Wolfgang Allinger | Ute Kliewer: „Zeit zieht nicht. Erzähl mir von Darjeeling“

Lepcha lernen

Lepcha ist eine von ca. 7000 Sprachen, die momentan auf der Erde gesprochen werden. Noch, muss man sagen, denn ernst zu nehmende Schätzungen gehen davon aus, dass zum Ende dieses Jahrhunderts mehr als die Hälfte ausgestorben sein wird.

Auch Lepcha, das in Teilen Indiens (Sikkim, Darjeeling), Nepals und Bhutans gesprochen wird, ist eine gefährdete Sprache. In Gangtok befindet sich das Sikkim’s Endangered Language Documentation Project (SELDP) an der School of Languages and Literature, Sikkim University. Von dort kam mit der großzügigen Unterstützung von Nim Tshering Lepcha (Übersetzer), Pabitra Chettri (Technische Assistentin, SELDP) und Samar Sinha (Leiter, SELDP) ein Satz in Lepcha zu mir.

Er lautet: sonapre kursuksa miŋtʰjuŋ ɡum

Es ist eine Transkription, auf eine Fassung in Lepcha-Skript hoffe ich noch. Ich bin kein Linguist, also warum interessiert mich das?

Seit vier Jahren jage ich für ein Projekt der Künstlerin Vera Röhm mit Tausenden von Emailanfragen den entlegensten Sprachen unseres Planeten hinterher.

Dabei trete ich in Kontakt mit Professor*innen, die seit Jahrzehnten an einer Sprache forschen, aber auch Student*innen, die noch ganz am Anfang ihres Studiums sind und doch vielleicht bald die einzigen Expert*innen für die jeweilige Sprache sein werden.

Was motiviert Menschen, fremde, gefährdete Sprachen zu studieren?

Für Paul, eine der beiden deutschen Protagonisten der Reiseerzählung Zeit zieht nicht von Wolfgang Allinger und Ute Kliewer ist die Frage leicht zu beantworten.

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Elke Barker: „Und zwischen uns das Meer“. Edition Darmstädter Textwerkstatt Band 1

Deine leise eindringende Stimme

Als sich am Ende des Buches immer mehr Schnee auftürmt, habe ich es begriffen: Die 24 Erzählungen von Elke Barker (* 1969), die in dem Band Und zwischen uns das Meer versammelt sind, sind lose nach Jahreszeiten gruppiert. Es gibt entgegen meines subjektiven Eindrucks also mehrere Jahreszeiten in dem Buch.

Dabei möchte ich doch gerne behaupten, dass der Sommer die überragende Rolle in Barkers Geschichten spielt. Es ist, um eine Hörbuch-Produktion von Peter Kurzeck zu zitieren: Ein Sommer, der bleibt.

Oder vielleicht mehr noch ist es eine Anhäufung von heißen Tagen, die unweigerlich an die Sommer von Zsuzsa Bánk in ihren Romanen Die hellen Tage, Der Schwimmer oder Sterben im Sommer denken lassen. Der Erzählband Bánks trägt den Titel Heißester Sommer.

Dass mit Kurzeck und Bánk zwei Namen aufgerufen werden, in deren Obhut man sich als Leser*in begeben kann, mit der Sicherheit, dort gut aufgehoben zu sein, dort gut versorgt zu werden und für die Dauer der Lektüre einen sicheren Ort zu haben, ist kein willkürliches Namedropping. Auch bei Elke Barker ist man in guten Händen. Sie erzählt einfühlsam und berührend.

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Dinçer Güçyeter: „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“

An: script@elifverlag.de
Betreff: Nachtfalter

Es ist Nacht. Und es ist Deutschland. Wer könnte darüber Klügeres sagen als König Rio I.?
Oh, es ist ein schönes Land …
… bei Nacht …

Und was ließe sich Sinnfälligeres über deine Existenz sagen als
Nachtfalter werden alle Vertreter der Schmetterlinge bezeichnet, die nicht zu den Tagfaltern gehören?
Punkt. Fertig. So einfach ist es nämlich.

Wenn du aber solcher Sprache, solchen Definitionen misstraust, dann bleibt dir nur, an deine Handschrift zu glauben. Du hast keine andere Wahl. Sie wird dir ein Vademecum sein, das nicht verschwindet, selbst wenn es im Ofen verbrannt wird.

… und nicht mal dann!

