönsten endemischen Pflanzen, Unikate, wie wir sie uns als Wissenschaftler oder Sammler nur erträumen können.)

Ausgangspunkt für Valeros Recherche über diejenigen Familienmitglieder, die (fast) nie erwähnt wurden, die in Vergessenheit gerieten, ist der Nullpunkt, das Jetzt. Da ist ein Schriftsteller in seinem Haus, umgeben von einer kleinen Anzahl von Erinnerungsstücken und Reliquien, ein goldenes Kreuz, ein kleines Klappschach, einige handgeschriebene Briefe und Postkarten, wenige Fotos.

Seinerzeit habe ich nicht alle Fragen gestellt, die ich hätte stellen sollen, und jetzt ist niemand mehr da, den ich fragen könnte, alle sind tot, und ich bin der Einzige […]

Das sind Sätze, die wir alle kennen. Auch wir haben sie schon gesprochen, vielleicht niedergeschrieben. Jeder von uns weiß um gelüftete und geheim gebliebene Familienbegebenheiten. Deswegen nimmt Valeros Arbeit uns sofort in Beschlag, vom ersten, langen Satz an.

Ob der Mann, dem es nie vergönnt war, zu hören, dass ihn jemand Großvater nannte, ja nicht einmal Vater – obwohl er Großvater und somit auch Vater war –, schlanke, knochige Hände und große, dunkle Augenbrauen hatte wie ich, oder wie ich in der Jugend häufig von Lippenbläschen gequält wurde, habe ich nicht herausfinden können, ist doch bis heute nicht ein Foto des Leutnants Marí Juan aufgetaucht – kein Familienalbum, keine Kommodenschublade, und sei das Möbel noch so alt, kein Stapel von Porträts Unbekannter, wie sie sich mit der Zeit und auf welchem Wege auch immer in jedem Haushalt ansammeln, hatte etwas Derartiges aufzuweisen.

Bei der Lektüre dieser so sorgfältig, ernsthaft und aufrichtig geführten Arbeit schwingen stets unsere Fremden mit. So kommt es mit Valeros fremden Verwandten zu einer Hinwendung zur eigenen Biografie, ein Nachdenken, ein Innehalten, und dort, wo wir die Geheimnisse noch nicht kennen, vielleicht zu einem Zweifel an der Glattheit der Oberfläche.

Wer aber waren die, die ihre Familien in Ibiza verließen? Ich möchte zwei von ihnen vorstellen.

Pedro Marí Juan, Großvater mütterlicherseits, wird im Jahr 1900 als zweitgeborener Sohn einer Bauernfamilie geboren. Der Tradition entsprechend kann er dem Militär oder der Kirche übergeben werden. Doch der Vater hat einen anderen Plan und will ihn zum Anwalt ausbilden lassen.

Dass Pedro Marí Juan kein Anwalt wurde, wissen wir, aber was können wir über den Schüler sagen, der das ganze lange und strenge pädagogische Ritual seiner Kindheit und Jugend absolvierte, sich anschließend aber nicht im Glanz seiner Beredsamkeit sonnen wollte, wozu er eigentlich bestimmt schien, sondern den Glanz der militärischen Uniform vorzog, an den er womöglich auch auf wesentlich weniger beschwerlichem Weg hätte gelangen können?

Mit vielleicht sieben Jahren der familiären Geborgenheit entrissen, lernt das Kind im Internat schnell die Heimat und die damit verbundene Entinselung zu verdrängen. Die Jahre vergehen, er wächst zum Mann heran und lernt ein Weiteres: Schwieriger als die Insel zu verlassen, ist nur, dorthin zurückzukehren. Kurze Besuche verstärken die Entfremdung, trotz der Bewunderung der Geschwister, dem Segen der Eltern. Trotz der Liebe zu Nieves, seiner späteren Frau. Er folgt dem Ruf des Militärs, harrt geduldig aus, in einem trostlosen und feindseligen Ort: Kap Juby. Krank kehrt er zurück.

Die kleine junge Familie, die er im Jahr davor gegründet hatte, zog mit ihm ins elterliche Haus im Mornatal, wo sich von da an auch sein Vater, seine Mutter und die Schwestern um ihn kümmerten, die noch nicht verheiratet waren und folglich zu Hause lebten. Viel geholfen hat ihre Fürsorge jedoch nicht, oder vielleicht nur als Trost, denn der Sohn, Bruder, Gatte und inzwischen auch Vater sollte gerade einmal zwei Wochen nach seiner Rückkehr, im Fieber delirierend und Blut spuckend, sterben.

Ramón Chico, Großonkel väterlicherseits, war republikanischer Offizier, als mit dem Militärputsch im Juli 1936 ein Kampf auf Leben und Tod beginnt. Der Franquismus ist übermächtig und es bleibt nur die Flucht nach Frankreich.

Nachdem mein Großonkel bei Port Bou die Grenze überquert hatte, wurde er in das am sogenannten Nordstrand gelegene Lager Argelès-sur-Mer gebracht, eins der ersten Flüchtlingslager, die die französischen Behörden in dieser Gegend eingerichtet hatten. Schon zu diesem Zeitpunkt hatten Tramontana, Kälte, Hunger und alle möglichen Krankheiten den Ort in einen Schauplatz des Grauens und des Todes verwandelt.

Chico kommt aber schließlich ins Département Tarn-et-Garonne, wo er bis zu seinem Tod lebt und bis zuletzt das Ende der Franco-Diktatur und und die Rückkehr in die Heimat herbeisehnt. Er stirbt 1970 im Alter von 79 Jahren.

Das Grab von Major Chico, samt allem, was darin von ihm noch erhalten sein mag, gehört jetzt mir, so besagen es eindeutig die von der Gemeinde Lisle-sur-Tarn abgestempelten Papiere, mit denen ich das Rathaus verlasse – wenigstens für die nächsten vierzig Jahre besitze ich also ein Stück Land im Südwesten Frankreichs, ein ziemlich kleines Stück Land, natürlich, und dennoch gehört es zweifellos zu unserer Zeit wie auch, soweit ich sehe, immer noch zu unserer Welt.

Valero rekonstruiert in einem Verfahren, das ich nur unzureichend benennen kann, das mich aber staunen lässt, nicht nur einen Teil seiner Familiengeschichte, sondern auch einen Teil vergangener europäischer Geschichte, die, soviel ist sicher, immer noch zu unserer Gegenwart von politischer Willkür und Flucht gehört. Es ist die Sprache, die vielfältige Möglichkeiten zulässt und Abbild-Alternativen einer Wirklichkeit schafft. Nicht in der Gewissheit, sondern in der Unwissenheit entstehen exakt durchdachte Bilder: Zweifelsfrei schön. Zweifelsfrei fremd.