Verena Boos: „Blutorangen“

Die blauen und die roten Pillen

Sie kommt schlecht damit klar, aber sie würde es wieder gleich machen, wieder die rote Pille nehmen. Sie hätte die blauen Pille wählen können: man geht ins Bett, und am nächsten Morgen erinnert man sich an nichts mehr, Entscheidet man sich für die rote: die Welt, wie sie wirklich ist. Das Schattenreich, in dem Antonio zu zittern begann, als sie erzählte, in aller Unschuld, dass ihr Vater bei der Guardia Civil gewesen war.

Sie, das ist Maite, eine junge Spanierin, die mit einem Austauschprogramm zum Studium nach München kommt, ins wiedervereinte Deutschland des Jahres 1990. Sie kommt aus einer erzkonservativen Familie, in dem der Antikommunismus immer hochgehalten wurde und auch Jahrzehnte nach Francos Tod die Essenz des Familienlebens ausmacht, eines Familienleben, das von Maites strengen Vater Francisco gelenkt und bestimmt wird. Maite mit ihrem jugendlichem Elan schert aus der Familienlinie aus, macht bei Aktionen der Linken mit, ein enfant terrible, das droht, das Ansehen der Familie zu schädigen. So stimmt der Vater zu, die Tochter nach Deutschland zu schicken, freilich unter von ihm diktierten Auflagen.

Verena Boos führt uns in ihrem inzwischen mehrfach preisgekrönten Debüt Blutorangen in unbearbeite Geschichtsfelder des Faschismus und des Franquismus, in Zonen, wo im übertragenen und wörtlichen Sinne noch Leichen verborgen sind, zugeschüttet durch Erdreich und Schweigen.
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Dina Sikirić: „Was den Fluss bewegt“

Heil-Land wird kommen
Dina Sikirićs literarisches Debüt „Was den Fluss bewegt“

Die Erzählung der 1955 in Zagreb geborenen Autorin ist ein Werk von ergreifender Zartheit, dem gelingt, lange zurückliegende Kindheitserinnerungen lebendig werden zu lassen und die Zerrissenheit des Kindes zwischen Herkunftsland und Hinkunftsland in prägnante Sprache umzusetzen.

Das Herkunftsland heißt Jugoslawien, das Hinkunftsland ist die Schweiz. Die Gründe für den Weggang aus der Heimat sind weder Krieg, noch politische Verfolgung, noch wirtschaftliche Gründe.

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Ulrike Almut Sandig: „Buch gegen das Verschwinden“

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Die letzten Zirbelkiefern
Ulrike Almut Sandig schreibt gegen den Verlust

Landschaften verschwinden, Menschen verschwinden, Erinnerungen verschwinden. Die Erinnerung an die Menschen schwindet. Am Ende stehen wir nackt in einer Landschaft, die uns fremd und lebensfeindlich entgegentritt. Menschen, die uns nahestanden, Menschen, die wir nur kurz kannten: im Moment des Verschwindens sind wir durcheinander, reagieren unkontrolliert emotional, doch dann, nach einer Zeit spüren wir den Verlust und wollen ihn nicht wahr haben.

Gegen den Verlust setzt Sandig die Kraft des Erinnerns, die sie als Autorin und Erzählerin einsetzt, um in fein gesponnenen Geschichten jene Situationen aufzuzeigen, bei denen etwas vom Rand her unscharf wird, zu verschwimmen beginnt. Vielleicht sind diese Momente der Beginn des Verlusts.

Mit den Augen verfolgte ich das verschwommene Sonnenlicht über alle Wände bis zu seinem vollständigen Verschwinden.
[aus: Weit unter uns die flüssigen Felsen]

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Various Artists: „Sun and Moon“

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Schöne, handgedruckte Bücher aus Chennai, Indien von taraBooks

Inzwischen hat taraBooks einen festen Platz bei meinen Rundgängen über die Frankfurter Buchmesse. Und jeder Jahr bin ich begeistert von neuen Büchern.

