Edem Awumey: „Nächtliche Erklärungen“

Rare Zwischenräume

Der 1975 in Lomé (Togo) geborene Schriftsteller Edem Awumey erhält durch den Übersetzer und Verleger Stefan Weidle seinen ersten Auftritt auf dem deutschen Buchmarkt. Der Autor lebt in der Nähe von Ottawa. Explication de la nuit (deutsch: Nächtliche Erklärungen) ist bereits sein vierter Roman und sollte den Auftritt Kanadas auf der Frankfurter Buchmesse 2020 bereichern. COVID-19 und eine abgelehnte Übersetzungsförderung durch das Canada Council for the Arts brachten die Pläne des Verlegers durcheinander. Nichtsdestotrotz, das Buch liegt vor und wird sich auch ohne die Unterstützung des Ehrengastes seinen Weg von Togo nach Kanada, von Kanada nach Deutschland und in die Welt bahnen, mächtig genug sind die Werkzeuge des Erzählers, roh, unmittelbar und doch auch zärtlich zugleich die Sprache, die er anwendet, um seine Geschichte zu erzählen.

Ito Baraka und seine Freunde Beno, Wali und Sika sind junge Studenten in Lomé, die von einer besseren Zukunft träumen und – da träumen unter dem vergreisenden Diktator nicht erlaubt ist: die Partei, die antiimperialistische Revolution, ER steht für die bessere Zukunft – ihre Zuflucht in der Literatur suchen. Samuel Becketts Werk gibt Stichworte vor.

Wir dachten noch über dieses Vierpersonenstück nach, als Wali in der Unibibliothek einen Beckett auslieh, den wir noch nicht gelesen hatten, Endspiel. Und da uns der Zufall manchmal in die Hände spielt, bestand das Personenverzeichnis aus drei Männern und einer Frau. Das waren wir, wir selbst steckten in derselben lähmenden Scheiße wie Becketts Geschöpfe […]

In der schwärzesten Scheiße saßen wir, weshalb das ganze Volk singen und tanzen mußte, wenn das Land einen hochrangigen Gast willkommen hieß, irgendwelche Mandatsträger, einen Monarchen oder Despoten in Uniform mit Schokoladenorden, das Volk im Ehrenspalier vom Flughafen bis zum Präsidentenpalast: Schüler, Beamte, Lehrer, Neugeborene auf dem Rücken ihrer jungen Mütter, die nichts von dem lustigen Spektakel verpassen wollten, Medizinmänner und sämtliche Stadtheilige, die wild gestikulierten und das Liedchen ewigen tropischen Glücks schmetterten […]

Die Freunde proben Endspiel am Strand, doch als einer krank wird, kommen sie auf die Idee, Sätze aus dem Stück als Flugblätter drucken zu lassen und in Lomé zu verteilen. Was als leichtfüßige, subversive Aktion beginnt, wird in den Unruhen der Jahre 1990/1991 zu einer tödlichen Gefahr. Menschen sterben im Kugelhagel oder verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Leichen werden vom Meer angeschwemmt. Awumey schont uns nicht, spart Folter und Mord nicht aus. Er lässt seine Figur Ito an einer Stelle sagen:

Ich muß nicht beschreiben, welch tierisches Geschrei sich erhob, das ohrenbetäubende Brüllen der Geschlagenen, deren Haut aufriß und deren Fleisch sich unter den Hieben in Fetzen ablöste.

Ito ist in Haft und den Häschern des Systems ausgeliefert. Die Freundschaft zu Koli Lem, dem Alten, der seiner Sehkraft beraubt wurde, lässt Ito die Zeit im Gefängnis überstehen. Er liest dem Blinden Bücher der Weltliteratur vor, sie reden darüber, der Alte nimmt den Jungen in die Pflicht, später über alles zu schreiben.

Als Ito aus der Haft kommt und mit Glück seiner Erschießung entrinnen kann, kehrt er zunächst nach Lomé zu seinen Eltern zurück, beginnt zu schreiben und nimmt ein Jahr später eine Einladung zu einem Stipendiumsaufenthalt in Kanada an.

Ito ist auf dem Weg zurück von Québec nach Hull in der Nähe von Ottawa. Er weiß, dass es keine Zeit mehr hat. Er wird sterben, die Leukämie frisst sich in seinen Körper, der ohnehin vom Alkohol geschwächt ist. Dennoch schreibt er, muss seine Geschichte fertigschreiben, muss Koli Lem gerecht werden, auch wenn er längst weiß, dass er sich nicht zum Flugmenschen, von denen Koli ihm berichtet hatte, eignet, sondern eine lichtscheuen Ratte geworden ist. Itos Freundin Kimi Blue ist drogensüchtig, zusammen suchen sie Momente des Glücks, die ihnen von ihren Geschichten zugestanden werden.

Kimi Blue stammte aus dem Indianerreservat von Kitigan Zibi Anishinabeg in der Nähe vom Maniwaki nördlich von Ottawa. Nach dem Tod ihres Vaters, der sich eines Tages am einzigen Baum im Hinterhof ihres Hauses erhängt hatte, mußte sie einige Jahre allein für ihre geisteskranke Mutter sorgen, die obendrein verfaulte Lungen hatte und als Folge eines Verkehrsunfalls und eines ausschweifenden Lebens an den Rollstuhl gefesselt war. Kimi arbeitete dort in einem Lebensmittelgeschäft und machte nach der Arbeit noch einen Abstecher zur Hütte eines Typen, der sie und ihre Mutter mit Zigaretten, Alkohol und Kokain versorgte.

