Micho Mossulischwili: „Schwäne im Schnee“

Was mich mit Japan verbindet?

Mit dieser Frage beginnt eine Prosaminiatur des 1962 geborenen georgischen Schriftstellers Micho Mossulischwili, die in den von Irma Schiolaschwili und Joachim Britze ins Deutsche übertragenen Band „Schwäne im Schnee“ aufgenommen wurde. Darin beschreibt der Georgier, welchen Eindruck Akutagawa Ryûnosuke (1892-1927) auf ihn als jungen Studenten gemacht hatte, bevor er seine Novelle „Der Waldmann“ schrieb.

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Arundhati Roy: „Das Ministerium des äußersten Glücks“

Aftab und Anjun

Der zweite Roman der 1959 geborenen Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Arundhati Roy (deutsche Übersetzung: Anette Grube) enthält viele ineinandergreifender Lebensgeschichten, die tragfähig sind, stellvertretend für die 1,324 Milliarden Menschen Indiens (Stand: 2016) zu stehen, in ihrer Sprach- und Religionsunterschiedlichkeit, in ihrer Buntheit, ihrer Schrillheit, in der Armut und exzessiver Gewalt ebenso Raum geboten wird wie für ein wenig privates Glück.

Der sehr ansprechende Titel, ich verzeihe Roy den Griff in die marktschreierisch klingende Superlative, steht im äußersten Kontrast zum Kern des Buches, der sich mit dem Kaschmir-Konflikt, welch harmlose Alliteration für ein Gemetzel, bei dem die Welt wieder mal weg(ge)schaut (hat) und Gewalt, Terror, Folter und Tod freien Lauf lässt, auseinandersetzt.

Im „Reader’s Digest der englischen Sprache und Grammatik für ganz junge Kinder“ schreibt Tilo, eine der Hauptfiguren des Romans, auf, was sie beschäftigt:

NICHTS

Ich würde gerne eine dieser kultivierte Geschichten schreiben, in denen zwar nichts passiert, aber es trotzdem viel gibt, worüber man schreiben kann. So etwas ist in Kaschmir nicht möglich. Es ist nicht kultivert, was hier passiert. Es gibt zu viel Blut für gute Literatur.

F1: Warum ist es nicht kultiviert?
F2: Wie groß ist die hinnehmbare Menge Blut für gute Literatur?

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John Burnside: „Ashland & Vine“

Meine Sorte Wildfang

In der Biografie der US-amerikanischen Dramatikerin und Menschenrechtsaktivistin Lorraine Hansberry (1930–1965) finden sich Motive, die John Burnside in seinem neuen Roman episch ausbreitet, um einen Abschnitt amerikanischer Geschichte des 20. Jahrhunderts ins Bewusstsein zu rufen, wie es seine Figur Laurits, ein Filmemacher mit europäischen Wurzeln, tut.

Laurits schüttelte den Kopf. „Kannst du nachlesen“, sagte er. „Steht in den Geschichtsbüchern.“ Er gab sich ernst, doch war ihm anzumerken, dass es sich um eines seiner Lieblingsthemen handelte, eines, von dem er wusste, dass es Huey ärgern würde. „Ihr Amerikaner kennt eure eigene Geschichte nicht …“

Hansberry starb kurz vor meiner Geburt. Und ihr Name trat erst mit Raoul Pecks Dokumentarfilm I Am Not Your Negro (2017) über den mit Hansberry befreundeten Schriftsteller James Baldwin in mein Leben.

Hansberrys Eltern engagierten sich gegen die Rassentrennung. Burnsides Figur Jean Culver, die der jungen Studentin Kate ihre Familiengeschichte über Wochen erzählt, verliert 1935 in Alabama ihren Vater, der sich als Anwalt gegen die Rassentrennung einsetzt. der als Anwalt Politik, Geschäft und Gerechtigkeit unter einen Hut bringen will. Ein beauftragter Mord. An einer Straßenkreuzung.

Hansberrys Eltern engagierten sich gegen die Rassentrennung. Burnsides Figur Jean Culver, die der jungen Studentin Kate ihre Familiengeschichte über Wochen erzählt, verliert 1935 in Alabama ihren Vater, der als Anwalt Politik, Geschäft und Gerechtigkeit unter einen Hut bringen will. Ein beauftragter Mord. An einer Straßenkreuzung.