Du musst durch die Erinnerungen hindurchschreiten, das Fruchtwasser wie eine verbrauchte Flüssigkeit auskippen und dich deiner Hölle stellen, mein Prinz.

Aber was sage ich dir: Du hast es ja bereits getan. Deine Gedichte sind dir, sie sind wunderbar. Deine Gedichte sind du. Und das ist gut so.

Albert (= der das Alphabet eröffnet)

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Griotte | Anny Grondin: „A la source des filles-des-eaux“

Gespräch mit Johary Ravaloson und Sophie Bazin

 

An der Quelle der Wassermädchen

Bevor ich auf das oben gezeigte Buch, das Ergebnis einer erneuten Zusammenarbeit der beiden Frauen Griotte und Anny Grondin zu sprechen kommen, möchte ich entgegen meiner Gewohnheit einige Bemerkungen zum Verlag machen.

Die Editions Dodo Vole ist Teil des Einladungsprogramms der Frankfurter Buchmesse 2021. Sie hat ihren Sitz in Antananarivo, Madagaskar und in Caen, Normandie, Frankreich. Am Stand traf ich den madegassichen Schriftsteller Johary Ravaloson (* 1965), der gemeinsam mit seiner Frau, der Künstlerin Sophie Bazin (* 1968) 2006 die Editions Dodo Vole gründete.
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Elif Shafak: „Unerhörte Stimmen“

10 Minuten 38 Sekunden in dieser sonderbaren Welt

Elif Shafaks Roman, 2019 erschienen, übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger, ist das Werk einer Meisterin.

Wie sie den Tod und das Leben ihrer Protagonistin erzählt (und das Weiterleben ihrer fünf Freund*innen), erinnert mich an zwei Bücher, die auf meiner ewigen Bestenlisten sehr weit oben stehen:

Die drei Tode des Jochen Wasserbrüller von Jorge Amado und
Das Ministerium des äußersten Glücks von Arundhati Roy.

Bei Amado das Motiv des doppelten Todes: der des ehrhaften Mannes im Kreise seiner Familie mit einer feierlichen und würdigen Bestattung, der des Lebemanns und Säufers im Milieu der Prostituierten, Spieler und Zechkumpanen. Seine Freunde nehmen den Leichnam mit zu einer letzten, chaotischen Feier, eine Segeltörn, wenn ich recht erinnere, die tödlich, wie sonst?, endet.

Bei Roy das Motiv der Trans*Menschen, die ihre Identität nicht in einem binären System finden können und ihre Existenz auf einem Friedhof, am Rand der Gesellschaft fristen.

Roys Widmung Für die Ungetrösteten könnte auch bei Shafak stehen.
Sie aber hat sich für folgende Widmung entschieden:

Für die Frauen Istanbuls
und für die Stadt Istanbul,
die eine weibliche Stadt ist
und immer war

Der Originaltitel 10 Minutes 38 Seconds in this Strange World wurde für die deutsche Ausgabe leider nicht beibehalten.

Es wäre im Zusammenhang mit der Geschichte Tequila Leilas, der ermorderten Prostituierten, die bereits im Alter von sechs Jahren von ihrem Onkel sexuell belästigt und missbraucht wurde, eine Gelegenheit gewesen, über die Nuancen der Bedeutung für strange nachzudenken und eine der folgenden Übersetzungsmöglichkeiten zu wählen:

eigenartig, merkwürdig, seltsam,  kurios, befremdlich.

Ich habe mich, wegen der Nähe zu wunderbar, für sonderbar entschieden. Denn trotz allen Leids, sind die Unerhörten Stimmen ein Chor, der das Leben feiert.

Edem Awumey: „Die schmutzigen Füße“

Papaoutai

Es wäre vermessen zu erzählen, bei meiner Fahrt vor wenigen Tagen durch Paris (aus der Basse Normandie kommend) wäre auf der Boulevard périphérique ein Taxi vor mir, von links oder rechts ist unerheblich, eingeschert, während zeitgleich im Radio der französischsprachige Hit aus dem Jahr 2013 von Stromae lief.

Wahrscheinlich war es weiter Richtung Osten, Richtung Deutschland, Richtung Heimat, zwischen Reims und Metz. Ich hatte jedenfalls auf den Song gewartet. Irgendwann musste er ja in diesem Urlaub laufen, auch wenn er schon nicht mehr ganz aktuell ist.

