Julia Alvarez: „Die Zeit der Schmetterlinge“

Wer war Juan Bosch?

Anschließend stattete der Präsident uns einen Besuch ab. Er saß in Papás altem Schaukelstuhl, trank eine geeiste limonada und erzählte mir seine Geschichte. Er sagte, er werde eine Menge ändern: Die alten Generäle werde er abservieren, weil an ihren Händen das Bluts der Mirabal-Schwestern klebe; all die Ländereien, die sie sich angeeignet hätten, werde er unter den Armen verteilen lassen; und er wolle dafür sorgen, daß wir auf unser Land stolz sein können und es nicht von imperialistischen yanquis beherrscht werde.

Im Roman Die Zeit der Schmetterlinge aus dem Jahr 1994 der 1950 in der Dominikanischen Republik geborenen Schriftstellerin Julia Alvarez (Übersetzung aus dem Amerikanischen Englisch: Carina von Enzensberg und Hartmut Zahn) kommt Juan Bosch am Ende als Nebenfigur vor.

Bosch steht für den Bruch der über dreißig Jahre andauernden Trujillo-Diktatur, steht für die Hoffnung der Menschen auf bessere Zeiten. Wer Boschs Biografie nachliest, wird lesen, wie diese Hoffnungen innerhalb von Monaten zunichte gemacht wurden, wie die yanquis mit ihrem Geheimdienst und lokalen Eliten tiefgreifenden soziale Änderungen verhinderten, mit ihrer von Antikommunismus gelenkten Sichtweise das Elend der Menschen verlängerten und die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur verhinderten.

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Literaturzeitschrift alba11: Schwerpunkt weibliches Schreiben

Gespräch mit den alba-Redaktionsmitgliedern Laura Haber und Christiane Quandt.

Gib acht, Agda!
Die elfte Ausgabe des Magazins alba.lateinamerika lesen

Mit dem Leitmotiv Aquí estamos. Wir sind da. präsentiert sich die aktuelle Ausgabe der in Berlin herausgegebenen zwei- und stellenweise auch mehrsprachigen Literaturzeitschrift. Ein Blick auf die Namen der Redaktionsmitglieder und der an Übersetzungen und an Illustrationen Beteiligten weist deutlich mehr Frauen als Männer aus, weshalb alba sich folgerichtig, nach mehreren Ausgaben mit verschiedenen Länderschwerpunkten, darunter Chile und Mexiko, nun dem weiblichen Schreiben widmet. Ich widerstehe der Versuchung, Anführungsstriche zu setzen, eine Kategorie zu markieren, eine Schublade.

In ihrem Beitrag Sie sind da blickt Redaktionsmitglied María Ignacia Schulz zurück auf die Anfänge des Magazins.

Vielfalt als Stärke, Heterogenität als höchster Anreiz. Diese Ziele setzte sich die Redaktion im Editorial der ersten Ausgabe von alba.lateinamerika lesen im März 2012. In den sechs Jahren und elf Ausgaben seither war es nicht immer einfach, dem auch gerecht zu werden. Stets war mit diesem Interesse auch das Bemühen verbunden, die literarische Arbeit zeitgenössischer Schriftstellerinnen Lateinamerikas hervorzuheben. Ist dies heutzutage noch notwendig?

Die Frage wird von Christiane Quandt per Interview an die mexikanische Lyrikerin und Performerin Rocío Cerón weitergegeben. Sie antwortet:

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Enrique Winter: „Oben das Meer unten der Himmel“

Sandpapier und Leim, ein Tropfen Wasser

Enrique Winter, chilenischer Dichter mir deutschen und polnischen Wurzeln (* 1982 in Santiago de Chile) reist viel. In Juni 2018 war er zum wiederhoten Mal in Deutschland, nach Einladungen zur Latinale 2012 in Berlin oder als Gast der Sylt Foundation von Indra Wussow 2017, dieses Mal in Köln zur Vorstellung der deutschen Übersetzung seiner Gedichte, die nun endlich erschienen ist. Der Band, der eine Auswahl aus seinen Bänden Atar las naves (2003), Rascacielos (2008) und Guía de despacho (2010) vorstellt, war bereits 2015 bei einem anderen Verlag angekündigt, hat nun aber seinen Platz in der parasitenpresse von Adrian Kasnitz gefunden.