Kimi will die Hoffnung nicht aufgeben, die Hoffnung von den Drogen wegzukommen, die Hoffnung, mit Ito eine Zukunft zu haben. Sie bestellt den Krankenwagen. Doch ihr Freund will nichts davon wissen.

Nein. Wir fahren nicht ins Krankenhaus. Wir gehen schlafen und spielen uns vor, es wäre eine ganz normale Nacht. Und wie schon seit drei Monaten werde ich meinen Kopf zwischen deinen Brüsten vergraben, ein debiler alter Sack, der sich trotz allem noch ans Leben klammert.

 

Gespräch mit dem Übersetzer Stefan Weidle auf Faustkultur.

Leopold Federmair: „Die lange Nacht der Illusion“

Das Leuchten der Ränder

Man kann sich nicht lange der Illusion hingeben, das Leuchten an den Rändern unserer Welt, das stets auch bedeutet: an den Rändern unserer Sprache(n), unseres verbalen Ausdrucksvermögens, sei ein Licht am Ende einer anhaltenden Dunkelheit. Was uns Leopold Federmair, mittlerweile seit 17 Jahren in Japan lebend, in seinem neuen Roman vorführt, ist eine Erstarrung, ein Verlöschen, ein Scheitern – und ein Trotzdem. Mit Die lange Nacht der Illusion schließt der Österreicher nach Tokyo Fragmente (2018) und Schönheit und Schmerz (2019) seine Japan-Trilogie ab.

Es geht um ein aufgebrochenes Dreieck zwischen Mutter, Vater und Tochter. Oder nein, besser: um die der Stabilität der Familie verlustig gewordenen Hauptpersonen Yuuki, Theo und Yoko.

Sie hatte ihren Mann nie „Vater“ genannt, wie es so viele japanische Ehefrauen taten, sobald ein Kind da war (auch in Geschäften, auf Ämtern, im Krankenhaus wurde man so angesprochen). Die Einzelperson war identisch mit der Rolle, die sie spielte.

Dies sind Sätze mit universellem Inhalt. Sie belegen, dass Ränder überall sind. Findet diese Nichttrennung von Person und Rolle nicht auch flächendeckend in Europa und sonst auf der Welt statt? Und führt dieses Verschleifen nicht früher oder später zu einem Identitätsverlust? Das sind Fragen, die in der Familie bleiben dürfen, um dort ihre Antwort zu finden.

Ja, man kann sagen, Federmairs Roman ist eine „kleine Japan-Kunde“, wie es Sebastian Fasthuber formuliert hat, aber er geht noch sehr viel tiefer in den Bereich zwischenmenschlicher Nicht-Kommunikation, die per se immer nur an den Rändern geschieht. Wir alle leben auf einer schmalen Kruste Zivilisation und vergessen, wie sehr es im Innern (unseres Planeten) brodelt. Und schaffen dann doch (trotzdem!) eine kühne und kühle Analyse, die Worte setzt, wo Leerstellen sich eingenistet haben.

Die Beziehung zwischen uns, Yuuki und mir, ist mit der Zeit immer feiner geworden, ein jedesmal zerbrechlicheres, reineres Gespinst aus Zeit. Und dann wieder gröber, mag sein, es gab Brüche und Abbrüche, so wie jetzt, plötzlich, ohne Übergang, keine Brücke, nicht einmal eine Furt.

Yuuki trennt sich von Theo, als Yoko in der sechsten Klasse ist. Sie verlässt Tokio und die Familie. Theo erinnert sich:

Plötzlich, ohne Vorankündigung, während der Ferien. Ein Kollege in der Zweigstelle ihrer Firma in Nagasaki, kaum älter als sie, zuständig für International Consulting, war einem Herzinfarkt erlegen, angeblich konnte nur Yukki ihn so kurzfristig ersetzen. Für sechs Monate, hatte es geheißen, bis ein Ortsansässiger eingeschult wäre, aber bald war von einem Jahr die Rede gewesen.

Federmair baut den Roman in zwei Teilen (Okarina und Kinkakuji) auf und ergänzt eine Einleitung (Affektenlehre) und einen kurzen Schlusstext (Kein Traum). Er macht sich Gedanken über das Erzählen und sucht nach neuen Formen der Romanstruktur. Als Instanz Autor wird Federmair erkennbar, wenn er schreibt:

Kaum eine Erzählung echter („echter“) Ereignisse läßt sich mit exakt der selben Anzahl von Worten bewältigen, die eine andere beansprucht; nicht einmal zwei Versionen ein und desselben Ereignisses sind in der Regel gleich lang, ganz zu schweigen von unterschiedlichen Rhythmen, Pausen, Akzentuierungen. Mehr noch, es fragt sich, ob zwei Ereignisse überhaupt gleichzeitig geschehen können. […] Blieb immer noch die Frage, wer beginnen würde, wie bei einem Gesellschaftsspiel, etwa: Der Jüngste zuerst. Oder nach der alten Regel des Gentlemans: Ladies first! Ich oder du, im Grunde genommen ist es egal.

Zunächst folgen wir Yuuki nach Nagasaki. Das Kapitel Okarina baut eine durch Einsamkeit und Entfremdung bedrohliche Kulisse auf, die sich in einer Extremwetterlage mit Starkregen, Überflutungen und schließlich einem Erdrutsch Bahn bricht und dabei alles, was an Ordnung und Sicherheit gültig war (hierfür die Metapher des violetten Müllsacks, dessen Inhalt nicht fachgerecht entsorgt wird), mit sich reißt.

