Ulrike Almut Sandig: „Buch gegen das Verschwinden“

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Die letzten Zirbelkiefern
Ulrike Almut Sandig schreibt gegen den Verlust

Landschaften verschwinden, Menschen verschwinden, Erinnerungen verschwinden. Die Erinnerung an die Menschen schwindet. Am Ende stehen wir nackt in einer Landschaft, die uns fremd und lebensfeindlich entgegentritt. Menschen, die uns nahestanden, Menschen, die wir nur kurz kannten: im Moment des Verschwindens sind wir durcheinander, reagieren unkontrolliert emotional, doch dann, nach einer Zeit spüren wir den Verlust und wollen ihn nicht wahr haben.

Gegen den Verlust setzt Sandig die Kraft des Erinnerns, die sie als Autorin und Erzählerin einsetzt, um in fein gesponnenen Geschichten jene Situationen aufzuzeigen, bei denen etwas vom Rand her unscharf wird, zu verschwimmen beginnt. Vielleicht sind diese Momente der Beginn des Verlusts.

Mit den Augen verfolgte ich das verschwommene Sonnenlicht über alle Wände bis zu seinem vollständigen Verschwinden.
[aus: Weit unter uns die flüssigen Felsen]

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Eva Bourke und Vincent Woods (Hrsg.): „fermata. Writings inspired by Music“

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Die Zeit anzuhalten, in der Bewegung innezuhalten, dem Fluss des Lebens eine (Lese-)Pause zu verschaffen, dabei die Vielfältigkeit und -stimmigkeit der Musik erlebbar zu machen, das ist das Ziel der gerade bei Artisan House (Letterfrack, Connemarra) erschienenen Anthologie fermata, die zeitgenössiche irische Lyrik und Prosa versammelt.

Die Herausgeber der Anthologie, Eva Bourke und Vincent Woods, haben auf über 250 Seiten bedeutende irische Stimmen, etwa Nobelpreisträger Seamus Heaney, Eiléan Ní Chuilleanáin, Paula Meehan, Moya Cannon, Rita Ann Higgins, Vona Groarke, Theo Dorgan, Matthew Sweeney, Colm Tóibín, gesammelt und zu einem großen Orchester aufgestellt, ergänzt um den von Eva Bourke übersetzten deutschen Lyriker Jan Wagner.

Die Heraushebung der genannten Autorinnen und Autoren belegt nur meine immer noch unzureichende Kenntnis der irischen Literatur, denn es sind viele Namen mehr, die mit ihren Beiträgen das Orchester bereichern.

Und so sitze ich nun gespannt im Publikum und erwarte das Konzert. Ich werde es nicht auf einmal konsumieren, bewältigen können. Ich muss meine Ohren schulen, damit sie die Feinheiten heraushören. Daher werde ich nach Konzertschluss diese Anthologie eine Weile mit mir herumtragen, willkürlich die Partitur aufschlagen und versuchen, mir die Melodiefolgen einzuprägen.

Buchdetails und Bestellung

Erika Kronabitter: „La Laguna“

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Auch La Laguna von Erika Kronabitter ist, wie viele Bücher, die ich auf diesem Blog bespreche, ein Roman, der eine Familiengeschichte abhandelt. Abhandeln ist das falsche Wort. Das klingt nach nüchterner Analyse, großer Distanz, klingt nach Kopf, nicht nach Bauch.

Die Protagonistin Elena ist auf der Suche. Sie möchte als erwachsene Frau endlich verstehen, was damals in ihrer Familie geschehen ist. Ihr Vater Beppo war bereits verheiratet, als er auf Elenas Mutter Hanna, auf seine große Liebe, trifft, im Wien der fünfziger, sechziger Jahre.

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Theo Harych: „Hinter den schwarzen Wäldern“

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Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, während unseres Polen-Urlaubs die begonnene Lektüre Czesław Miłoszs Tal der Issa zu beenden. Unser Gastgeber Henryk empfahl mir ein anderes Buch, nicht aus mangelnder Hochachtung vor Miłosz, sondern weil die Handlung jenes Buch in der Gegend, in der wir uns befanden, spielt.

Welche Gegend ist das? Grob skizziert die Grenzregion zwischen Niederschlesien und Großpolen, in etwa einem Dreieck zwischen Odolanów (Adelnau), Ostrów Wiełkopolski und Ostrzeszów (Schildberg).