In ihrem Nachwort schreiben Sarah Otter, Johanna Schwering und Léonce W. Lupette, die die Übersetzungen gemeinsam erarbeitet haben, von Winters Performance bei der Latinale, die zur Initialzündung für diese Übersetzungsarbeit wurde. Annähernd sechs Jahre dauerte es, bis das Buch realisiert werden konnte. Welchen Preis müsste dieses Buch haben, um die Ausdauer des Übersetzertrios gerecht zu werden und dem Verleger einen Gewinn in Aussicht zu stellen?

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Clarisse Nicoïdski: „Die Augen Die Hände Der Mund & Wege der Wörter“

hue vida i si fizu boca | es war Leben und wurde Mund

Clarisse Nicoïdski (1938-1996) war eine französische Schriftstellerin, die ihre Romane und ihre kunstkritischen Schriften auf Französisch verfasste. Ihre Muttersprache war jedoch eine andere. Ihre Lyrik schrieb Nicoïdski auf Sephardisch, der Sprache der Juden, die nach 1492 aus Spanien ausgewiesen wurden (Alhambra-Edikt) und in die Diaspora gingen. Die Sprache, heute unter ISO 639-3-Code: lad geführt, hat verschiedene Bezeichnungen: Ladino, Djudezmo, Djidio, Djudeo Espanyol, Judenspanisch, Spaniolit, Espanyolico oder Hakitía.

Die Entscheidung Nicoïdskis, allein ihre Lyrik auf Sephardisch zu schreiben, versteht sie selbst als Totengebet, „als Kaddisch für ihre verstorbene Mutter und die verlorene Kindheitssprache.“ Nicoïdski schreibt im Vorwort zu der Herausgabe der Gedichte Lus ojus las manus la boca 1978:

Meine Mutter war eine Italienerin, aufgewachsen in Triest, ursprünglich aus Sarajevo. Mein Vater, der in Sarajevo aufwuchs, traf sie 1936 in Spanien (Barcelona), wo ihre Familie zu jener Zeit lebte. […] Viele Sprachen wurden Zuhause gesprochen: Italienisch, Serbokroatisch, einige Wörter auf Deutsch und ein wenig Französisch. […] Eine Sprache hatten meine Eltern, die beiden bekannt war: wir nannten sie „unser Spanisch“ und sie stammte von unseren Großeltern, die zu den „türkischen Osmanen“ gelangten, wie es hieß, seit der Inquisition Spaniens. Diese Sprache assimilierte viele Wörter der fremden Länder, die sie durchquerte.

Wir folgen in den Gedichten einer Rede gegen das Vergessen, einem Plädoyer für den Gebrauch einer Sprache, gegen die Versteinerung, gegen die Stummheit. Diese Rede ist angesichts der Tatsache, dass der in Sarajevo verbliebene Teil der Familie in der Shoah zu Tode kam, viel mehr als nur ein Kieselstein auf den Gräbern der Vorfahren.

und wie sollte ich
eure verlorenen Augen vergessen
(aus: Die Augen)

Das sind die beiden ersten Verse des Bandes, ein Auftakt, der mit geringen Worten alles sagt. So ist das poetische Verfahren der Autorin: Der Schrei, das Entsetzen über das Unsagbare findet Platz in Worten von größter Allgemeinheit, lässt jedoch Raum für die vielen Toten.

es war Leben
und wurde Mund
(aus: Der Mund)

was wirst du sagen?
in deinem Mund
können die Wörter Steine sein

und können Wörter sein

was wirst du sagen?
(aus: Wege der Wörter)

Die Gedichte Nicoïdskis sind von erdrückender Intimität, weil sie mit den Toten sprechen, gegen den Tod sprechen.

im inculgaré a tus bezus
com’un cantu
si me dexas
comu palavra di maldición
mi inculgaré
a tu hora
cuando si quedará
di spantu
in las callis di mi pasadu
ondi ti starás
caminandu

ich werde mich an deine Lippen hängen
wie ein Lied
wenn du mich verlässt
wie ein Wort des Fluches
werde ich mich
an deine Zeit hängen
wenn sie vor Entsetzen
anhalten wird
auf den Straßen meiner Vergangenheit
wo du stets
wandeln wirst
(aus: Wege der Wörter)

Das vollständige Manuskript von Caminus di Palavras ist verschollen. Juana und Tobias Burghardt haben Übersetzungen ins Spanische und Englisch gesichtet und drei für verloren gehaltene Texte Nicoïdskis zusätzlich zu den 19 Gedichten, die 1980/81 in der Zeitschrift poesía vorabgedruckt wurden, ins Deutsche übertragen.