Unschwer, sich dieses Katastrophenszenario vorzustellen, haben wir doch noch die Bilder des Tsunamis vom 11. März 2011 in unseren europäischen Köpfen. Doch wer in Japan lebt, braucht nicht so weit zurückgreifen, Murenabgänge und Hochwasser kommen immer wieder (öfter?) vor. Federmair dürfte hier den Bergrutsch vom Juli 2018 verarbeitet haben, als im Westen Japans und seinem Wohnort Hiroshima über hundert Menschen starben. Oder aber jenen vom August 2014 mit Dutzenden Toten.

Sturzbäche suchten sich Wege, Bette entstanden im Nu, Seitenarme flohen in den unversehrten Wald, vereinzelt kollerten Steine, schwarze Schollen rührten sich dumpf wie Rücken gewaltiger Schlangen. Die Mulde vor der Straße, am Fuß der Böschung, war jetzt, im lidlosen Traum, ein See. Und dann, im nächsten, wie letzten Augenblick, lag alles still, das Grollen war verklungen, nur das viel leisere, fast schon zarte Rauschen des Regens erfüllte den für immer – Jahrzehnte oder Jahrhunderte – veränderten Raum: die Traumlandschaft einer Mure […]

In der Szene, als Yuuki im obersten Stockwerk des Hochhauses der Künstlerin begegnet, die nachts die Okarina spielt, liegt ein besonderer Zauber mit ebenso viel Irritation wie Hoffnung. Yuuki, die Einzelgängerin, begegnet Menschen, Individuen, die nicht in der Uniformität der japanischen Gesellschaft aufgehen. Da passt jemand nicht ins System – und das ist gut so! Das nächtliche Okarinaspiel ist eine gelungene Interpretation einer Szene aus dem Animefilm Mein Freund Totoro, in der Totoro auf der Baumkrone thront, die Okarina spielt und eine kindlich-naive Hoffnung schenkt: Trotz alledem, alles wird gut!

Kurz nach der Katastrophe telefonieren Yuuki und Theo. Ist die Entfernung, die Entfremdung groß, so sind doch beide froh, einander zu hören, das wohl bekannte Schweigen des anderen zu hören, ein Lebenszeichen, wertvoll im Angesichts des Todes: ein Leuchten der Ränder!

Theos Perspektive, die im Kapitel Kinkakuji ausgebreitet wird, ist mit Yuukis nicht deckungsgleich. Kann es nicht sein. Der verlassene Ehemann, der sich um seine inzwischen in der Pubertät befindlichen Tochter kümmert, er hätte sich Raum nehmen können für eine lange Klage, ein Lamento auf die Ungerechtigkeit der Welt. Er tut es nicht. Er nimmt sich zurück. Der Fokus ist auf der Gegenwart, in der Theo sich seines viel tiefer gehenden Scheiterns am Leben, das sich in den kleinen Dingen zeigt, gewahr wird. Zum Beispiel am Erlernen der Schriftzeichen:

So viele Zeichen mußten draußenbleiben, sie schafften den Eintritt nicht, gewannen kein Bleiberecht. Bei seiner Tochter hingegen, das bemerkte er nicht nur im Hinblick auf die Landessprache, sondern auch beim Erkennen und Behalten von Details auf Bildern und in Filmen oder beim Anhören und Bewahren von Melodien und Liedtexten, genügte ein ein- oder zweimaliges Hören, Sehen oder Schreiben, damit sie, wahrscheinlich für alle Zeiten, ins Gedächtnis Aufnahme fanden.

Mit dem Wort Bleiberecht ruft Federmair eine Diskussion um Migration auf. Ist es nicht eine legitime Forderung, dass die, die zu uns kommen und bleiben wollen, unsere Sprache erlernen, sich an unsere Regeln halten? Der wachsame Nachbar hat einen Hinweis an den violetten Müllsack angebracht, nach ein paar Tagen wird der Bemerkung mehrsprachig, vielleicht, nein: bestimmt ist der Malefikant ein Ausländer!

Was passiert jedoch, wenn trotz guten Willens nicht gelingt, in Sprache und Kultur tief genug einzutauchen?

Sein Wunsch, diese Sprache zu erlernen, und nicht nur die gesprochene Sprache, sondern auch die Schrift, mit der sie festgehalten wird, dieser Wunsch war erwacht, als er den bekanntesten der Romane Yukio Mishimas in einer alten, längst vergriffenen deutschen Übersetzung las. Oder genauer, als er das Buch mit der holperigen Übersetzung und dem Fünfzigerjahre-Cover, das den Schattenriß eines Tempels mit Rot und Gelb drumherum zeigte, weglegte, weil er es nicht mehr länger ertrug, die Eleganz von Mishimas Sätzen, die er zu ahnen glaubte, mit solch groben deutschen Füßen getreten zu sehen.

Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Ein Yoko mitgegebenes Informationsschreiben der Schule kann Theo nicht lesen, deren Zeichen nicht entziffern, nicht richtig deuten. Die Tochter muss ihm den Text vorlesen. Hier zeigt sich, was es heißt, müde vom Leben zu sein: Ein Prozess des Welkens, während die Tochter aufblüht und ihre Kraft, ihre Duftmarken verströmt. Manchmal sagt sie ihrem Vater, er sei dumm. Halb, um ihn zu necken, halb, um ihn zu verletzen, in einem Ablösungsprozess, in dem Väter alt werden.