Für Sun and Moon haben 10 Künstlerinnen und Künstler aus den Regionen Madhya Pradesh, Gujarat, Bihar, Rajasthan und Orissa in eindrücklichen grafischen Arbeiten Mythen und Erzählungen ihrer Regionen über Sonne und Mond festgehalten.

Rozalie Hirs: „Ein Tag | Een Dag“

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Buchmesse Frankfurt am Main 2016:
Gastland Flandern und die Niederlande

Bei der ersten von hochroth und vom gutleut verlag organisierten Lyrikbuchhandlung während der Frankfurter Buchmesse lernte ich am zweiten Abend Rozalie Hirs, Komponistin und Lyrikerin aus Amsterdam, kennen.

hochroth hatte bereits 2014 mit Ein Tag | Een Dag ihre Lyrik als bilinguale Auswahl von Gedichten aus verschiedenen niederländischen Bänden ins Deutsche gebracht.

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Eva Bourke und Vincent Woods (Hrsg.): „fermata. Writings inspired by Music“

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Die Zeit anzuhalten, in der Bewegung innezuhalten, dem Fluss des Lebens eine (Lese-)Pause zu verschaffen, dabei die Vielfältigkeit und -stimmigkeit der Musik erlebbar zu machen, das ist das Ziel der gerade bei Artisan House (Letterfrack, Connemarra) erschienenen Anthologie fermata, die zeitgenössiche irische Lyrik und Prosa versammelt.

Die Herausgeber der Anthologie, Eva Bourke und Vincent Woods, haben auf über 250 Seiten bedeutende irische Stimmen, etwa Nobelpreisträger Seamus Heaney, Eiléan Ní Chuilleanáin, Paula Meehan, Moya Cannon, Rita Ann Higgins, Vona Groarke, Theo Dorgan, Matthew Sweeney, Colm Tóibín, gesammelt und zu einem großen Orchester aufgestellt, ergänzt um den von Eva Bourke übersetzten deutschen Lyriker Jan Wagner.

Die Heraushebung der genannten Autorinnen und Autoren belegt nur meine immer noch unzureichende Kenntnis der irischen Literatur, denn es sind viele Namen mehr, die mit ihren Beiträgen das Orchester bereichern.

Und so sitze ich nun gespannt im Publikum und erwarte das Konzert. Ich werde es nicht auf einmal konsumieren, bewältigen können. Ich muss meine Ohren schulen, damit sie die Feinheiten heraushören. Daher werde ich nach Konzertschluss diese Anthologie eine Weile mit mir herumtragen, willkürlich die Partitur aufschlagen und versuchen, mir die Melodiefolgen einzuprägen.

Buchdetails und Bestellung

Arundhathi Subramaniam: „Die Stadt brandete gegen mich“

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Die edition offenes feld legt mit Die Stadt brandete gegen mich Gedichte der indische Autorin Arundhathi Subramaniam in deutscher Übersetzung vor.

Die Auswahl aus den englischsprachigen Bänden Where I Live. Selected Poems und When God is a Traveller (Bloodaxe, 2009 bzw. 2014) lag in den Händen des Übersetzers und Schriftstellers Jürgen Brôcan.

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Erika Kronabitter: „La Laguna“

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Auch La Laguna von Erika Kronabitter ist, wie viele Bücher, die ich auf diesem Blog bespreche, ein Roman, der eine Familiengeschichte abhandelt. Abhandeln ist das falsche Wort. Das klingt nach nüchterner Analyse, großer Distanz, klingt nach Kopf, nicht nach Bauch.

Die Protagonistin Elena ist auf der Suche. Sie möchte als erwachsene Frau endlich verstehen, was damals in ihrer Familie geschehen ist. Ihr Vater Beppo war bereits verheiratet, als er auf Elenas Mutter Hanna, auf seine große Liebe, trifft, im Wien der fünfziger, sechziger Jahre.

