Ulrike Almut Sandig: „Buch gegen das Verschwinden“

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Die letzten Zirbelkiefern
Ulrike Almut Sandig schreibt gegen den Verlust

Landschaften verschwinden, Menschen verschwinden, Erinnerungen verschwinden. Die Erinnerung an die Menschen schwindet. Am Ende stehen wir nackt in einer Landschaft, die uns fremd und lebensfeindlich entgegentritt. Menschen, die uns nahestanden, Menschen, die wir nur kurz kannten: im Moment des Verschwindens sind wir durcheinander, reagieren unkontrolliert emotional, doch dann, nach einer Zeit spüren wir den Verlust und wollen ihn nicht wahr haben.

Gegen den Verlust setzt Sandig die Kraft des Erinnerns, die sie als Autorin und Erzählerin einsetzt, um in fein gesponnenen Geschichten jene Situationen aufzuzeigen, bei denen etwas vom Rand her unscharf wird, zu verschwimmen beginnt. Vielleicht sind diese Momente der Beginn des Verlusts.

Mit den Augen verfolgte ich das verschwommene Sonnenlicht über alle Wände bis zu seinem vollständigen Verschwinden.
[aus: Weit unter uns die flüssigen Felsen]

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Various Artists: „Sun and Moon“

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Schöne, handgedruckte Bücher aus Chennai, Indien von taraBooks

Inzwischen hat taraBooks einen festen Platz bei meinen Rundgängen über die Frankfurter Buchmesse. Und jeder Jahr bin ich begeistert von neuen Büchern.

Für Sun and Moon haben 10 Künstlerinnen und Künstler aus den Regionen Madhya Pradesh, Gujarat, Bihar, Rajasthan und Orissa in eindrücklichen grafischen Arbeiten Mythen und Erzählungen ihrer Regionen über Sonne und Mond festgehalten.

Rozalie Hirs: „Ein Tag | Een Dag“

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Buchmesse Frankfurt am Main 2016:
Gastland Flandern und die Niederlande

Bei der ersten von hochroth und vom gutleut verlag organisierten Lyrikbuchhandlung während der Frankfurter Buchmesse lernte ich am zweiten Abend Rozalie Hirs, Komponistin und Lyrikerin aus Amsterdam, kennen.

hochroth hatte bereits 2014 mit Ein Tag | Een Dag ihre Lyrik als bilinguale Auswahl von Gedichten aus verschiedenen niederländischen Bänden ins Deutsche gebracht.

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Eva Bourke und Vincent Woods (Hrsg.): „fermata. Writings inspired by Music“

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Die Zeit anzuhalten, in der Bewegung innezuhalten, dem Fluss des Lebens eine (Lese-)Pause zu verschaffen, dabei die Vielfältigkeit und -stimmigkeit der Musik erlebbar zu machen, das ist das Ziel der gerade bei Artisan House (Letterfrack, Connemarra) erschienenen Anthologie fermata, die zeitgenössiche irische Lyrik und Prosa versammelt.

Die Herausgeber der Anthologie, Eva Bourke und Vincent Woods, haben auf über 250 Seiten bedeutende irische Stimmen, etwa Nobelpreisträger Seamus Heaney, Eiléan Ní Chuilleanáin, Paula Meehan, Moya Cannon, Rita Ann Higgins, Vona Groarke, Theo Dorgan, Matthew Sweeney, Colm Tóibín, gesammelt und zu einem großen Orchester aufgestellt, ergänzt um den von Eva Bourke übersetzten deutschen Lyriker Jan Wagner.

Die Heraushebung der genannten Autorinnen und Autoren belegt nur meine immer noch unzureichende Kenntnis der irischen Literatur, denn es sind viele Namen mehr, die mit ihren Beiträgen das Orchester bereichern.

Und so sitze ich nun gespannt im Publikum und erwarte das Konzert. Ich werde es nicht auf einmal konsumieren, bewältigen können. Ich muss meine Ohren schulen, damit sie die Feinheiten heraushören. Daher werde ich nach Konzertschluss diese Anthologie eine Weile mit mir herumtragen, willkürlich die Partitur aufschlagen und versuchen, mir die Melodiefolgen einzuprägen.