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Adriaan van Dis: „Nathan Sid“

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Die 1983 erschienene Novelle Nathan Sid des 1946 geborenen, niederländischen Schriftstellers Adriaan van Dis (deutsche Erstausgabe 1988, Übersetzer: Siegfried Mrotzek) ist von betörender Schönheit.

Da schreibt ein Erwachsener das Buch der eigenen Kindheit, gibt seiner Einsamkeit, seiner Traurigkeit, seiner Verlorenheit Raum, viel Raum, und versteht es doch, in luftig geschriebenen Kapiteln so etwas wie eine frohe Erinnerung aufzunotieren. Das ist zauberhaft, gerade weil die Kindheitsbilder nicht zuckersüß sind, keine Madeleines de Proust! Sie neigen nicht zur Verklärung, sondern sind sauer, sind gallig. Im wörtlichen Sinne, denn der an Hautausschlägen leidenden Junge wird mit Ochsengallenseife, Zitronensaft und Essigwasser gereinigt. Ma Sid, die fürsorgende Mutter, singt dazu die Verse:

Saures reinigt, Saures peinigt.
Saures im Blut, Saures gegen Eiter,
Saures gegen Furunkel, Karbunkel,
Saures kratzt nicht weiter.

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Senthuran Varatharajah: „Vor der Zunahme der Zeichen“

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vielleicht sprechen wir
Senthuran Varatharajahs Debüt

In seiner jüngsten Besprechung über Thomas Kunst stellt Fixpoetry-Kollege Kristoffer Cornils die Frage, was einem Verlag denn anderes übrig bleibt, als Prosa (in diesem Fall: „Freie Folge“) notdürftig als Roman zu deklarieren. Für das hier zu besprechende Buch möchte ich eine Antwort geben. Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, sich der Marktlogik widerspruchslos zu unterwerfen und jedweden Prosatext verkaufsfördernd als Roman zu bezeichnen. Ja, in dieser Schublade wird gerade das Geld gemacht, aber einem Verlag wie S. Fischer, in Deutschland als einer der Meinungs- und Marktführer anerkannt, sollte daran gelegen sein, sich handwerklicher Dinge zu erinnern. So eine Schublade ist nicht nur ein (Geld-)Behälter, sondern ein gefügtes Ganzes aus Einzelteilen, die sorgsam verarbeitet sind. Führungsleisten gab es da mal, früher! Heute flutscht sie ohne Kraftaufwand wie von Geisterhand zu.

Einen Roman als Roman zu bezeichnen, der keiner ist, birgt ein gewisses Risiko. Der Autor könnte ohne eigenes Zutun beschädigt werden. Erwartungshaltungen, die an den Roman herangetragen werden, entzieht sich Senthuran Varatharajah, Jahrgang 1984, bewusst. Er hat einen Nicht-Roman vorgelegt. Es gibt keine Handlung, es gibt keinen Spannungsbogen. Es handelt sich nicht einmal um einen Dialog zweier Menschen, sondern um zwei Monologe, die sich via Facebook die Trigger für den weiteren, assoziativen Gedankenfluss für die Dauer von sieben Tagen und Nächten zusenden.

Varatharajah lässt zwei Menschen miteinander chatten, beide haben einen Migrationshintergrund, der sie zu Außenseitern in der deutschen Mehrheitsgesellschaft macht. Senthil Vasuthevan ist Tamile, Valmira Surroi Kosovarin. Vielleicht sind sie sich schon einmal begegnet, im Netz der Freundschaften erscheint das zunächst möglich. Doch nach fast 24-stündigem Austausch, einem Abtasten, einer Durchsicht durch Profile und Freundeslisten kommen beide zu dem Schluss:

Valmira Surroi 23:57
Wir sind uns also nie begegnet.

Senthil Vasuthevan 23:58
wir hätten uns nie begegnet sein können.

Es ist nicht klar, warum beide an dieser Stelle weitermachen, mit dem Sprechen, das kein Sprechen, sondern ein Schreiben ist. Es entsteht ein Austausch, der nicht davon lebt, dass eine Person auf die andere eingeht, im Sinne von Einfühlsamkeit und Zartheit. Ihr Chat legt Zeugnis einer Fremdheit ab. Sie stellt die Verbindung, das spüren beide, her. Es ist eine drahtlose, eine, deren Signalstärke hervorragend ist.