… Ecke Ashland und Vine. Ashland und Vine, Ashland und Vine, Ashland und Vine. Unablässig höre ich im Kopf den Singsang dieser Worte. Wie ein Fluch.

Hansberry protestiert gegen die Hinrichtung von Ethel und Julius Rosenberg im Juni 1953. Deren Vergehen: Rüstungsspionage für die Sowjetunion. Burnside lässt Jeans Bruder Jeremy, der Augenzeuge des Mords an seinem Vater war, nach dem Krieg zum Spion werden, dem alle Mittel zur Verfügung stehen, um gegen den Kommunismus zu kämpfen. Es ist Jeremys privater Feldzug, den Mann aufzuspüren, der den Kommunisten entscheidende Details zum Atombombenprogramm verraten hat. Er findet Yonas Sax in England. Die Figur ist angelehnt an Theodore (Ted) Hall, dessen Spionagetätigkeit erst 1995 aufgedeckt und dessen Verrat als schwerwiegender eingestuft wird, als jener des Ehepaars Rosenberg. Burnside war mit Hall freundschaftlich verbunden, wie er in der Danksagung schreibt. Die Begegnung zwischen Jeremy und Sax wird Jeremys Leben, seine Überzeugungen, seine Loyalität über den Haufen werfen.

Sax nickte. „Also warum sind Sie gekommen, Mr …?“
Jeremy schüttelte den Kopf. „Ich versuche nur, die Wahrheit herauszufinden.“
„ Die Wahrheit?“ Sax schien leicht amüsiert, machte sich aber nicht über ihn lustig. Eher hatte er Mitleid mit ihm. „Darf ich Sie fragen, wie Sie damit vorankommen?“

Hansberry war verheiratet, aber homosexuell. Das Thema der sexuellen Selbstbestimmung wird bei Burnside durch Jean aufgegriffen, die ihre einzige Liebe Lee an einen Mann verliert, an das alleingültige heterosexuelle Verständnis von Ehe, beinah hätte ich geschrieben: der fünfziger Jahre. Es ist gut so, dass die Fünfziger mit dem Beginn des Oktobers 2017 in Deutschland beendet sind.

Wildfang – selbst heute noch ist mir die Etymologie unklar. Damals aber lautete die eigentliche Frage, was das für mich bedeutete. Hatte mich geprägt, wie die Leute mich sahen? Wie sie mich nannten? Oder hatten sie eine gewisse Eigenheit gespürt, die schon immer da gewesen war, jetzt aber an die Oberfläche gelangte? Denn ehrlich gesagt, bis ich Lee kennenlernte, hatte ich keine Ahnung gehabt, dass ich anders war. Ich fühlte mich nur nicht zu Männern hingezogen, kannte aber auch keine Männer, die ich sonderlich attraktiv fand, weshalb ich glaubte, mehr hätte es damit nicht auf sich.

Wildfang, ein mir bislang unbekanntes Wort, entspricht in etwa dem von Burnside benutzten Wort Tomboy (Zur Diskussion über diesen Begriff vergleiche: FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Nr. 33 (2002). Ich erinnere mich an eine Erzählung meiner Mutter. Kurz vor der Heirat machten meine Eltern einen Hotelurlaub auf einer Mittelmeerinsel. Bei der Miss-Wahl am Abend schmuggelte sich mein Vater in Frauenkleidung unter die Siegesaspirantinnen. War mein Vater tomgirlish? Und was sagt das über seine Ehe aus und seine Homosexualität?

Naheliegend, warum Burnsides Lügen über meinen Vater für mich ein sehr wichtiges Buch ist: Die Frage der Selbstinszenierung des Vaters, die Suche des Sohnes. Wer kann schon von sich behaupten, auf dieser Suche nach Wahrheit vorangekommen zu sein?