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Wisława Szymborska: Wystarczy – Enough

Eine kleine Reihe über Bücher, die ich in Buchhandlungen außerhalb Deutschlands gekauft habe.

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Den Poesieband erstand ich in der Buchhandlung Tajne Komplety in Wrocław, der polnischen Europäischen Kulturhauptstadt 2016.

Wystarczy – Enough der polnischen Literaturnobelpreisträgerin von 1996 Wisława Szymborska beinhaltet die letzten Gedichte der Autorin in polnischer Sprache und in englischer Übersetzung durch die in den USA lebenden Irin Clare Cavanagh. Da diese Gedichte zur Zeit nicht in Deutsch vorliegen, ist es eine Annäherung an die Poesie der Polin, die 2012 in Krakau starb.

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Ervina Halili: „Der Schlaf des Oktopus“

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Schwanenhals und schwarzes Haar
Ervina Halilis Gedichte im Schwebezustand zwischen Traum und Tiefschlaf

In dem in der Edition Korrespondenzen, Wien 2016, herausgegebenen Gedichtband Der Schlaf des Oktopus der 1986 in Prishtina/Kosovo geborenen Lyrikerin Ervina Halili sind Träume allgegenwärtig. Und diese Traumwelten werden gefüllt mit einer sich wiederholenden Kulisse, die mich dazu verführt, fälschlicherweise an Gemälde von Marc Chagall zu denken (ich Pirouette einer vom Wolkenkratzer gefallenen Ballerina, aus: Ode an mich selbst), die ich aus einer lang zurückliegenden Erinnerung in meinem Gedächtnis aufrufe und die Figuren, Menschen, Tiere, die Natur und die vom Menschen geschaffene Umwelt mit schwebender Leichtigkeit erlebe, für einen kurzen Moment, bis sie verschwinden und nicht mehr greifbar sind.

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Hanne F. Juritz: „Ein Wolkenmaul fiel vom Himmel“

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Ein Lyrikband aus dem Jahr 1978 fiel mir aus dem Bücherregal im Prettlackschen Gartenhaus entgegen: Hanne F. Juritz, eine hessische Kollegin des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), von 1978 – 1982 Vorstandsvorsitzende des VS Hessen.

Mit Ein Wolkenmaul fiel vom Himmel las ich zum ersten Mal Gedichte der 1942 in Straßburg geborenen Dichterin. Und dieser erste Einblick verdeutlichte einmal mehr, wie zeitlos gute Lyrik ist, wie sie sich Zeitläufen und Zeitströmungen verweigert, im Gegensatz zur Covergestaltung!

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Literaturzeitschrift alba08: „Literatura chilena emergente / Aufstrebende chilenische Literatur“

alba08

In der Rezension zu Antonia Torres: Umzug – Mudanza habe bereits über die Literaturzeitschrift alba. lateinamerika lesen gesprochen. Die Ausgabe alba 08 widmet sich der zeitgenössischen chilenischen Literatur und bietet mit einer Sammlung von Kurzprosa, Romanausschnitten, Lyrik sowie Interviews und literaturhistorischen Essays eine kompakte Annäherung an die Literatur dieses südamerikanischen Landes.

Die Mehrzahl der 28 Autorinnen und Autoren sind in den siebziger oder achtziger Jahren geboren. In annähernd allen Beiträgen wird die Erinnerung beschworen. Es wird auch dem Außenstehenden deutlich, wie die chilenische Gesellschaft durch die Pinochet-Diktatur unterjocht wurde.

Ich werde anhand einiger Textbeispiele aufzeigen, wie dieses belastete Erbe durch die junge Generation verarbeitet wurde. Doch zuvor möchte ich Benjamin Loy, verantwortlicher Redakteur von alba 08 und Übersetzer mehrere Texte in dieser durchgängig zweisprachigen Ausgabe, fragen, wo er Unterschiede im Umgang mit dem totalitären Erbe erkennt. Er schreibt mir:

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