Varatharajah stellt seinem Text ein Bibelzitat voran. „Woher bist du? Jesus aber gab ihm keine Antwort.“ (Johannes 19:9). Von Beginn an wird ein hoher Ton angeschlagen, Anspruch und Verweigerungshaltung zugleich. Der Autor, der Philosophie, evangelische Religion und Kulturwissenschaft studiert hat, geht mit seiner Sprache einen eigenen Weg. Sie kümmert sich nicht um Lesbarkeit, Verständlichkeit, ist mithin keine leichte Lektüre. Sie folgt einer inneren Logik, die an vielen Stellen scharf die Grammatik der Integration seziert, an anderen Stellen schlichtweg den Boden unter den Füßen verliert. Inhaltlich verweigert Varatharajah mit dem Zitat die Auskunft über seine Herkunft. Und in den biografischen Angaben des Schutzumschlags fehlt der Geburtsort. Es ist sein gutes Recht, als in Deutschland lebender Mensch mit gleichen Pflichten und Rechten anerkannt zu werden. Aber greift er nicht zu hoch, wenn er die Passionsgeschichte zitiert? „Da sprach Pilatus zu ihm: Redest du nicht mit mir?“ (Johannes 19:10).

Ich bekenne mich zu meiner Neugier. Wenn ich einen Menschen sehe, von dem ich aufgrund anderer Hautfarbe oder Sprache annehme, er komme aus einer anderen Region in dieser Welt, möchte ich fragen dürfen: Woher kommst du? Freilich geriet ich dabei schon an Menschen, die in zweiter oder dritter Generation hier leben und mir irgendeinen Ort in Deutschland nannten, in dem sie geboren wurden. Manche ließen mich im Regen stehen, als hätte ich wie die Buchhändlerin bei Varatharajah eine als Neugier schlecht getarnte rassistische Bemerkung gemacht.

… es könnte bereits mitte des semesters gewesen sein, fragte mich die buchhändlerin, nachdem ich die bücher auf den tresen gelegt hatte und sie sie zu scannen anfing, woher ich komme und ob ich mich hier oder in meinem heimatland wohler fühlen würde.

Dass die Frage nach der Herkunft nicht so leicht zu beantworten ist, nicht nur mit dem Verweis auf den Ort der Geburt, zeigt Valmira, wenn sie schreibt:

Einige meiner Freunde haben die Städte, aus denen ihre Eltern kamen, als ihre Heimatstadt angegeben, obwohl sie in Frankfurt, München oder Göttingen geboren wurden …

Vor der Zunahme der Zeichen ist ein sperriges Buch mit einem Titel, der zunächst nicht eingänglich ist. Nach dem Lesen der entsprechenden Textstelle bekommt er jedoch Gewicht und lastet schwer.

die sri lankische armee begann junge tamilische männer festzunehmen und verschwinden zu lassen. sie kamen ohne ankündigung. sie kamen durch wände. sie kamen tag und nacht. meine mutter sah, wie sie in einem jeep an ihrem haus vorbeifuhren. sie sagt, das sei ein zeichen. sie sagt, bevor diese zeichen zunehmen, vor der zunahme der zeichen sollte er gehen. er hätte keine zeit mehr.

Varatharajahs Debüt besitzt das Potenzial, bei den Lesern eine Langzeitwirkung zu entfalten. Diese Prosa leistet weit mehr als ein leicht konsumerabler Roman, der mit bewährten Stilmitteln hantiert. Der Verlag schreibt, der Text gehe über die Grenzen der Sprache und über die Brüche in Biographien. Abschließend ohne weitere Kommentare einige Ausschnitte, die das belegen könnten.

niemand wird wissen, von welchen rändern wir aus sprechen, und dass wir darüber sprechen können, ändert nichts daran.

vielleicht sprechen wir, um an das ende dieser und jeder möglichen sprache zu gelangen …

… als wollten sie die dinge aufbrechen, die wörter aufbrechen; vielleicht sind sie zu weit gegangen, vielleicht, vielleicht sind sie noch nicht weit genug gegangen, vielleicht ist das die art, wie sinn allein erscheint, unbeabsichtigt und unterwegs, auf der rückseite der zeichen, als buchstabenschatten, der selbst schatten wirft, als bewegung unter dem papier, verborgen, flüchtig …

wir werden uns zwischen den zeilen und zeichen verraten.