Buchdetails und Bestellung

Arundhathi Subramaniam: „Die Stadt brandete gegen mich“

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Die edition offenes feld legt mit Die Stadt brandete gegen mich Gedichte der indische Autorin Arundhathi Subramaniam in deutscher Übersetzung vor.

Die Auswahl aus den englischsprachigen Bänden Where I Live. Selected Poems und When God is a Traveller (Bloodaxe, 2009 bzw. 2014) lag in den Händen des Übersetzers und Schriftstellers Jürgen Brôcan.

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Erika Kronabitter: „La Laguna“

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Auch La Laguna von Erika Kronabitter ist, wie viele Bücher, die ich auf diesem Blog bespreche, ein Roman, der eine Familiengeschichte abhandelt. Abhandeln ist das falsche Wort. Das klingt nach nüchterner Analyse, großer Distanz, klingt nach Kopf, nicht nach Bauch.

Die Protagonistin Elena ist auf der Suche. Sie möchte als erwachsene Frau endlich verstehen, was damals in ihrer Familie geschehen ist. Ihr Vater Beppo war bereits verheiratet, als er auf Elenas Mutter Hanna, auf seine große Liebe, trifft, im Wien der fünfziger, sechziger Jahre.

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Wisława Szymborska: Wystarczy – Enough

Eine kleine Reihe über Bücher, die ich in Buchhandlungen außerhalb Deutschlands gekauft habe.

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Den Poesieband erstand ich in der Buchhandlung Tajne Komplety in Wrocław, der polnischen Europäischen Kulturhauptstadt 2016.

Wystarczy – Enough der polnischen Literaturnobelpreisträgerin von 1996 Wisława Szymborska beinhaltet die letzten Gedichte der Autorin in polnischer Sprache und in englischer Übersetzung durch die in den USA lebenden Irin Clare Cavanagh. Da diese Gedichte zur Zeit nicht in Deutsch vorliegen, ist es eine Annäherung an die Poesie der Polin, die 2012 in Krakau starb.

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Ervina Halili: „Der Schlaf des Oktopus“

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Schwanenhals und schwarzes Haar
Ervina Halilis Gedichte im Schwebezustand zwischen Traum und Tiefschlaf

In dem in der Edition Korrespondenzen, Wien 2016, herausgegebenen Gedichtband Der Schlaf des Oktopus der 1986 in Prishtina/Kosovo geborenen Lyrikerin Ervina Halili sind Träume allgegenwärtig. Und diese Traumwelten werden gefüllt mit einer sich wiederholenden Kulisse, die mich dazu verführt, fälschlicherweise an Gemälde von Marc Chagall zu denken (ich Pirouette einer vom Wolkenkratzer gefallenen Ballerina, aus: Ode an mich selbst), die ich aus einer lang zurückliegenden Erinnerung in meinem Gedächtnis aufrufe und die Figuren, Menschen, Tiere, die Natur und die vom Menschen geschaffene Umwelt mit schwebender Leichtigkeit erlebe, für einen kurzen Moment, bis sie verschwinden und nicht mehr greifbar sind.

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Hanne F. Juritz: „Ein Wolkenmaul fiel vom Himmel“

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Ein Lyrikband aus dem Jahr 1978 fiel mir aus dem Bücherregal im Prettlackschen Gartenhaus entgegen: Hanne F. Juritz, eine hessische Kollegin des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), von 1978 – 1982 Vorstandsvorsitzende des VS Hessen.

Mit Ein Wolkenmaul fiel vom Himmel las ich zum ersten Mal Gedichte der 1942 in Straßburg geborenen Dichterin. Und dieser erste Einblick verdeutlichte einmal mehr, wie zeitlos gute Lyrik ist, wie sie sich Zeitläufen und Zeitströmungen verweigert, im Gegensatz zur Covergestaltung!