Es ist der beste Song, der meine Vatersuche in französische Sprache kleidet. Er hat etwas Dringendes, das ich spüren konnte, ohne mir bislang des genauen Wortlautes oder der dahinterstehenden Biografie des belgischen Musikers Paul Van Haver | Stromae gewahr zu werden.

Einen Song zum Soundtrack eines Buches zu machen, ist wagemutig. Zumal diese Entscheidung innerhalb der ersten Kapitel fiel und das Buch erst einige Stunden danach, spät am Abend, gelesen, mit ebenso wohliger Zufriedenheit als auch reichlicher Irritation, zur Seite gelegt wurde.

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Dato Turaschwili: „Das andere Amsterdam“

Abschweifungen

Mit Das andere Amsterdam liegt der zuletzt erschienene Roman des georgischen Schriftstellers Dato (David) Turaschwili (* 1966) in deutscher Übersetzung von Katja Wolters vor.

Das Original სხვა ამსტერდამი (transkribiert: skhva amst’erdami) erschien 2014, dem Jahr des Todes von Amiran (Pako) Swimonischwili, von dem Turaschwili schreibt:

An dem Tag, als man in Tiflis Pako Svimonishvili beerdigte, ging ich in Amsterdam das Hotel suchen, in dem David Jaschwili (Jaschka) gestorben ist.

Ich kann der Spur Turaschwilis nicht folgen, seiner Suche, die letzten Endes eine Suche nach den Gründen seiner Reise in die Niederlande ist:

Warum ich überhaupt nach Amsterdam gekommen war, darüber dachte ich auch den ganzen Tag nach und erwog sogar, daß ich mir alles nur ausgedacht hätte: das Amsterdamer Abenteuer meines Großvaters, die auf der holländischen Insel lebende Georgierin, die mir E-Mails schreibt.

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Asmus Trautsch: „Caird“

1 – Im moralischen Eismeer

Der Band Caird, Gedichte von Asmus Trautsch, Illustrationen von Rebecca Michaelis, war bereits für Frühjahr 2016 angekündigt. Ging man beim Verlagshaus Berlin zunächst von einer Verschiebung um wenige Monate aus, hieß es später, der Band werde auf unbestimmte Zeit verschoben, möglicherweise erscheine er erst 2018.

Nun ist Caird erschienen und ich kann meine Zusage, diesen Band zu besprechen, einlösen. Doch eine Rezension für Fixpoetry wird es nicht sein, wie bekannt, hat Julietta Fix den Betrieb ihrer Plattform zu Beginn des Jahres 2021 eingestellt. Insofern bin ich an kein Wort mehr gebunden und habe die Freiheit, mich in unbezahlter Arbeit so ausführlich oder so kurz, wie ich möchte, zu diesem Band zu äußern.

Was unterscheidet Caird des Jahres 2016 von Caird des Jahres 2021? Das kann letztlich nur der Autor selbst wissen und die wenigen Leute, die das Skript in seiner Fassung von vor fünf Jahren kannten.

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Linda Vilhjálmsdóttir: „das kleingedruckte“

skömm | scham

Im Band smáa letrið  | das kleingedruckte der isländischen Lyrikerin Linda Vilhjálmsdóttir (*1958 in Reykjavík) geht es schamlos und schamvoll zu.

Der Gedichtzyklus erschien 2018 in Island und wurde nun, als zweite Übersetzung der Autorin nach frelsi | freiheit (2018), vom Übersetzerduo Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer ins Deutsche übertragen und im Elif Verlag zweisprachig veröffentlicht. Es handelt sich bei der unten zitierten Eröffnung des Gedichts um eine Auftragsarbeit, die von der Schauspielerin Sigrún Edda Björnsdóttir am 17. Juni 2018 vor dem Parlamentsgebäude zum Nationalfeiertag in der Tracht der Bergfrau (fjallkonan) vorgetragen wurde. Die weiteren Teile sind davon unabhängig entstanden. Der Verkaufserfolg des Buches wurde sicher durch die öffentliche Präsentation sehr gesteigert.