ich fange an. das tamilische namensrecht: der vorname des vaters wird der nachname der kinder sein. sie tragen den namen des vaters, aber er trägt einen, den eines anderen. hier, in deutschland, endet diese linie. wenn wir kinder haben sollten, werden sie nicht meinen vor-, sondern den unseres vaters als nachnamen erhalten. mit uns endet dieses gesetz. wir sind das ende.

als kind glaubte ich, dass das wort untersagen heißt, dass man unter dem sagen spricht, unter dem, was sagbar ist, und ich verstand nicht, wie versprechen beides sein konnte, eine zuverlässige sowie unzuverlässige rede, und dass einstellen ein anfangen und ein enden bedeuten konnte, auch das begriff ich nicht.

bis zur äußersten bedeutung müssen wir gehen und es wird nicht weit genug gewesen sein. wir gehen.

P. S. Varatharajah ist dem Wörterbuch meines Schreibprogramms unbekannt. Korrekturvorschlag: Rathausmarkt. Desweiteren: Vasuthevan, unbekannt, Vorschlag: Asylrelevant.

Etgar Keret: „Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn“

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Die Bonusmeilen der Abwesenheit
Etgar Keret als Sohn und Vater

„Du bist auch ein Kind“, sagt mein Sohn und nimmt meinem Argument den Wind aus den Segeln, „das Kind deiner Eltern!“ Er strahlt. Er weiß, er hat ins Schwarze getroffen. Denn obschon mein Vater vor vielen Jahren starb und ihn nicht kennenlernte, hat mein Sohn Recht. Kinder erinnern uns daran, dass wir in einer Traditionslinie stehen, die über den Tod hinaus Gültigkeit hat. Und als Erwachsener zum Elternteil zu werden, bedeutet nichts anderes, als ein Kind zu sein und zeitgleich ein Kind wachsen zu sehen.

Etgar Keret hat ein Buch geschrieben, das über diese Erfahrung berichtet. Es sind, daran lässt der Titel keinen Zweifel, sieben gute Jahre, die den Schriftsteller den Weg seines Sohnes ins Leben und den Weg seines Vaters aus dem Leben beobachten lassen. Er tut das mit einer gehörigen Portion Humor, die oftmals ins Derb-Übertriebene abgleitet und mit der ich wenig anfangen kann. Ist dies ein Schutzmechanismus, der uns gerade zu Vätern gewordenen Männern davor bewahrt, angesichts dieser völligen Umstellung der Lebensumstände, haltlos zu werden und die Fassung zu verlieren?

„Wie jeder wahre Abhängige hat er hinsichtlich seiner Freizeitgestaltung nicht die gleiche Anzahl von Optionen wie andere – zum Beispiel ein gutes Buch oder einen abendlichen Spaziergang oder die NBA-Playoffs. Für ihn gibt es nur zwei Möglichkeiten: eine Brust oder die Hölle. ‚Bald wirst du die Welt entdecken – Mädchen, Alkohol, illegales Glücksspiel‘, sage ich, um ihn zu beruhigen. Aber wir beide wissen, dass bis dahin nur die Brust existieren wird. Zum Glück für ihn und für uns hat er eine Mutter, die mit zweien davon ausgestattet ist. Worst-Case-Scenario: Wenn eine versagt, gibt es noch eine zum Ersatz.“

Klingt gut, locker-flockig geschrieben, aber eine sehr vereinfachte Sicht. Bei einem Milchstau haben alle in der Familie ein Problem: die Frau hat Schmerzen, das Kind schreit und der Mann sucht verzweifelt nach Quark im Kühlschrank.

Über die drei ersten Lebensjahre von Lev erfahren wir wenig, der Vater scheint weg weit, irgendwo unterwegs auf Lesungen und Literaturfestivals in der ganzen Welt. Wir lesen Geschichten, Anekdoten aus dem Leben eines Schriftstellers, die nicht selten eine unangenehme Ich-Bezogenheit ausatmen. Oder wir erleben den Autor über den Wolken als Vielflieger, versunken in Meditationen über den Inhalt der hochglänzenden Tax-Free-Magazine, wo er einen „unerklärlichen Anfall von Ernsthaftigkeit“ erlebt.

Glücklicherweise nehmen diese Anfälle zu. Je älter der Sohn wird, desto reifer, zärtlicher spiegeln sich im Buch Kerets Reflexionen über seine Doppelrolle als Vater und Sohn. Dabei geht der Humor nicht verloren, er wird feiner. Ich lese das als einen Annäherungsprozess, den ich als Vater gut nachvollziehen kann, als Leser nachvollziehen darf.