Burnside bleibt sich treu, er schreibt über Trauer und gewaltige, gewalttätige Eruptionen, die die Welt und sogar Amerika erschüttern. Da wird Laurits niedergestochen, er verblutet im Dunkel einer einsamen Straße, während Kate versucht, Hilfe zu holen. Es ist ein sinnloser Tod. Wie es zu viele gibt. Jeremy war nicht nur Zeuge des Mords an seinem Vater, im Zweiten Weltkrieg kann er als amerikanischer Soldat mit französischen Widerstandskämpfern ein Massaker der SS nicht verhindern. Der Ort wird nicht genannt, das Wort Oradour-sur-Glane flackert in mir auf, aber wie viele weitere Orte hat es gegeben? Jeremys Sohn Simon kämpft in Vietnam, bevor er desertiert. Am Ende wird er seine Tante Jean besuchen und mit Kate, die Jean am Lebensende pflegt, sprechen.

„Mordlust“, sagte er dann auf Deutsch. Wissen Sie, was Mordlust ist? Ein spezifischer Ausdruck, ein Fachbegriff. Man könnte ihn mit bloodlust übersetzen, aber das klingt so gewöhnlich – manchmal braucht man ein Wort aus einer anderen Sprache, um der Sache die nötige Schwere zu verleihen.
M? Lai war keine Ausnahme. Wir wissen heute mehr, aber wir wissen längst nicht alles, und das werden wir auch nie.

Jeremys Tochter Jennifer bleibt verborgen. Sie unterstützt die Ziele der Weathermen, einer revolutionären Organisation kommunistischer Männer und Frauen, die sich nach der kaltblütigen Ermordung Fred Hamptons, eines Aktivisten der Black Panther Party, am 4. Dezember 1969 vom amerikanischen Studentenbund SDS abspaltet und für mehrere Bombenattentate verantwortlich ist. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten führt sie das Leben einer Staatsfeindin im Untergrund.

Zu Jeans Begräbnis liest Simon einige Zeilen aus einem Gedicht von Ted Berrigan.

„Mein Land ist ein gutes Land …“

Das klingt wie eine Beschwörungsformel, über die sich die Trauer wie ein Bleimantel legt.

 

 

Vicente Valero: „Die Fremden“

Die abgewandte Seite der Familie

Vicente Valero, 1963 auf Ibiza geboren, hat 2014 ein Buch über „fremde Verwandte“ veröffentlicht. Herausgekommen ist, nun in deutscher Übersetzung von Peter Kultzen vorliegend, ein im Umfang schmales, doch bedeutendes Stück Prosa, das als Romandebüt beworben wird, vom Autor selbst als Bericht verstanden werden will. Formal mag er, wie der Klappentext nahelegt, an W.G. Sebalds Die Ausgewanderten erinnern, vier Biografien, die skizziert werden, doch sowohl vom Umfang (Sebald: 354 Seiten, Valero: 128 Seiten) als auch von der Vorgehensweise erscheint mir der Vergleich nicht ganz stimmig. Sebald zeichnet das Leben jüdischer Männer nach, sicherlich mit einer auch von Valero genutzten Mischung aus Fakten und Mutmaßungen, die ermöglichen, ein Bild, eine Würdigung, eine Erinnerungsschrift entstehen zu lassen. Valero jedoch wendet sich durch seinen Ich-Erzähler der eigenen Familie zu. Diese Zuwendung erinnert mich an ein Werk ähnlich dichten Umfangs, das ich als ein großes Stück Literatur einer Vater-Sohn-Suche kennengelernt habe, das den Autor, wie Valero auch, auf einen Friedhof führt. Ich spreche von Peter Härtlings Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung von 1982. Doch wenden wir uns von Analogien ab und Valeros Werk zu.

Keine Biografie, mag sie noch so kurz sein, ist frei von Labyrinthen – wer sie betritt, läuft Gefahr, nie mehr herauszufinden. (Trotzdem blühen in diesen dunklen und unübersichtlichen Regionen fast immer die schönsten endemischen Pflanzen, Unikate, wie wir sie uns als Wissenschaftler oder Sammler nur erträumen können.)