In seiner Besprechung zu Amanda Gormans The Hill We Climb | Den Hügel hinauf schreibt Rezensent Arno Widmann in Bezug auf ihre Auftragsarbeit zur Amtseinführung des US-Präsidenten Joe Biden am 20. Januar 2021:

Dichtung hat gerne den Herrschenden ihr Lied gesungen. Nur ganz selten mal den Marsch geblasen.
(aus: Frankfurter Rundschau vom 31.03.21)

Mit Blick auf Vilhjálmsdóttirs Text kann festgestellt werden:  In Island wurde 2018 der Marsch geblasen, und wie!

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John Glenday: „The Firth“

Meeresarm

Es mag an der Fließrichtung des Wassers liegen, denke ich, ob es sich an jenen Stellen, wo sich Süßwasser mit Salzwasser vermischt, um einen Meeresarm oder eine Flussmündung handelt.

Nutze ich Meeresarm eher, wenn die Flut ins Land greift, das Süßwasser Richtung Quelle drängt, und bin ich bereit, von Flussmündung zu sprechen, wenn die Ebbe Untiefen im Mündungsbereich offen legt, also die Arbeit des Flusses, seinen Sedimenttransport belegt?

Im Englischen wird für beide Begriffe das Wort estuary verwendet. In schottischen Wörterbücher findet sich:

FIRTH, n.1 Also firt (Ork.), furth. An arm of the sea, often constituted by the broad estuary of a river
[https://dsl.ac.uk/entry/snd/firth_n1]

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Jan Koneffke: „Die Tsantsa-Memoiren“

Tato (alias … ) als Chronist

In dem neuen Roman von Jan Koneffke (* 1960 in Darmstadt) überblickt ein personaler Erzähler die Zeit von ca. 1780 bis in die Jetztzeit. Wie das? Ist er unsterblich? Oder wird hier versucht, eine auktoriale Erzählweise (eine gottgemäße Perspektive) in eine Person hineinzumogeln?

Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten, denn sie berührt unmittelbar den Kern dessen, was dieser Roman thematisiert.

Koneffke schummelt nicht. Er stellt uns keine auktorialen Erzähler zur Verfügung, sondern einen personalen. Aber handelt es sich beim Erzähler um eine Person? Und wenn, wie kann sie über einen so langen Zeitabschnitt aus eigener Erfahrung, eigener Anschauen berichten?

Nicht alle werden den Titel des Romans auf Anhieb verstehen, denn das Wort Tsantsa kommt aus der kleinen JívaroSprachfamilie, die in Peru und Ecuador gesprochen wird, und bezeichnet Schrumpfköpfe (oder Englisch: shrunken heads). Koneffkes Erzähler ist also bereits gestorben,  ist ein nach den Regeln indigener Völker präpariertes Ding (?) aus menschlichen Überresten.

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Margaret Atwood: „Der Report der Magd“

Welcome to Gilead

Als in Polen vor wenigen Tagen die Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechtes begannen, sah ich in den Nachrichten, wie eine Demonstratin ein Schild mit den Worten Welcome to Gilead hochhielt.

Wer nicht versteht, was diese Begrüßungsformel meint, dem sei Margaret Atwoods Roman Der Report der Magd (deutsch von Helga Pfetsch) zur Lektüre oder zur erneuten Lektüre dringend anempfohlen.

Diese Zukunftsvision aus dem Jahr 1985 (deutsche Ausgabe: 1987) greift auf, das hat Atwood in einem Interview für den virtuellen Gastlandauftritt Kanadas zur Frankfurter Buchmesse 2020 deutlich gemacht, was in der Gesellschaft schon vorhanden ist. Insofern sind Atwoods Texte keine Anti-Utopien oder Dystopien, sondern eine erweitere Beschreibung der Gegenwart.

Über Gilead lässt die Autorin am Ende des Romans einen Universitätsprofessor bei der Internationalen Tagung der Vereinigung der Historiker am 25. Juni 2195 rückblickend sagen:

Wie ich schon an anderer Stelle sagte, gab es nur wenig, was seinem Ursprung oder seiner Herkunft nach mit Gilead verbunden war: Gileads Begabung war die Synthese.

[…] und das Regime von Gilead war nicht das einzige, das damals darauf [Rückgang der Geburtenrate] reagierte. Rumänien, zum Beispiel, war Gilead bereits in den achtziger Jahren zuvorgekommen, in dem es alle Formen der Geburtenkontrolle verbot.

Polens Verbot von Abtreibung bei diagnostizierter Fehlbildung des Fötus galt (gilt! – diese Stück Literatur ist zeitlos gültig) auch in Atwoods totalitärem Staat Gilead.