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Literaturzeitschrift alba08: „Literatura chilena emergente / Aufstrebende chilenische Literatur“

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In der Rezension zu Antonia Torres: Umzug – Mudanza habe bereits über die Literaturzeitschrift alba. lateinamerika lesen gesprochen. Die Ausgabe alba 08 widmet sich der zeitgenössischen chilenischen Literatur und bietet mit einer Sammlung von Kurzprosa, Romanausschnitten, Lyrik sowie Interviews und literaturhistorischen Essays eine kompakte Annäherung an die Literatur dieses südamerikanischen Landes.

Die Mehrzahl der 28 Autorinnen und Autoren sind in den siebziger oder achtziger Jahren geboren. In annähernd allen Beiträgen wird die Erinnerung beschworen. Es wird auch dem Außenstehenden deutlich, wie die chilenische Gesellschaft durch die Pinochet-Diktatur unterjocht wurde.

Ich werde anhand einiger Textbeispiele aufzeigen, wie dieses belastete Erbe durch die junge Generation verarbeitet wurde. Doch zuvor möchte ich Benjamin Loy, verantwortlicher Redakteur von alba 08 und Übersetzer mehrere Texte in dieser durchgängig zweisprachigen Ausgabe, fragen, wo er Unterschiede im Umgang mit dem totalitären Erbe erkennt. Er schreibt mir:

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Antonia Torres: „Umzug – Mudanza“

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Auf der Leipziger Buchmesse 2016 fand eine von der Botschaft der Republik Chile organisierte Veranstaltung unter dem Titel Chilenische Gegenwartsliteratur zweistimmig – Literatura chilena actual a dos voces statt. Es lasen Lina Meruane (*1970 in Santiago) und Antonia Torres (*1975 in Valdivia). Moderiert wurde die Lesung von Benjamin Loy, Redakteur der in Berlin herausgegebenen Literaturzeitschrift alba. lateinamerika lesen, deren Nummer 08 sich ausschließlich der zeitgenössischen chilenischen Literatur widmet. Loy las die vorgestellten Texte in deutscher Sprache.

Mein Interesse an der chilenischen Literatur entspringt, allgemein gesprochen, der Neugier, im Speziellen der sich aus ihr abgeleiteten Zusage, den Lyrikband von Enrique Winter (*1982 in Santiago) oben das meer unter der himmel zu besprechen. Das Buch soll bei luxbooks erscheinen, es war bereits für 2015 angekündigt. Die Veröffentlichung verzögert sich leider aus verlagsinternen Gründen. In alba 08 findet sich der Vorabdruck eines Gedichtes, der mir eine Vorschau auf die bevorstehende Aufgabe gewährt.

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Kerstin Preiwuß: „Gespür für Licht“

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Aalmutter fang an
Kerstin Preiwuß mit Gespür für Licht

Hans Christian Andersen notiert in Eine Geschichte aus den Dünen den Satz: „Das Kindesalter hat für jeden seine Lichthöhen, die später durchs ganze Leben hindurchstrahlen.“ Kerstin Preiwuß nimmt uns in ihrer dritten Lyrikpublikation mit in einen geschützten Raum, der voller (Vor-)Freude und Ängste ist. Sie führt uns entlang der Jahreszeiten in die zweite Hälfte ihrer Schwangerschaft, zur Geburt und zum ersten Lebenshalbjahr ihres Kindes. Die Unsicherheit, die Verlustängste der (werdenden) Mutter sind in der Referenz zu Andersens Aalmutter festgehalten, einem dem Jahreszeitenzyklus vorangestellten Gedicht, in dem es heißt:

Ich habe kein Gespür für mich selbst
aber ein Gespür für Licht.

Ungeduldig wird das Frühjahr erwartet. Es ist bereits April und die Temperaturen sind immer noch um den Gefrierpunkt. Die Außenwelt verschmilzt nach wenigen Gedichten mit der Innenwelt. Sollte Mann überlesen haben, dass die Autorin das Wort Mutter bereits zweimal benutzt hat, so bringt sie mit überzeugender poetischen Kraft und Klarheit ihre Schwangerschaft zum Ausdruck.

Ich halte meine Hand an den Bauch.
Das Wasser schwappt gegen den Rand.
Die Waage zittert leicht.
Ich bin eine Höhle davor eine leere Hülle danach.