Nicoïdski weckte in Juan Gelman den Wunsch, auf Sephardisch zu schreiben. Er verfasste Dibaxu | Debajo von 1983 bis 1985 und notiert:

Als hätte die äußerste Einsamkeit des Exils mich zu den Wurzeln in der Sprache gedrängt, die tiefsten und verbanntesten der Sprache. […] Hingegen weiß ich, dass mir die sephardische Syntax eine verlorene Reinheit und ihre Diminutive zurückgab, eine Zärtlichkeit anderer Zeiten, die lebendig ist und deshalb voller Trost.

 

 

Anette und Peter Horn (Hrsg.): 100 Poems from Bangladesh

The future breathes in my throat, in my grave

Die von Anette und Peter Horn herausgegebene englischsprachige Anthologie „100 Poems from Bangladesh“, erschienen 2017 in der Edition Delta (Stuttgart), stellt 25 Autoren vor, die alle im unterschiedlichen Alter die Geburtsstunde ihres Staates am 16. Dezember 1971 miterlebt haben. Nachdem Indien entscheidend in den Krieg und Genozid (West-)Pakistans gegen die bengalische Bevölkerung (Ost-)Pakistans eingegriffen hatte, wurde Ostpakistan Ende 1971 völkerrechtlich anerkannt und gab sich den Namen Bangladesch.

From 25 March to 16 December, 1971
There are 267 days in total
According to Pravda, the Pak Army killed
3 million Bengalis during the Liberation War
It was a war against unarmed people
By killers and rapists of the Pak Army
And they killed 3 million ÷ 267
= 11,236 people per day

(aus: Rabiul Husain „ Oh ! The War !“)

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Aminur Rahman: „Perpetual Diary – Fortwährendes Tagebuch“

Wer bist du? Wer bist du?

Mit Perpetual Diary | Fortwährendes Tagebuch des bangladeschischen Dichters Aminur Rahman, geboren 1966 in Dhaka, können wir seiner Selbstvergewisserung und seines sehnsüchtigen Dialogs zwischen lyrischen Ich und lyrischen Du folgen.

Der Band ist zweisprachig: Englisch und Deutsch. Es fehlt die Sprache des Autors: Bengali oder Bangla. Die Übersetzungen aus der Originalsprache ins Englische kommen von Sudeep Sen, A Z M Haider, Ziaul Karim und M S A Sarwar. Aus dem Englischen wurden die 29 Gedichte von Manfred Chobot ins Deutsche gebracht.

Mit Rahman ist nun einer der jüngeren Vertreter der bangladeschischen Lyrik mit einer Einzelveröffentlichung gewürdigt worden. Einige seiner Gedichte sind auch in der englischsprachigen Anthologie „100 Poems from Bangladesh. Edited by Dr. Peter Horn & Dr. Anette Horn“ (Edition Delta, Stuttgart) vertreten.

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Bachtyar Ali: „Die Stadt der weißen Musiker“

Was ist der Traum der Gerechten?

Vielleicht ist das die Frage, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller weltweit am meisten umtreibt. Bachtyar Ali, 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren, legt sie seiner Figur Halim Schewaz in seinem 2017 auf deutsch erschienenen Roman „Die Stadt der weißen Musiker“ (aus dem Sorani von Peschawa Fatah und Hans-Ulrich Müller-Schwefe) in den Mund.

[…] Diese Frage können Sie nicht beantworten, Dschaladat, weil Sie ein Blödmann sind. Es gibt nichts Gefährlicheres als den Traum der Gerechtigkeit. […] Es ist die Obsession der angeblich Gerechten, alle Schuldigen dingfest zu machen und zu bestrafen […] Dann müssten wir alle Schuldigen bestrafen, für jedes Vergehen müssten wir eine Strafe parat haben. Aber die Menschen sündigen ständig. Es gibt keinen Menschen, der nicht Strafe verdient hätte. Wahre Gerechtigkeit würde die Welt in eine Hölle verwandeln. Bestrafen und bestraft werden, eine endlose Barbarei.

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Jaromír Typlt: „oder schnurstracks“

Korund / wieder eines dieser Wörter –
Korund / zase jedno z těch slov

In den Gedichten von Jaromir Typlt, 1973 in Nová Paka geboren, bietet die Rauigkeit der Oberflächen, die Rauheit des vom Autor eingesetzten Sprachmaterials, einen Zugang zur Essenz dieser Poesie. Nachzuspüren ist das in einer Gedichtsauswahl, die nun in der Edition OstroVers bei hochroth Leipzig zweisprachig erschienen ist, aus dem Tschechischen übersetzt von Martin Mutschler.