„Die Helden der Gutenachtgeschichten meines Vaters waren immer Trinker und Prostituierte, und als Kind hatte ich sie sehr, sehr gern. Ich wusste noch nicht, was ein Trinker und eine Prostituierte eigentlich waren, aber ich erkannte Magie, wenn ich sie sah, und die Geschichten meines Vaters waren voller Magie und Mitgefühl. Und jetzt, über sechzig Jahre später, stehe ich also hier, nicht weit von der Welt der Geschichten meiner Kindheit.“

Im Kapitel „Heldenverehrung“ nähert sich Keret seinem großen Bruder, es ist ein weiteres Beispiel für die leise Zärtlichkeit, mit der die Familie uns vorgestellt wird, „ohne die Stimme heben zu müssen.“ Diese Tonlage berührt mich.

Die Frage nach Abwesenheit ist vordergründig eine, die sich auf die Rollenverteilung innerhalb der Familie bezieht, das, was in der deutschen Gesellschaft heute unter dem Stichwort „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ diskutiert wird, zu selten von Männern. Kerets Buch vermittelt den spröden Eindruck, die Erziehung Levs sei hauptsächlich Sache seiner Frau.

Aber Abwesenheit hat hier eine weitere, tiefere Dimension. Kerets Eltern sind Überlebende der Shoah.

„Als Kind habe ich mir oft Polen vorgestellt. Meine Mutter, die in Warschau aufgewachsen war, hatte mir viele Geschichten über die Stadt erzählt, über den Jerusalem Boulevard (Aleje Jrozolimskie), wo sie geboren worden war und als kleines Mädchen gespielt hatte, und über das Ghetto, wo sie ihre Kinderjahre mit dem Kampf ums Überleben verbracht und ihre ganze Familie verloren hatte.“

„Während des Zweiten Weltkriegs versteckten sich mein Vater, seine Eltern und noch ein paar Menschen fast sechshundert Tage in einem Loch im Boden in einer polnischen Stadt. Das Loch war so klein, dass sie darin weder stehen noch sich hinlegen konnten, sondern nur sitzen.“

Ein Ort, an dem man stehen, sitzen und liegen kann, ist das nach Keret benannte Haus des polnischen Architekten Jakub Szczesny, das 2012 fertiggestellt wurde und mit 4,09 Quadratmeter als das kleinste Gebäude der Welt gilt. Es markiert als minimalistische Architektur und Mahnmal den ehemaligen Zugang zum Warschauer Ghetto, den Kerets Mutter nutzte, um Lebensmittel ins Ghetto zu schmuggeln. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts tat die polnische Regierung wenig, um die verbliebenen Baureste des Ghettos vor dem Zerfall zu schützen. Gedenktafeln und im Boden eingelassene Verläufe der Ghettomauer ermöglichten erst um etwa 2010, das Gedenken an das Ghetto zu visualisieren und im Stadtbild zu bewahren.

„Als ich aus dem Café zurückkomme, wartet am Eingang eine Nachbarin auf mich – eine Frau, die sogar noch älter ist als meine Mutter und Einmachgläser in Händen hält. Sie lebt auf der anderen Straßenseite, hat von dem schmalen Haus gehört und will den neuen israelischen Nachbarn mit hausgemachter Marmelade begrüßen.“

Eingedenk der perfiden Strategie der Deutschen, die Juden im Warschauer Ghetto zu Beginn der Deportationen im Juli 1942 zum Umschlagplatz zu locken – es wurde jedem, der dort freiwillig hingeht, Brot und Marmelade versprochen – ist diese hausgemachte Marmelade einer alten Frau aus Warschau eine irritierend wertvolle, vielleicht eine sich mit der Geschichte aussöhnende Metapher für An- und Abwesenheit.

Keret gelingt ein lebendiges Bild der israelischen Gesellschaft, die sich zwischen Bedrohung, Krieg und Hysterie, Modernität und tiefer, dem Autor suspekten, Religiosität bewegt. Als die Luftschutzsirene ertönt, wirft sich Familie Keret in den Straßengraben. Lev will nicht, bis der Vater das Sandwichspiel vorschlägt: Vater und Mutter sind die Brotscheiben, Lev der Belag (Pastrami: geräuchertes, rotes Fleisch!). So führt die Bedrohung zur Nähe, zur Anwesenheit, die sich das Kind fortwährend wünscht, gepresst zwischen Vater und Mutter, die ihre Körper als Schutzschilde anbieten.