An irgendeinem Punkt, der ihm entgangen war und den er auch im Rückblick nicht genau zu bestimmen vermochte, hatte sich alles geändert. Die Geschichte – seine Geschichte – war gekippt. Einmal, als er seiner in Zorn geratenen Tochter schweigend zuhörte, sah er dieses Kippen deutlich vor sich: ein Bunker im Sand der Atlantikküste. Der Betonklotz verwandelte sich, während die zornige Stimme lauter wurde, in ein riesiges, viel zu großes, behäbiges Tier, das langsam zur Seite fiel und dann schicksalsergeben im Staub lag, es würde sich nie mehr erheben.

Federmair findet Worte für Prozesse innerhalb der Familie, die uns allzu oft verletzt zurücklassen, kraftlos, ratlos. Dass er seiner Figur Theo nahe ist und dabei eine Sprachkraft entwickelt, die Distanz schafft, Selbstbeobachtung ohne Anflug von Larmoyanz ermöglicht, die Leere in unaufgeregter und präziser Weise füllt, das ist Sprachkunst.

Übersetzen kann man nur trotzdem. Trotz was? („Wotrotz“?) Leben kann man nur trotzdem. […] Worte machen inmitten einer Unzahl von Wörtern. Indem er bis zum letzten Atemzug seine wachsende Tumbheit bekämpfte, bekämpfte und umhegte, würde der Roman vom Goldenen Tempel aus den verbrannten Wörtern noch einmal, das erste Mal, entstehen.

Am Ende erweist sich das Leuchten doch als reines Licht einer hinter sich gelassenen Dunkelheit.

José F. A. Oliver & Mikael Vogel: „zum Bleiben, wie zum Wandern – Hölderlin, theurer Freund“

Otaheiti

Die Südsee-Insel Tahiti wurde von deutschen Dichtern Ende des 18. Jahrhunderts / Anfang des 19. Jahrhunderts als Asyl erträumt. Dafür verantwortlich war Johann Georg Adam Forster, der an der zweiten Weltumseglung James Cooks von 1772 bis 1775 teilnahm und als erster Vertreter einer wissenschaftlichen Reiseliteratur in Deutschland gilt. Exotik und revolutionärer Freiheitsdrang waren wohl entscheidende Motive derer, die über Emigration nachdachten, um die Verkrustung des politischen Systems in den deutschen Staaten abzuschütteln.

Forster, der dem Mainzer Jakobinerclub angehört hatte, starb 1794 in Paris.

1802 reiste Friedrich Hölderlin, Quellen zufolge zum größten Teil zu Fuß, durch Frankreich, sein Ziel: Bordeaux. Mehrere gescheiterte Anläufe, eine gesicherte Existenz durch eine längerfristige Anstellung als Hofmeister, Hauslehrer aufzubauen, hinter sich, beabsichtigte er zu emigrieren. Er schrieb:

Ich bin jetzt voll Abschieds. Ich habe lange nicht geweint. Aber es hat mich bittre Tränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jetzt zu verlassen, vielleicht auf immer. Denn was hab ich Lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen. Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnot nach Otaheiti triebe.

Hölderlins Herzensnot war vier Jahre nach der Trennung von Susette Gontard, seiner Diotima, immer noch eine klaffende Wunde.

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Andreas Neeser: „Wie wir gehen“

Tektonik

Der neue Roman Wie wir gehen des Schweizer Schriftstellers Andreas Neeser ist die Bestandsaufnahme eines Lebens. Insofern könnte der Titel auch Wo wir stehen lauten, aber Mona hat sich entschlossen, auf ihren Vater Johannes zuzugehen, wenngleich das ein schwieriger Weg ist. Was verbindet Vater und Tochter, was trennt sie? Am Ende findet sie ein passendes Bild:

Anhand der Unterrichtsnotizen hat sie [Monas Tochter Noëlle, E. G.] mir von den Kontinenten erzählt, die sich unter der Erdoberfläche bewegen. Platten der Erdkruste, die auf dem Erdmantel aufliegen und darauf „herumspazieren“. […] Wir zwei Kontinentchen, du und dich, wir spazieren auf dem Mantel, der unseren gemeinsamen Kern umhüllt. Es zieht die beiden zugleich zueinander hin und voneinander weg. Ein ständiges schmerzhaftes Ziehen und Zerren auf dem Boden der Tatsachen.

Neeser leuchtet die Nicht-Beziehung von Vater und Tochter behutsam aus. Er zerrt sie nicht ans Tageslicht, sucht nicht wortreich, was ohnehin vorgeführt wird, sondern agiert wie ein Beleuchter im Theater, setzt klug in Szene. Manches bleibt im Dunkeln. Neeser überlässt es der Leserin, dem Leser, diese Lücken zu schließen und versetzt so sein Lesepublikum in die gleiche Lage, in der sich auch die beiden Hauptfiguren befinden: Leerstellen und Nullspannen, die auszufüllen sind.

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Adam Zagajewski: „Unsichtbare Hand“

Rozmawiac o ciemnosci w takim jasnym cieniu
Über das Dunkel sprechen in so hellem Schatten

Der Poesie wohnt die Kraft des Trostes inne. Sie ist geeignet, Menschen, die sich im Dunkel der Tage, und damit meine ich bei Weitem nicht nur die Zeit vor Weihnachten, verlieren, aufzurichten und ihnen Hoffnung zu geben. Sie konkurriert somit unweigerlich mit Religion, die ebensolche Angebote versendet.

Ich bin als Katholik ein Anfänger,
der versucht, Gut und Böse zu trennen,
aber nicht weiß, wie sie sich unterscheiden,
vor allem in der Morgen- und Abenddämmerung, wenn
das Licht einen langen Augenblick zögert.
(aus: Erstkommunion)

Adam Zagajewski zu lesen, seine Lyrik mit den Augen (oder bei Lesungen mit den Ohren) aufzunehmen, ist ein großes Geschenk, das uns der 1945 in Lemberg geborene Dichter reicht.