Ausgangspunkt für Valeros Recherche über diejenigen Familienmitglieder, die (fast) nie erwähnt wurden, die in Vergessenheit gerieten, ist der Nullpunkt, das Jetzt. Da ist ein Schriftsteller in seinem Haus, umgeben von einer kleinen Anzahl von Erinnerungsstücken und Reliquien, ein goldenes Kreuz, ein kleines Klappschach, einige handgeschriebene Briefe und Postkarten, wenige Fotos.

Seinerzeit habe ich nicht alle Fragen gestellt, die ich hätte stellen sollen, und jetzt ist niemand mehr da, den ich fragen könnte, alle sind tot, und ich bin der Einzige […]

Das sind Sätze, die wir alle kennen. Auch wir haben sie schon gesprochen, vielleicht niedergeschrieben. Jeder von uns weiß um gelüftete und geheim gebliebene Familienbegebenheiten. Deswegen nimmt Valeros Arbeit uns sofort in Beschlag, vom ersten, langen Satz an.

Ob der Mann, dem es nie vergönnt war, zu hören, dass ihn jemand Großvater nannte, ja nicht einmal Vater – obwohl er Großvater und somit auch Vater war –, schlanke, knochige Hände und große, dunkle Augenbrauen hatte wie ich, oder wie ich in der Jugend häufig von Lippenbläschen gequält wurde, habe ich nicht herausfinden können, ist doch bis heute nicht ein Foto des Leutnants Marí Juan aufgetaucht – kein Familienalbum, keine Kommodenschublade, und sei das Möbel noch so alt, kein Stapel von Porträts Unbekannter, wie sie sich mit der Zeit und auf welchem Wege auch immer in jedem Haushalt ansammeln, hatte etwas Derartiges aufzuweisen.

Bei der Lektüre dieser so sorgfältig, ernsthaft und aufrichtig geführten Arbeit schwingen stets unsere Fremden mit. So kommt es mit Valeros fremden Verwandten zu einer Hinwendung zur eigenen Biografie, ein Nachdenken, ein Innehalten, und dort, wo wir die Geheimnisse noch nicht kennen, vielleicht zu einem Zweifel an der Glattheit der Oberfläche.

Wer aber waren die, die ihre Familien in Ibiza verließen? Ich möchte zwei von ihnen vorstellen.

Pedro Marí Juan, Großvater mütterlicherseits, wird im Jahr 1900 als zweitgeborener Sohn einer Bauernfamilie geboren. Der Tradition entsprechend kann er dem Militär oder der Kirche übergeben werden. Doch der Vater hat einen anderen Plan und will ihn zum Anwalt ausbilden lassen.

Dass Pedro Marí Juan kein Anwalt wurde, wissen wir, aber was können wir über den Schüler sagen, der das ganze lange und strenge pädagogische Ritual seiner Kindheit und Jugend absolvierte, sich anschließend aber nicht im Glanz seiner Beredsamkeit sonnen wollte, wozu er eigentlich bestimmt schien, sondern den Glanz der militärischen Uniform vorzog, an den er womöglich auch auf wesentlich weniger beschwerlichem Weg hätte gelangen können?

Mit vielleicht sieben Jahren der familiären Geborgenheit entrissen, lernt das Kind im Internat schnell die Heimat und die damit verbundene Entinselung zu verdrängen. Die Jahre vergehen, er wächst zum Mann heran und lernt ein Weiteres: Schwieriger als die Insel zu verlassen, ist nur, dorthin zurückzukehren. Kurze Besuche verstärken die Entfremdung, trotz der Bewunderung der Geschwister, dem Segen der Eltern. Trotz der Liebe zu Nieves, seiner späteren Frau. Er folgt dem Ruf des Militärs, harrt geduldig aus, in einem trostlosen und feindseligen Ort: Kap Juby. Krank kehrt er zurück.

Die kleine junge Familie, die er im Jahr davor gegründet hatte, zog mit ihm ins elterliche Haus im Mornatal, wo sich von da an auch sein Vater, seine Mutter und die Schwestern um ihn kümmerten, die noch nicht verheiratet waren und folglich zu Hause lebten. Viel geholfen hat ihre Fürsorge jedoch nicht, oder vielleicht nur als Trost, denn der Sohn, Bruder, Gatte und inzwischen auch Vater sollte gerade einmal zwei Wochen nach seiner Rückkehr, im Fieber delirierend und Blut spuckend, sterben.