Wir dürfen die Entwicklung dieser beiden Menschen miterleben, spüren, wie sie sich annähern, dort, wo sie schon ganz nahe sind:
Du bist noch ein Fremdwort. – Noch hält die Fracht. – Ich bin da widerhallt mein Kind.

Spätestens im siebten Frühlingsgedicht kann ich eine literarische Analogie nicht mehr übersehen. Und ich möchte darüber sprechen. Ich habe solch zarte, der Außenwelt von innen heraus zugewandte Lyrik schon einmal gelesen. (Sicherlich lässt sich mehr als eine Seelenverwandtschaft finden, so alt die Mutterschaft ist, so lange ist sie bestimmt literarisches Thema.)

Mevina Puorger hat 2004 die Gedichte aus dem Nachlass von Luisa Famos unter dem Titel ich bin die schwalbe von einst zweisprachig, rätoromanisch und deutsch, herausgegeben. Kapitel III trägt den Titel Ich warte, dass der Kreis / Der Jahreszeiten sich schliesst. Am 25. November 1964 schreibt Famos:

Für mich war jener Tag
Der letzte meines Herbstes
So lichterfüllt
Vor allen andern lieb
So anders war der Himmel
In seinem tiefen Blau
Verwoben mit Wünschen und
Fragen ohne Antwort

Es lohnt sich, beide Bücher nebeneinanderzulegen und sich vorsichtig heranzutasten an das, was Mutter und Kind verbindet.

Kerstin Preiwuß gibt ihren Zweifeln, ihren Ängsten Raum. Da ist nicht nur die frohe Erwartung, eine Mystifizierung der Mutterschaft, wie sie ohnehin nicht mehr in die moderne Gesellschaft passt. Was man von einer Dichterin erwarten darf, erfüllt Preiwuß. Sie arbeitet präzise an der Sprache und nimmt dabei intime Augenblicke nicht aus. Sie rückt rücksichtslos ihre Schwächen ins Licht, um daraus poetisch wie persönlich Kraft zu gewinnen für das neue Leben.

Ich will verschwimmen bis ich unsichtbar bin.
Wie Wasser im Fluss nicht zu erkennen
wann es an Fahrt gewinnt
und wie es vor und zurückschnellt.

Und an anderer Stelle dieser wunderbare Aufschrei:

Guten Morgen du rapsgeiles Land.
Alles prima heute.
Ich bin im Gleichgewicht.

In dem Gedicht über die Geburt kulminiert der Zweifel, der Schmerz.

Enge treibt mich.
Wehe bin ich
hab noch nichts zur Welt gebracht
[…]
Immer noch eng der Kanal.
Verformt mir’s Ah.
[…]
Danach weht Wind.
Danach schmutziges Kind.
Danach blauer Himmel.

Nach der Geburt, in der Lebensphase, in der der Säugling ganz von der Mutter abhängig ist, wechseln Zuversicht, Ungeduld und tiefe Zweifel in schneller Folge. Dabei wendet sich die Mutter verstärkt der Außenwelt zu, ruft regelrecht nach Impulsen von außen, die sie aus ihrer Situation herausreißen.

Leben benötigt Zeit auf einem Planeten.
Ich muss das anerkennen.

Ich will fortgehen weil ich nicht weiß was das ist.

Ich weiß gar nicht mehr ob es mich gibt.

Ich zerbreche.

Das sind Aussagen, die andere Mütter in ähnlicher Form äußern. Sie zeugen von der kraftraubenden Arbeit, die frau bewältigt, um Kinder aufzuziehen.

Bin leer in mir ein Gefäß innen
und außen Material aus Welt.
Osmose ausgeschnitten
heißt erkennen was man schon weiß.

Wenn Preiwuß ihren Band mit dem Volkslied Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder … eröffnet, zeigt sie: sie ist sich bewusst, ihre Mutterschaft steht in einer langen Generationsfolge, in die die 1980 geborene Lyrikerin sich nun einordnet. Sie ist nicht klüger als andere Mütter. Sie formt neue Sätze, neue Bilder, darin enthalten die Lebenserfahrung anderer. Es sind poetisch kraftvolle Bilder, die sie ihrem Kind und sich widmet.