 

Wieland Förster: „Die versiegelte Tür“

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10.02.2016 / Märkische Allgemeine:
Kunstraub in Brandenburg
„Penthesilea I“ von Wieland Förster gestohlen

12.02.2016 / Wieland Förster zum 86. Geburtstag!
Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Über einen Mann sprechen, dessen künstlerisches Werk als Bildhauer so umfangreich wie ausgezeichnet ist, der mir aber bis zur Lektüre des obigen Buchs völlig unbekannt war? Über eine Biografie sprechen, die exemplarisch dafür steht, wie die totalitären Systeme im Deutschland des 20. Jahrhunderts sich gegen den Menschen gestellt haben? Über das literarische Debüt des Künstlers aus dem Jahre 1982 sprechen, das ich jetzt unter dem Titel „Die versiegelte Tür“ im Regal alter Bücher fand?

Letztes Jahr zu seinem 85. Geburtstag gab es viele Beiträge über Leben und Werk Försters, beispielsweise auf Deutschlandradio Kultur.

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Phạm Thị Hoài: „Sonntagsmenü“

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„Sonntagmenü“ der 1960 geborenen vietnamesischen Schriftstellerin Phạm Thị Hoài versammelt elf Kurzgeschichten, die 1995 in deutscher Erstausgabe erschienen. Dieter Erdmann übersetzte die Texte ins Deutsche.

Das sind Sätze, die sich selbstverständlich hinschreiben, aber schon ungenau sind, was daran liegt, dass wir in der deutschen Sprache keine differenzierten Ausdrücke für Kurzprosa haben. Die Kurzgeschichte orientiert sich an der short story und meint eine ganz bestimmte Art der Kurzprosa. Die hier versammelte Kurzprosa unterscheidet sich in Länge, Tonart und Inhalt so sehr, dass es nicht leicht ist, diese Sprünge mitzuspringen.

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Drago Jančar: „Die Nacht, als ich sie sah“

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Der slowenische Schriftsteller Drago Jančar, 1948 im Maribor geboren, nimmt ein historisches Ereignis des Zweiten Weltkriegs auf, um in seinem neuen Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ die Frage nach Schuld und Wahrheit zu stellen.

Zu Beginn des Jahres 1944 wird ein Ehepaar von Partisanen aus einem Schloss in Slowenien gebracht. Die beiden werden der Kollaboration mit den SS verdächtigt. Leo Zarnik stirbt an Schlägen und Folterungen, Veronika, diese junge, attraktive, lebenshungrige und unabhängige Frau mehrfach vergewaltigt und schließlich getötet.

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James Salter: „Alles, was ist“

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Verloren zwischen Small-Talks und Sex

Der 1925 geborene, US-amerikanische Schriftsteller James Salter starb im Sommer dieses Jahres. Sein Roman „Alles, was ist“, 2013 als sechster Roman nach über 30 Jahren Pause geschrieben, muss demnach als Spätwerk und literarisches Vermächtnis gelesen werden. Das Werk wurde im Jahr des Erscheinens von Beatrice Howeg ins Deutsche übersetzt.

Meine Kenntnis der US-amerikanischen Literatur ist durch große Lücken gekennzeichnet, weshalb mir eine Einordnung des Autors und seines Werk in einen Gesamtzusammenhang schwer fällt. Auf der Coverrückseite wird Salter in einem Atemzug mit Philip Roth genannt, der schon lange als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gilt.

Salter entwirft eine Gesellschaftsbild der amerikanischen Mittelschicht, das vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhundert reicht.

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John Burnside: „Lügen über meinen Vater“

John Burnside: Lügen über meinen Vater

Ein Roman von fulminanter Wucht, würde ich mir, sollte ich für den Verlag eine Kritik von „Lügen über meinen Vater“ von John Burnside auf verwertbare, griffe Formeln untersuchen, markieren. Ich selbst lege bei der Auswahl meiner Lektüre keinen großen Wert auf diese Kritikerstimmenschnipsel, die auf der Rückseite abgedruckt sind und dort abbrechen, wo die Rezension ins Detail geht und differenziert.

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