Ramón Chico, Großonkel väterlicherseits, war republikanischer Offizier, als mit dem Militärputsch im Juli 1936 ein Kampf auf Leben und Tod beginnt. Der Franquismus ist übermächtig und es bleibt nur die Flucht nach Frankreich.

Nachdem mein Großonkel bei Port Bou die Grenze überquert hatte, wurde er in das am sogenannten Nordstrand gelegene Lager Argelès-sur-Mer gebracht, eins der ersten Flüchtlingslager, die die französischen Behörden in dieser Gegend eingerichtet hatten. Schon zu diesem Zeitpunkt hatten Tramontana, Kälte, Hunger und alle möglichen Krankheiten den Ort in einen Schauplatz des Grauens und des Todes verwandelt.

Chico kommt aber schließlich ins Département Tarn-et-Garonne, wo er bis zu seinem Tod lebt und bis zuletzt das Ende der Franco-Diktatur und und die Rückkehr in die Heimat herbeisehnt. Er stirbt 1970 im Alter von 79 Jahren.

Das Grab von Major Chico, samt allem, was darin von ihm noch erhalten sein mag, gehört jetzt mir, so besagen es eindeutig die von der Gemeinde Lisle-sur-Tarn abgestempelten Papiere, mit denen ich das Rathaus verlasse – wenigstens für die nächsten vierzig Jahre besitze ich also ein Stück Land im Südwesten Frankreichs, ein ziemlich kleines Stück Land, natürlich, und dennoch gehört es zweifellos zu unserer Zeit wie auch, soweit ich sehe, immer noch zu unserer Welt.

Valero rekonstruiert in einem Verfahren, das ich nur unzureichend benennen kann, das mich aber staunen lässt, nicht nur einen Teil seiner Familiengeschichte, sondern auch einen Teil vergangener europäischer Geschichte, die, soviel ist sicher, immer noch zu unserer Gegenwart von politischer Willkür und Flucht gehört. Es ist die Sprache, die vielfältige Möglichkeiten zulässt und Abbild-Alternativen einer Wirklichkeit schafft. Nicht in der Gewissheit, sondern in der Unwissenheit entstehen exakt durchdachte Bilder: Zweifelsfrei schön. Zweifelsfrei fremd.

 

Kurt Heyd: „Christophs Abenteuer in Australien“

Von Butzbach nach Bathurst

Kurt Heyd (* 1906 Darmstadt, † 1981 Darmstadt) veröffentlichte im Sommer 1935 das Kinder- und Jugendbuch „Christophs Abenteuer in Australien“ im Gustav Kiepenheuer Verlag. Dieses Buch, schon überaus erfolgreich im Dritten Reich, aber auch noch in der Nachkriegszeit, war sein literarisches Debüt. In diesem Abenteuerroman nahm er die Erinnerungen seines Großvaters auf, der, wie Heyd in der Vorrede sagt, in den Wintern der Kriegsjahre dem Enkel die Erlebnisse seiner Australien-Reise aus dem Jahr 1854 so lebhaft beschrieb, dass sie sich dem späteren Schriftsteller und Journalisten für immer einprägten.

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Yuri Herrera: „Abgesang des Königs“

Der mexikanische Schriftsteller Yuri Herrera, 1970 in Actopán geboren, hat in seiner Dankesrede zur Verleihung des Anna-Seghers-Preises 2016, die auszugsweise in der neuen Ausgabe von alba. lateinamerika lesen abgedruckt ist, die Aufgabe der Literatur in wenigen Worten zusammengefasst (Übersetzung: Susanne Lange).

Wir schreiben nicht, um jemanden zu befriedigen, unsere Arbeit besteht darin, die Erwartungen dessen nicht zu erfüllen, der glaubt, alles schon verstanden zu haben. Die Literatur erklärt nichts, segnet nichts ab, bietet keine einfachen Antworten, im Gegenteil, sie will den Zweifel schüren, ausgehend von einem ästhetischen Ereignis.

Diese Sätze im Gedächtnis, ist es reizvoll, Herreras Debütroman „Abgesang des Königs“ von 2008 (deutsche Ausgabe: 2011, Übersetzung: Susanne Lange) zu lesen.