Poesie ist der Königsweg,
der uns am weitesten führt.
(aus: Poesie ist die Suche nach Glanz)

Für den Band Unsichtbare Hand  (2012) wählte der Autor Gedichte aus seinen drei Bänden Powrót (2003), Anteny (2005) und Niewidzialna ręka (2009) aus. Aus dem Polnischen übertrug  Renate Schmidgall in eine einfühlsame und liquide Sprache, flüssig und werthaltig. 2009 wurde Schmidgall mit dem Karl-Dedecius-Preis (für ihre Übersetzungen polnischer Literatur ins Deutsche) ausgezeichnet.

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Leopold Federmair: „Schönheit und Schmerz“

Gespräch mit Leopold Federmair auf Faustkultur.

Schönheit und Schmerz
Annäherung an Leopold Federmair

Essay

Ich spüre die Unmöglichkeit, dieses Buch zu besprechen, ihm mein (wer bin ich?) Werturteil aufzudrücken. Es geht nicht um Daumen hoch oder runter, ich bin nicht in der Arena, weder Zuschauer, der brav sein Brot frisst, noch Herrscher, der sein Machtspiel treibt. Schönheit und Schmerz von Leopold Federmair macht etwas mit mir, darüber will ich schreibend sprechen.

Könnte ich dann nicht auch eine Rezension schreiben? Ist es nicht so, dass jedes Buch etwas mit der Leserin, dem Leser macht und dass sie alles Recht der Welt haben, diese Leseerfahrung zum Maßstab einer Kritik zu machen? Spielt es eine Rolle, was der Autor sagen will oder kommt es nur darauf an, was ankommt? Entsteht Literatur erst im Auditorium, mit der Leserschaft?

Um nicht nur Fragen zu stellen, gebe ich auf die letzte Frage ein Nein zu Protokoll. Literatur entsteht im Schreiben, unabhängig von der Anzahl und Bewertung der Leserinnen und Leser, daran glaube ich, muss ich glauben, sonst wäre ich kein Schreibend-Suchender.

Weshalb die Flucht ins Essay? Weil es mehr Raum zum Scheitern gibt oder weil ich unverfrorener über mich sprechen kann?

Noch weiß ich es nicht, habe jedoch die Vorahnung, dass sich ein Satz bilden wird, der da lautet:

ICH – SCHREIBE – GEGEN – DEN – TOD

Plötzlich schlägt Unbekümmertheit in Versehrtheit um, ein Unfall, eine Krankheit. Es trifft mich nicht allein. Es geschieht ständig, überall. Und schreiben wir, schreiben wir also immer gegen den Tod. Wollen ihm Leben abtrotzen oder zumindest den Zurückbleibenden ein Vermächtnis hinterlassen.

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Christa Morgenrath, Eva Wernecke (Hg.): „Imagine Africa 2060“

Schmetterlingseffekt

Die Zeiten sind lang vorbei, in denen es uns egal sein konnte, ob in China ein Sack Reis umfällt. Politische Aussagen von vor etwas mehr als 10 Jahren erscheinen uns bereits aus einer anderen Epoche, nennen wir sie im metaphorischen Sinne, ob der Hartnäckigkeit der Ignoranz, steinzeitlich.

Frage: Bleibt die heimische Braunkohle…
Antwort: Wer hier nun fordert, zur Rettung des Weltklimas aus der Braunkohle auszusteigen, der sollte sich die Welt aber auch mal anschauen, wie sie ist. Allein die Chinesen bauen beispielsweise jedes Jahr zwei Milliarden Tonnen Kohle ab und eröffnen alle ein bis zwei Wochen ein neues Kohlekraftwerk – ohne auf Umweltschutztechnik einen besonderen Wert zu legen! Deshalb sage ich zugespitzt: Ob wir in Brandenburg unsere beiden Kraftwerke Jänschwalde und Schwarze Pumpe schließen, hat auf das Weltklima ungefähr soviel Auswirkungen, als ob in China ein Sack Reis umfällt.
(aus: Interview mit dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck am 12.05.2008 für Super-Illu)

Die Welt, wie sie ist, in Augenschein zu nehmen, bedarf vieler Perspektiven. Christa Morgenrath und Eva Wernecke haben als Herausgeberinnen des Buches Image Africa 2060. Geschichten zur Zukunft eines Kontinents zehn Perspektiven zusammengetragen, die einen Ausblick auf die Zukunft Afrikas und der Welt wagen.

Es bedarf keiner vertieften Kenntnis der Chaostheorie, in der der Flügelschlag eines Schmetterlings in Zusammenhang gesetzt wird mit gewaltigen Wetterphänomenen, um zu verstehen, was den Protagonisten Makomborero umtreibt.

Er dreht sich auf seinem Stuhl nach rechts und nahm Nikkei, Mumbai Sensex und Hang Seng in den Blick. Geschäftsschluss war gestern. Heutzutage war davon längst keine Rede mehr. Heute galt 24/7, Handel rund um die Uhr. Schön anzuschauen, grüne und rote Pfeile, alles mit allen verbunden. Schmetterlingseffekt. Der Schnupfen, den all kriegen, wenn Peking niest.
(aus: Data Farming von Tendai Huchu)

Die Beiträge von Ellen Banda-Aaku (Sambia), Ken Bugul (Senegal), Aya Cissoko (Mali), Youssouf Amine Elalamy (Marokko), Tendai Huchu (Simbabwe), Sonwabiso Ngcowa (Südafrika), Okwiri Oduor (Kenia), Nii Ayikwei Parkes (Ghana) und Chika Unigwe (Nigeria) sind eigens für diesen Band geschrieben, der Text von José Eduardo Agualusa (Angola) ist ein Ausschnitt aus seinem Roman A Vida no Céu.