Es geht hier nicht um das Ergebnis von Glättungen, die durch Schleifmittel mit unterschiedlicher Körnung in mehreren Arbeitsgängen erreicht werden, bis die Oberfläche keinen Widerstand mehr bietet. Wenn Mutschler in seinem kurzen Essay über die poetische Welt Typlts von surrealistisch behauchten Zwischenwelten spricht, dann sehe ich ein trauriges Kind vor mir, das seinen Atem an die Fensterscheibe wirft und vielleicht die Kraft hat, ein Wort mit dem Finger auf diese Oberfläche zu schreiben, die unter anderem einst einmal Quarzsand gewesen war.

Es geht um die Offenlegung des Arbeitsprozesses, eben um Zwischenwelten.

Glatte Oberflächen sind schlicht uninteressant. (So war es nicht mangelnder Fleiß, als ich in meiner Ausbildung zum Schreiner das Schleifpapier vorzeitig weglegte, dem Buchenholz die ein oder andere Riefe [wieder so ein Wort] ließ, während die anderen in der Lehrwerkstatt schleiften, schmirgelten, ja, das Holz fast, Schuhen gleich, wichsten, bis es glänzte.)

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Wakayama Bokusui: „In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter“

Das tiefe Schwarz ist mir lieb
Tanka von Wakayama Bokusui

Mit dem Band „In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter“ stellt der Japanologe Eduard Klopfenstein das moderne Tanka, wie es für die Erneuerung der tradierten Waka-Dichtung in der Meiji-Ära zu Beginn des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist, dem deutschsprachigen Publikum vor. Die Publikation richtet sich an eine breite, der japanischen Literatur bislang nicht zugeneigten Leserschaft, denn Klopfenstein versteht es ausgezeichnet, mit wenigen Worten eine Einführung in die Epoche und ihre handelnde Personen zu geben. Wissenschaftliche Präzision gepaart mit guter Verständlichkeit: Das macht Lesefreude.

Klopfenstein wählt mit Wakayama Bokusui (1885–1928) nicht eine Person aus, die diese Erneuerungsbewegung initiiert hatte, wie Masaoka Shiki, Sasaki Nobutsuna, Yosano Tekkan und dessen Frau Yosano Akiko, sondern einen etwa zehn Jahre jüngeren Kollegen, der die Merkmale der Modernisierung bereits selbstverständlich anwendet und in seinem 15 Tanka-Bände umfassenden Gesamtwerk schließlich zum Meister dieser Dichtung wurde.

Drei Tanka aus dem Frühwerk, das innerhalb des Gesamtwerks Wakayamas auch heute noch einen hohen Stellenwert hat und sich in Japan großer Beliebtheit erfreut:

Zwei Wolken
streben aufeinander zu
trennen sich wieder
schwinden dahin in die blaue Weite
des Frühlingshimmels

Die konkrete Beobachtung, der festgehaltene Moment, die Abwesenheit des Menschen, des Individuums im Angesicht der großartigen Natur: eine eher tradierte Tanka-Auffassung.

Angelehnt neige ich
mein Gesicht zum Baum hin
Da pocht an die Wange
kaum spürbar der Pulsschlag
des herbstlichen Waldes

Die Entdeckung des modernen Menschen als Individuum, das lyrische Ich, die Herstellung von wechselseitigen Bezügen von Innen und Außen.

Stielblütengräser
Rote Pimpernelle Binsenhalme –
Herbstgräser
als Zeichen tiefer Einsamkeit
will ich dir schicken

Die Hinzunahme des lyrischen Du, der Dialog, die Natur tritt hier in den Hintergrund, liefert Metaphern und Jahreszeitenwörter, Kigo, für das Gespräch mit der Geliebten.

Und doch findet sich bereits im Wolkenbild des ersten Tanka alles, was das Leben, auch das zweier Liebenden, auszumachen vermag: Das Streben nach Vereinigung, Einheit, Trennung und Entschwinden.

Klopfenstein ordnet die Auswahl der Tanka in fünf (Lebens-)Abschnitte: Das Frühwerk 1904–1910 | Dunkle Jahre des Übergangs 1910–1912 | Stabilität und Selbstironie 1913–1917 | Gereifte Sensibilität 1918–1920 | Die letzten Jahre 1921–1928. Biografische Hintergründe sind im Anhang erläutert, sodass wir einen Einblick in das Leben des Dichters erhalten und gleichzeitig nachvollziehen können, wie Lebenslust und Krise in der Beschränkung von 31 Moren (oder in freieren Versen, die ab 1910 verstärkt auftreten) zum Ausdruck kommt.