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Breyten Breytenbach: „Erinnerung an Schnee und Staub“

N.B. Veranstaltung wegen Erkrankung abgesagt, wird im Herbst nachgeholt.

Am Dienstag 23.05.17 um 19:30 Uhr findet im Offenen Haus, Rheinstr. 31, Darmstadt eine von Amnesty International (Bezirk Darmstadt) organisierte Lesung mit Texten und Musik zum Thema Rassismus statt.

Die Textauswahl und Moderation liegt in den Händen meiner Schriftsteller-Kollegin Maria Knissel. Sie bat mich um die Übersetzung eines Gedichts von Enoh Meyomesse (O toi Europe) und um Ideen für Gedichte zum Thema Rassismus.

Ich nahm das zum Anlass, mein schon wieder überquellendes Bücherregal zu durchsuchen und stieß auf mehrere Bücher von Breyten Breytenbach.

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Verena Boos: „Blutorangen“

Die blauen und die roten Pillen

Sie kommt schlecht damit klar, aber sie würde es wieder gleich machen, wieder die rote Pille nehmen. Sie hätte die blauen Pille wählen können: man geht ins Bett, und am nächsten Morgen erinnert man sich an nichts mehr, Entscheidet man sich für die rote: die Welt, wie sie wirklich ist. Das Schattenreich, in dem Antonio zu zittern begann, als sie erzählte, in aller Unschuld, dass ihr Vater bei der Guardia Civil gewesen war.

Sie, das ist Maite, eine junge Spanierin, die mit einem Austauschprogramm zum Studium nach München kommt, ins wiedervereinte Deutschland des Jahres 1990. Sie kommt aus einer erzkonservativen Familie, in dem der Antikommunismus immer hochgehalten wurde und auch Jahrzehnte nach Francos Tod die Essenz des Familienlebens ausmacht, eines Familienleben, das von Maites strengen Vater Francisco gelenkt und bestimmt wird. Maite mit ihrem jugendlichem Elan schert aus der Familienlinie aus, macht bei Aktionen der Linken mit, ein enfant terrible, das droht, das Ansehen der Familie zu schädigen. So stimmt der Vater zu, die Tochter nach Deutschland zu schicken, freilich unter von ihm diktierten Auflagen.

Verena Boos führt uns in ihrem inzwischen mehrfach preisgekrönten Debüt Blutorangen in unbearbeite Geschichtsfelder des Faschismus und des Franquismus, in Zonen, wo im übertragenen und wörtlichen Sinne noch Leichen verborgen sind, zugeschüttet durch Erdreich und Schweigen.
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Peter Wawerzinek: „Das Kind das ich war“

Am Tag nach meiner gemeinsamen Lesung  mit Tarja Sohmer in Minden erstand ich im gerade unter neuer Inhaberschaft wieder eröffneten „Bücherwurm“ Peter Wawerzineks Erzählung „Das Kind das ich war“.

Am Abend zuvor kreisten die Fragen des Publikums nach der Lesung einmal mehr um die Frage nach Authenzität und Autobiografie.

„Das Kind das ich war“ ist Wawerzineks fünfte Veröffentlichung und stammt aus dem Jahr 1994. Im Klappentext wird die Erzählung als autobiografisch bezeichnet.

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Dina Sikirić: „Was den Fluss bewegt“

Heil-Land wird kommen
Dina Sikirićs literarisches Debüt „Was den Fluss bewegt“

Die Erzählung der 1955 in Zagreb geborenen Autorin ist ein Werk von ergreifender Zartheit, dem gelingt, lange zurückliegende Kindheitserinnerungen lebendig werden zu lassen und die Zerrissenheit des Kindes zwischen Herkunftsland und Hinkunftsland in prägnante Sprache umzusetzen.

Das Herkunftsland heißt Jugoslawien, das Hinkunftsland ist die Schweiz. Die Gründe für den Weggang aus der Heimat sind weder Krieg, noch politische Verfolgung, noch wirtschaftliche Gründe.