Die Übersetzungen wurden von Michael Kegler (aus dem Portugiesischen), Jutta Himmelreich (aus dem Englischen) und Gudrun Honke (aus dem Französischen) gefertigt.

So sehr ich den Romanausschnitt genossen habe, und so sehr dieser ein gelungener Einstieg in das Buch ist (mitsamt des Cliffhanger-Endes, der meine Neugier antreibt, den gesamten Roman zu lesen), so ist doch Agualusas Text nicht mit den für dieses Buch geschriebenen Texte vergleichbar, die oftmals auf das Schlüsselwort 2060 fokussieren, während der Roman sich darüber mit der Leichtigkeit eines Luftschiffes hinwegzusetzen kann. Es mag ein hartes Urteil sein, darin eine konzeptionelle Schwäche des Buches ausmachen zu wollen.

Ich heiße Carlos Benjamin Tucano und bin vor sechzehn Jahren in einem Dorf namens Luanda geboren, einem Zusammenschluss von mehr als dreihundert Flößen. Ein ziemlich großes Areal insgesamt. Große Dörfer sind träge und schwierig zu steuern. Ein einzelnes Floß, das zwar langsamer ist als ein Luftschiff, kann sich vor Unwettern in Sicherheit bringen, vor den Wolken davonfahren.
(aus: Als die Welt untergegangen war … von José Eduardo Agualusa)

Die Vielfalt der Perspektiven, die uns hier aus Afrika erreichen, ist großartig. Morgenrath und Wernecke haben einen lesenswerten Band vorgelegt, der in Deutschland, in Europa Gehör finden sollte. Ignoranz können wir uns schon lange nicht mehr leisten.

Die zehn Stimmen sprechen weit weniger als erwartet von einer fernen Zukunft, sondern von uns wohl bekannten Strukturen, die sich trotz aller Innovation und technischer Revolution (Roboter, aus Stammzellen gezüchtete Ersatzorgane) nicht geändert haben werden.

Sie fand es lachhaft, dass er seinen Kinderwunsch ausgerechnet in dem Moment äußerte, in dem ihr das bedeutendste Rennen ihres Lebens bevorstand. Eine Schwangerschaft war ausgeschlossen, sowohl jetzt, als auch während der vier Jahre ihrer Präsidentschaft. Und wahrscheinlich würde sie sich überhaupt nie dafür entscheiden. Versuchte Ejike etwa, ihren Traum zu sabotieren?
(aus: Amara for President von Chika Unigwe)

Mir sind diejenigen Texte näher, die mit erzählerischen Mitteln eine Verbindung der Generationen herstellen und daraus ihr Bildnis der Zukunft entwerfen.

Wir scheißen alle und vergessen das nie, hat dir Gogo, die Mutter deiner Mutter erzählt, als du neun warst.
(aus: Froschaugen von Ellen Banda-Aaku)

Anders als sein Vater, und dessen Vater vor ihm, hatte Makomborero nichts Handfestes herstellen müssen. Allein der Gedanke deprimierte ihn, während er aus den Augenwinkeln rotes Blinken wahrnahm.
(aus: Data Farming von Tendai Huchu)

Mamma,
Was machst du, wenn sie deiner Schwester das Herz geklaut ham, und die Nieren? Und du, du hast die Wahrheit so rausgefunden.
(aus: Die Wahrheit von Sonwabiso Ngcowa)

Die Mama lachte kurz auf. „Kind“, sagte sie, „meine Nabelschur, die Nabelschur meiner Mama und die meiner Großmama, alle haben sie deine Füße hier an diesen Boden, an diese Erde gebunden. […] Das Land wird dich immer wieder hierher zurückrufen. Weißt du das nicht? „
(aus: Heimwärts von Okwiri Oduor)

Wo Erzählung zurückweicht und einem Ton der Behauptung Platz einräumt, schwindet meine Interesse spürbar. Ich möchte Geschichten hören, als Leser nicht hingeworfene Statements fressen müssen.

Die Königinmutter leidet stumm, seit so langer Zeit.
Bis wann?
Sie ist Zeugin all der Misshandlungen gewesen, die die Völker ihres Königsreichs erdulden mussten. Sie hat sich gewehrt, vergeblich. Ihre Ältesten, gehirnmanipuliert auch sie, machen gemeinsame Sache mit der mächtigen Clique, obwohl die ihre Versprechungen niemals einlöst.
(aus: Utopie von Ken Bugul)

Mali war niemals ein armer, sterbender Staat gewesen. Die Übernahme des Landes durch eine gebildete, ehrgeizige, integre und unternehmungsfreudige Jugend war die einzige Möglichkeit, ihm die vollständige Souveränität wiederzugeben.
(aus: Die Rückkehr von Aya Cissoko)

Daran kein Wort falsch, entstehen in mir jedoch bei dieser Art des Schreibens keine Bilder, die in die Tiefe gehen, zurück in die Familiengeschichten, die mich umtreiben. Von denen ich nie genug bekommen werde und in diesem Band reichlich bekam.