Was Klopfenstein „ein Kaleidoskop“ nennt, dessen „Splitter zu farbigen Mustern“ sich ordnen, ist doch ein Vielfaches von dem, was in deutschsprachigen Internetquellen über das Leben des Japaners bereitsteht: Die Herkunft aus einem abgelegenen Tal auf der Insel Kyushu, glückliche Kindheit, starke Bindung an die dortige Natur. Erste Berührungspunkte mit modernen Tanka. Studium in Tokyo, intensive dichterische Aktivitäten. Ausgedehnte Wanderungen durch Japan. Das Feuer der Liebe und die Asche. Einsamkeit. Trunksucht. Die Suche nach Halt in einer Ehe, Frau und Kinder, die ihm wichtig sind. Gesellschaftliche Anerkennung als Dichter, prekäre finanzielle Situation, Unruhe, Glorifizierung des Reisweins, Rückzug aus dem Stadtleben, Rückkehr in die Naturräume seiner Kindheit, der Blick auf den Fuji und in die Ferne, der Blick ins Dickicht des Waldes mit dem tiefen Schwarz seiner Kiefern. Unerwarteter Tod.

Abgestreifte
Blätter vom Bambusschössling
hebe ich auf
nehme sie mit – eine Schönheit
die mir ans Herz rührt

Wakayama Bokusui in der Übersetzung von Eduard Klopfenstein – ein schönes Buch, reich ausgestattet und brillant.

 

 

Anuk Arudpragasam: „Die Geschichte einer kurzen Ehe“

Die meisten Kinder haben zwei ganze Beine und zwei ganze Arme, aber der kleine Sechsjährige, den Dinesh trug, hatte schon ein Bein verloren, das rechte knapp oberhalb des Knies, und jetzt würde er auch noch den rechten Arm verlieren. Granatsplitter hatten von der Hand und dem Unterarm nur noch eine weiche, formlose Masse gelassen, aus der es hier und da auf den Boden tropfte, die an anderen Stellen gerann und überall sonst verkohlt war. Drei Finger hatten sich komplett abgelöst, unmöglich zu wissen, wo sie jetzt waren, und die anderen beiden, der Zeigerfinger und der Daumen, baumelten an zarten Fäden von der Hand.

Mit diesen Worten beginnt die Geschichte und erinnert uns daran, wie sehr wir uns das Wegsehen angewöhnt haben, ob in Ost-Ghuta, in den sudanesischen Juba-Bergen oder an all den anderen Orten, wo die Zivilbevölkerung Terror schutzlos ausgeliefert ist. Der 1988 in Colombo (Sri Lanka) geborene, auf Tamil und Englisch schreibende Anuk Arudpragasam legte 2016 mit Die Geschichte einer kurzen Ehe seinen Debütroman (Übersetzung aus dem Englischen: Hannes Meyer) vor.

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Aleksander Nawrocki: „Mir träumte von meiner Kindheit“

In der Kurpie

Sie liegt in der nordpolnischen Tiefebene im nördlichen Masowien an der Grenze zur Woiwodschaft Ermland-Masuren. Einst als die grüne und die weiße Wildnis bezeichnete Waldgebiete auf sumpfigem Boden, einst gefürchtet von den Kreuzrittern, ist sie heute auf welligen Straßen Transitstrecke von der Hauptstadt zu der touristisch frequentierten masurischen Seenplatte und der ostpreußischen NS-Bunkerarchitektur. In dieser Region, die seit dem 10. Jahrhundert zu Polen gehört, wurde 1940 Aleksander Nawrocki in Bartniki nahe Przasnysz geboren. Als Autor und vor allem als Übersetzer ist er in Polen nicht unbekannt, ebenso wie in den Ländern, deren Literatur er ins Polnische übertragen hat: Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Finnland, Estland, Russland und weitere. Narockis Werk ist umfangreich. Seine Lyrik nun im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen, war das Anliegen des 1942 in Dresden geborenen Übersetzers Peter Gehrisch.

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Micho Mossulischwili: „Schwäne im Schnee“

Was mich mit Japan verbindet?

Mit dieser Frage beginnt eine Prosaminiatur des 1962 geborenen georgischen Schriftstellers Micho Mossulischwili, die in den von Irma Schiolaschwili und Joachim Britze ins Deutsche übertragenen Band „Schwäne im Schnee“ aufgenommen wurde. Darin beschreibt der Georgier, welchen Eindruck Akutagawa Ryûnosuke (1892-1927) auf ihn als jungen Studenten gemacht hatte, bevor er seine Novelle „Der Waldmann“ schrieb.

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