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Ludwik Hering: „Spuren“

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»Warschauer Ghetto« oder »Ghetto in Warschau«?
Überlebensspuren von Ludwik Hering

Sprache ist eine mächtige Waffe. In Polen wird sie von der nationalkonservativen PiS benutzt, um ein ihr gefälliges Geschichtsbild in der Gesellschaft zu verankern und missliebige Sichtweisen unter Strafe zu Stellen. Auschwitz, Sobibor, Majdanek, Belzec, Treblinka sind NS-Vernichtungslager auf polnischem Boden. Es sind nicht, waren nie und werden es nie sein, polnische … Hier nicht abzubrechen könnte einen Tatbestand erfüllen, den der polnische Staat mit einem Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren verfolgen will. Zweifellos ist es ein sprachliche Lapsus, wenn im Zusammenhang mit der Geschichte des Nationalsozialismus‘ und des Zweiten Weltkriegs das ortsbenennende Wort so gebraucht wird, dass der Eindruck entstehen könnte, es behandele die Frage nach Täterschaft und Schuld. Irgendwo in Polen sitzen Menschen, die das Internet durchkämmen und einen Zähler eingerichtet haben, der die Verwendungshäufigkeit des nun strafrechtlich relevanten Begriffs anzeigt. Dabei werden mit politischem Kalkül die Begrifflichkeiten aus dem Kontext gerissen und an den Pranger gestellt.

Was sich über die Vernichtungslager sagen lässt, gilt es nicht ebenso für die Ghettos, die die Deutschen auf polnischem Boden, so in Warschau, errichtet haben? Spreche ich nun demnach besser vom „Ghetto in Warschau“?

Die PiS zeigt kein Interesse an einer verschiedene Blickwinkel zusammentragenden Erinnerungspolitik. Konzepte wie es das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdansk liefern möchte, werden ins Abseits gestellt.  Über den Antisemitismus in Polen, gemeint: der Polen zu sprechen, ist tabu. Und diejenigen, die gegen den einseitigen Diskurs die Stimme erheben, werden niedergeschrien, ausgeladen, diffamiert. Auch moralische Instanzen wie Wladyslaw Bartoszewski (1922-2015) wurden vom Zorn der Rechten getroffen. Es gilt, an die Worte zu erinnern, die der Historiker, Publizist und Politiker im Nachwort zu Janina Baumans: „Als Mädchen im Warschauer Ghetto. Ein Überlebensbericht“ schrieb:

Meine Familie pflegte mit einigen Familien der jüdischen Intelligenz Warschaus Verbindung, was damals – von beiden Seiten – durchaus nicht üblich war. Ich erinnere mich genau an die Aufrufe verschiedener Organisationen der damaligen politischen Rechten zum Boykott des jüdischen Handels in Warschau. Ebenso erinnere ich mich an Aussagen der rechten Presse und eines Teils der katholischen Presse, die die Juden kollektiv für alle sozialen und politischen Übel verantwortlich machten, für Pornographie und Kommunismus, für Armut und wirtschaftlicher Rückschritt der polnischen Gesellschaft, für Atheismus, aber auch für religiösen Fanatismus.

Mit „Spuren“ von Ludwik Hering (1908-1984) kommt nun ein weiterer Zeitzeuge erstmals in deutscher Übersetzung zu Wort:

In den Schaufenstern hingen – von den Deutschen sorgfältig in goldenen Lettern gesetzt und mit amtlichen Rähmchen versehen – alle paar Wochen neue „goldene Gedanken“ des Priesters Stanislaw Trzeciak – über das Wesen der Juden, das der Menschheit nichts als Verderben bringe. Im Handelskalender war jeder Tag geziert mit einer Sentenz der „Weisen“ zu eben dieser Frage – aus der unerschöpflichen Schatztruhe der katholischen Vorkriegspresse.
An den Laternenpfählen hingen Anschläge mit Ekel erregenden Gesichtern, als stammten sie unmittelbar aus dem „Katholischen Führer“. An den Mauern in der Nähe der Kirchen waren die Aufschriften noch nicht verblasst: „Tod den Juden – Polen muss katholisch sein!“
[aus: Das Schlupfloch]