 

Ruždija Russo Sejdović: „Der Eremit. Stille und Unruhe eines Rom“

Hundeperspektive

Erleichtert sprang ich aus dem Bus. Ich wusste, wenn ich drinnen geblieben wäre, hätte ich sie allesamt zerschmettert wie Kürbisse. Ich klopfte meinen Regenmantel ab, um den Staub zu beseitigen. Als ich einen Blick hinter mich warf, sah ich neben dem Weg die Hunde, die ich vorhin zum Teufel gejagt hatte. Ihre nassen Zungen hingen heraus, sie hechelten schwer und stierten mich an, als warteten sie nur auf den günstigsten Moment, um sich auf mich zu stürzen und mich zu verschlingen. Ich ging in die Hocke und starrte ihnen in die Augen, wie es die Cowboys tun im wilden Westen. Urplötzlich begann ich, einen Hund anzubellen. Da wurden sie von Furcht gepackt und rannten über die Felder auf und davon, aber ich hinterdrein. Ich rannte und bellte wie ein Verrückter. Noch nie in meinem Leben hatte ich so fröhlich gebellt. Ich fühlte mich frei und glücklich, einmal in die Haut eines Tieres geschlüpft zu sein.
(aus: Jugoslawien und Deutschland)

Das ist eine furiose Szene, die mich unweigerlich an die Sanduhr denken lässt, jenes für mich so wichtige Buch, das mir Trost und Richtung gab, als mein Vater gestorben war, mittlerweile vor 24 Jahren.

Was ist das für ein merkwürdiger Morgen, an dem ich auf einen Schriftsteller zu sprechen kommen möchte, dessen in Mitteleuropa doch eher gelegentlich gedacht wird  – und doch just an diesem Tag finde ich eine  Besprechung seines frühen Werks Psalm 44 im Internet? (Aha: 15. Oktober 2019 war dessen 30. Todestag!)

Was sieht man sonst noch aus der Hundeperspektive?
(aus: Sanduhr von Danilo Kiš )

Der Prosaband Der Eremit. Stille und Unruhe eines Rom von Ruždija Russo Sejdović, 1966 in Kuče (Montenegro) geboren, ist eine Sammlung kurzer Prosatexte, die aus dem Gurbet-Romani, einer Varietät des Vlax-Romani, von Melitta Depner ins Deutsche übersetzt und 2017 veröffentlicht wurde.

Dass sich hierfür kein renommierter deutscher Verlag fand, der Band vielmehr als Eigenpublikation erschien, verrät viel über den Umgang mit Minoritätssprachen und belegt den schlechten Zustand Europas. Frieden und Aussöhnung?

Keineswegs schmälerte es die Qualität der Texte.

Es macht mich wütend, dass bei der Aufnahme von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in den Berufsverband VS immer noch Eigenpublikationen als minderwertig  erachtet werden. Welche Arroganz der Mehrheitssprache, welche Ignoranz gegenüber der Geschichte!
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Ray Lavallee und Judith Silverthorne: „Die Würdigung des Bisons – Eine Legende der Plains Cree“

Vorschau Frankfurter Buchmesse 2020, Ehrengast: Kanada
Vom Rentier zum Bison – Die Überreichung der GastRolle anderer Art

Meinen Besuch bei der Frankfurter Buchmesse 2019 beschloss ich mit Traditional Sámi Joik and Joik Poetry, vorgetragen von Inga Ravna Eira, Biret Riste Sara und Karen Anne Buljo am Sonntagmittag im Ehrengast-Pavillon. Dabei wurde abermals, wie in den Tagen zuvor, über die große Bedeutung der Rentier-Herden für die Sámi gesprochen. Alle Körperteile des Rentiers sind den Sámi von Nutzen.

Das galt auch für ein anderes Säugetier, den Bison, der für den Kultur der Cree in Kanada von überragender Bedeutung war. Einst gab es viele Millionen Bisons, die die weiten Ebenen bevölkerten. (Heute gibt es etwa 20000 wildlebende Bisons.)

Daran erinnert das preisgekrönte Buch Die Würdigung des Bisons. Eine Legende der Plains Cree, das gerade im Verlag MONS in einer bilingualen Fassung erschienen ist. Dass hier die Sprache Plains Cree oder auch Dialekt Y gezeigt und in Beziehung zur deutschen Sprache gesetzt wird, allein das ist bedeutend im Internationalen Jahr der indigenen Sprachen 2019.

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Kim Kyung-Uk: „Was? Leslie Cheung ist tot?“

Schiff der Barbaren

Der Band Was? Leslie Cheung ist tot? versammelt neun Erzählungen des 1971 in Gwanju geborenen koreanischen Schriftstellers Kim Kyung-Uk, der zur Neuen Generation gehört. Er hat mehrere Erzählbände und Romane geschrieben und ist für sein Werk ausgezeichnet worden.

Hyuk-Sook Kim und Manfred Selzer haben für diese erste Veröffentlichung in deutscher Sprache eine repräsentative Auswahl der Erzählungen vorgenommen, um uns mit dem Autor und seinen Themen bekannt zu machen. Diese knüpfen durchaus auch an jene der ebenfalls vom Duo Kim | Selzer übersetzten Eun Hee-Kyung an. Ich denke an Großstadtleben und Einsamkeit. Doch der Sound ist anders als bei der 1959 geborenen Eun. Die Geschichten haben eher eine absurde Note, denn eine traurig-depressive wie bei Eun.
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Andreas Lehmann: „Über Tage“

Plötzliche Stille, so laut

Mit dem Roman Über Tage meldet sich der 1977 in Marburg geborene Andreas Lehmann in der deutschen zeitgenössischen Prosa an. Die Geschichte, die auf weniger als 180 Seiten niedergeschrieben ist, darf man nicht als ein Bewerbungsschreiben ansehen. Was Lehmann hier abliefert, ist ein makelloses Debüt, ein Meisterwerk.  Und es bedarf nicht allzu vieler Worte, es zu würdigen. Der Zauber der Literatur muss vom Rezensenten nicht wortreich durchdekliniert werden.