Herings schriftstellerisches Werk umfasst die nun in einem Band versammelten Erzählungen „Spuren“, „Das Schlupfloch“ und „Zieleniak“, entstanden in Lodz 1945 bzw. 1946. Danach ist er verstummt und doch zu einer wichtigen Inspirationsquelle für andere, beispielsweise für Miron Bialoszewski (1922-1983) geworden. Sind „Spuren“ und „Zieleniak“ wenige Seiten umfassende Erzählungen, die eher in auktorialer Weise die Verbrechen in Warschau während des Zweiten Weltkriegs aufzeigen, gelingt es Hering in „Das Schlupfloch“, die Distanziertheit, die fast totenstarre Subsummierung des Terrors aufzuweichen, in dem er mit Brzozowski eine Figur einführt, die in der Gerberei Temler & Szwede, unmittelbar an der Grenze zum Ghetto gelegen, als Nachtwächter arbeitet.

Brzozowski kommt vom Dorf, wird als Depp, als „Dämlack“ angesehen, der nicht so recht in die städtische Gesellschaft passt, aber sich anstellig zeigt, selbst die niedrigsten, dreckigsten und gefährlichsten Arbeiten in der Gerberei zu machen. Nach einem Unfall, bei dem ein Kollege stirbt und er mit Vergiftungen davonkommt, die ihm seine Gesundheit ruinieren, nimmt er die Arbeit als Nachtwächter an. Sein privates Glück findet Brzozowski spät und es ist eher von kurzer Dauer. Sein Sohn Jedrek wächst, Tür an Tür mit der jüdischen Familie Majeraniec wohnend, mit deren gleichaltrigem Sohn Mietek auf. Beide freunden sich an. Die Freundschaft endet jäh in einem Gewaltexzess der radikalen, nationalistischen-antisemitischen Bewegung Endecja (ND-cja).

Eines Tages weckte ihn ein entsetzlicher Schrei aus der Wohnung der Familie Majeraniec. Ein Polizist hatte die Nachricht gebracht, dass ein Schlägertrupp der Endecja Mietek tot geprügelt hatte, bei einem Pogrom auf dem Napoleon-Platz.
Die Nachricht aus dem Spital, wo der böse zugerichtete Jedrek seinen Verletzungen erlag, traf später ein.
Brzozowski sah seinen Sohn erst in der Leichenhalle wieder.
Als sie von der Beerdigung zurückkehrten, fasste Mieteks Mutter Brzozowski im dunklen Flur an den Händen.
„ Unsere Kinder, unsere Kinder …“, flüsterte sie schluchzend.
Frau Brzozowska sagte mit schwerer Stimme:
„ Mietek … ja … aber warum denn mein Junge?“
Die Jüdin ließ Brzozowskis Hände los, als hätte sie sich verbrüht.
„ Dann soll also mein Sohn ein Verbrecher sein, dass er den Tod verdient hat? Und das sagt ihr, wo ihr ihn kennt vom ersten Tag an? Ihr?“

Jedreks Tod war „eine Verwechslung, ein Unglück bei der ganzen Aktion, für das wir nichts konnten“, entschuldigen sich die Täter kurze Zeit später und legen verstohlen Geld auf den Tisch. „… die Organisation sieht sich verpflichtet, die Kosten zu übernehmen, die entstanden sind.“

Brzozowski versucht am Ende der Erzählung, einen jungen Juden zu retten, während beim Teestündchen in der Vorstandsetage graumelierte Worte fallen.

„Manchmal vergesse ich, dass es Juden sind, und denke, dass es trotz allem schrecklich ist.“ […] „Dann werden wir es nämlich zu schätzen wissen als Lösung einer Frage, die wir selbst, und zwar allein unserer Sentimentalität wegen, nicht zur rechten Zeit zu lösen wussten und die wir … so fürchte ich … im Grunde auch niemals lösen könnten.“

Dem Ingenieur ist das zu kompliziert.

Mit ehrlich-heiterer Offenheit blickte er in die Runde und schloss mit einem leichten, von Herzen kommenden Ausruf: „Abschlachten, die Juden!“

Auch einundsiebzig Jahren nach ihrer Entstehung sind Herings Erzählungen von aktueller Brisanz.