[Dieses Erstlingswerk zeigt eindrucksvoll, die Schnellrechner haben es längst gecheckt: 2018 – 1977 = 41, wie unsinnig die imaginäre Grenze des deutschen Literaturbetriebs ist, Stichwort: Hausnummer 35. In dieser Logik erscheint Lehmanns Debüt als Spätstart. Solche Etiketten sind vielleicht nützlich, um die schiere Masse eingereichter Skripte auf den Schreibtischen der Verlage zu reduzieren, um Literatur gerecht zu werden, braucht es aber KEINE Begrenzung, die Autorinnen und Autoren aus diskriminierenden Altersgründen von Fördermöglichkeiten ausschließt.]

Joscha Farnbach, Mitte Dreißig, arbeitet in einer Druckerei in Bad Kreuznach. Dort ist er zuständig für den Materialeinkauf. Im Kampf ums Überleben des mittelständischen Betriebs ist er dem Druck seiner Vorgesetzten und Kollegen ausgesetzt, muss aus den Zulieferern das Letzte herauspressen. Schnellere Liefertermine, günstigere Preise, bessere Qualität!
Gleich zu Beginn des Romans wird deutlich, dass Farnbach diesem Druck nicht gewachsen ist. Er taumelt, fällt hin. Ist kurz weggetreten.

„Farnbach, stehen Sie auf!“
Die Worte kamen von oben, aber noch sah er nichts. Er saß unter einer Glocke aus milchigem Glas, durch die Licht und Schall nur mit Mühe drangen. Als er es geschafft hatte, seinen Rücken gegen die Wand zu lehnen, wurde alles um ihn herum ein wenig heller. Aber noch immer war er umstellt von Schemen.
“ Herr Kollege?“
Er erkannte die Stimme, die aus dem Halbdunkel zu ihm sprach. Augenblicklich schoss ihm das Blut zurück in den Kopf. Hatte Huber wirklich nur seinen Namen gesagt, ohne Anrede?

Warum Farnbach dem Druck nicht gewachsen ist, das zeigt Lehmann in Rückblenden, die eine traumatische Pubertät offenbaren. Da das Trauma nicht behandelt wurde, konnte es Farnbach nicht überwinden. Er zeigt auch im Erwachsenenalter noch deutlich depressive Züge. Überlebenswichtig ist, alles zu vermeiden, was ihn an das Trauma erinnert. Seine Vermeidungsstrategie trägt die Überschrift Augsburg. Augsburg ist ihm keine Stadt, sondern ein übermächtiges Instrument, das sein Leben zu verstören droht. Damals wie heute. Immer noch. Immer wieder.

Aus beruflichen Gründen muss Farnbach nach Augsburg, um dort einem Papierhersteller Druck zu machen. Er will entrinnen, doch letzten Endes muss er die Reise antreten und sich seiner Geschichte stellen.

Es wird Mirrer sein, der Angestellte der Papierfabrik, sein beruflicher Kontrahent, ein vermeintlicher Riese, der Farnbach die Verletzlichkeit, die Endlichkeit des Menschen vor Augen führt und einen Grundstein für die Überwindung des Traumas legt.

In nur fünf Worten spiegelt sich die Möglichkeit des Freitods, des Abgangs aus einer Welt, die unerträglich erscheint:

nur ein Schritt, zwei vielleicht,

Farnbach findet in Mirrer die Spiegelung seiner lang zurückliegenden Lebenskrise, seiner Suizidgedanken. Das gibt ihm unerwartet Kraft. Das Leid des Anderen hilft, das eigene Leid zu heilen.

Der Roman ist klug komponiert. Die Szene des Prologs kommt am Ende wieder, doch die Handlung führt nicht in eine Endlosschleife, sondern geht weiter, weist einen Ausweg. In den Rückblenden werden die Geschehnisse nicht ausgewalzt, sprachlich bleibt es oft bei Andeutungen, die wir Lesenden erst einmal, wie der jugendliche Protagonist, verarbeiten müssen. Das ist viel.

Die Ausstattung des Romans (Covergestaltung, Haptik, Papierqualität) ist wie die Geschichte von hoher Qualität. Gedruckt wurde allerdings nicht in Bad Kreuznach, sondern in Ceský Tešín. Dieser Druck endet nicht.

Knut Ødegård: „Die Zeit ist gekommen“

Frankfurter Buchmesse 2019, Ehrengast: Norwegen
Zerstäubte Seelen

Mit Die Zeit ist gekommen in der Übertragung von Åse Birkenheier wird dem deutschen Publikum der zuletzt erschienene Band Tida er inne (2017) des norwegischen Dichters Knut Ødegård zugänglich gemacht. Bis auf einige verstreute Übersetzungen ist dieser Band die Premiere eines in Nordeuropa sehr bekannten und erfolgreichen Dichters, der 1945 in Molde geboren wurde.

Mittlerweile bin ich routiniert genug, eine Rezension so zu schreiben, dass sie die Leistung des Autors und seiner Übersetzerin kritisch und umfänglich würdigt, in Abwägung dieses und jenes Aspekts. Eine Vorgehensweise, die gelingt – und mich in diesem Fall nicht interessiert.

Ich will über den Schock sprechen, den das Gedicht Leukotomie ausgelöst hat.

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