Tschola Lomtatidse: „Die Beichte“

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Die Beichte“ des georgischen Revolutionärs und Schriftstellers Tschola Lomtatidse (1878 – 1915) versammelt fünf Erzählungen, die, wie wir aus dem Vorwort von Dato Barbakadse erfahren, der lyrischen Prosa und gleichsam der klassischen Moderne der georgischen Literatur zuzurechnen sind. Ins Deutsche übertragen wurden die Texte vom Artschil Chotiwari, Steffi Chotiwari-Jünger und Nino Stoica.

Diese uns in Mitteleuropa ferne Literatur zugänglich zu machen, ist ein Verdienst von Uli Rothfuss, dem Herausgeber der Kaukasischen Bibliothek, und dem Verleger Traian Pop.

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J.M.G. Le Clézio: „Onitsha“

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Mich in die Hände dieses Buches zu begeben, war eine gute Entscheidung. J.M.G. Le Clézio, Literatur-Nobelpreisträger von 2008, führt mich in „Onitsha“ (Übersetzung: Uli Wittmann) entlang der Westküste Afrikas zu immer neuen Orten, die meine Sehnsucht wecken und es mir ganz leicht machen, mich in den 12-jährigen Fintan hineinzuversetzen. Das Kind reist mit seiner noch jungen Mutter, die er nur noch „Maou“ nennt, nach Onitsha, um seinen unbekannten Vater zu treffen und dort als Familie zu leben.

Onitsha im Jahre 1948 ist ein kleiner Ort am Ufer des Nigers, in den sechziger Jahren Schauplatz von Krieg und Hunger (Biafra-Krieg), heute eine Millionenstadt im Süden Nigerias.

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Katja Petrowskaja: „Vielleicht Esther“

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„Statt rechtzeitig Fragen zu stellen, hatte ich mich am Wort Geschichte verschluckt.“

Katja Petrowskaja macht die Suche nach ihren Familienangehörigen zu einem Vornamen; all die gedachten Möglichkeiten, die die Fakten dort ersetzen müssen, wo die Leere, das Schweigen, der Verlust übermächtig ist, all die Zweifel, all die Verzweiflung an diesem Labyrinth „Familie“ : Vielleicht ist der erste Vorname, Esther der zweite Vorname ihrer Urgroßmutter.

Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau.
Wie, vielleicht?, fragte ich empört, du weißt nicht, wie deine Großmutter hieß?
Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt, erwiderte mein Vater, ich sagte Babuschka, und meine Eltern sagten Mutter.

Vielleicht Esther ist in Kiew geblieben. Sie bewegte sich in der plötzlich leer gewordenen Wohnung mit Mühe, das Essen brachten die Nachbarn. Wir dachten, fügte mein Vater hinzu, wir kämen bald zurück, aber wir sind erst nach sieben Jahren zurückgekommen.


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Robert Seethaler: „Der Trafikant“

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Weil ich Trafikant bin
Robert Seethaler schreibt „eine kleine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt“

Am Ende liegt eine „merkwürdige Stille über der Stadt“, die kurz darauf durch ein Vibrieren der Luft zerschnitten wird. Anezka beginnt, um ihr Leben zu laufen. Vielleicht tropft ihr noch einmal ein „Burschi“ aus dem Mund und vielleicht würde Franz, lebte er noch, ein letztes Mal antworten: „Nenn mich nicht Burschi! Mein Name ist Franz Huchel.“ Es ist der 12. März 1945, die Alliierten schicken sich an, ihre Bomben über Wien abzuwerfen.

Romane, deren Spannungsbögen außerhalb der erzählten Geschichte liegen, können von hinten nach vorne besprochen werden. Sie laufen keine Gefahr, vom Kritiker die Pointe zerredet zu bekommen. Robert Seethalers 2012 veröffentlichter Roman „Der Trafikant“ gehört in diese Kategorie. Wir lesen die Geschichte des Franz Huchel vom Anfang und im Grunde wissen wir anhand der geschichtlichen Fakten vom Ende. Alles fügt sich selbstverständlich und leicht, unabhängig von der Schwergewichtigkeit der Handlung, die in den Jahren 1937 und 1938 angelegt ist.

Am 7. Juni 1938 wird Franz von der Gestapo abgeholt und im Hotel Metropol einer Behandlung unterzogen, die er nicht überleben wird. Zuvor hatte er mit dem Finger auf Wien gezeigt, als er die Hose seines bereits ermordeten Lehrmeisters Otto Trsnjek an einem Fahnenmast hisste, wo zuvor eine Hakenkreuzfahne aufgezogen war.

Jeder hat sich mit jedem gestritten, und alle haben alle angeschrien, und vor lauter Aufregung hat man ziemlich lang nicht daran gedacht, die Hose von da oben herunterzuholen. Als dann aber endlich doch einer auf die Idee gekommen ist, an der Leine zu ziehen, ist etwas wirklich Bemerkenswertes passiert. Genau in diesem Moment ist nämlich ein Wind aufgekommen. […] Das war keine normale Hose. Es war praktisch nur eine halbe. Eine einbeinige Hose war das. Das andere Hosenbein war ungefähr auf Kniehöhe abgeschnürt. […] Und für einen kurzen Augenblick hat dieses braune, zerknitterte und schon ein bisserl ausgebeulte Hosenbein dort oben am Himmel ausgesehen wie ein Zeigefinger. Wie ein riesiger Zeigefinger, der den Leuten den Weg weist. Wohin der genau gezeigt haben soll, bleibt natürlich allerhöchstens Spekulation. In jedem Fall aber, wenn Sie mich fragen, weit, weit weg.

Am 4. Juni 1938 verlässt Professor Dr. Sigmund Freud mit seiner Familie Wien. Die Reichsfluchtsteuer hat einen Großteil des Vermögens aufgezehrt. Franz kommt noch an den Bahnsteig, kann aber wegen des Gedränges auf dem Bahnsteig nur aus der Ferne beobachten, wie Tochter Anna, Freud in den Waggon schiebt.

Am 3. Juni 1938, bei ihrem letzten Gespräch, hatte Franz zu Freud gesagt:

„Und Sie kommen ja zurück. In jedem Fall und ganz bestimmt kommen Sie zurück. Weil Heimat ist Heimat, und Zuhause ist Zuhause. Und irgendwann wird sich der Hitler wieder beruhigt haben. Und alle anderen auch. Und alles wird wieder so sein wie früher. Oder was meinen Sie, Herr Professor?“

Anezka, dieses böhmische Mädchen, das Franz‘ Hormonhaushalt so durcheinander bringt, ist jetzt mit einem SS-Offizier zusammen.

„ Ach so ist das“, sagte Franz nach einer Weile. Anezka blinzelte träge.
„ Ja, so ist das“, antwortete sie.

Am 16. Mai 1938 werden Franz die persönlichen Gegenstände von Otto zugestellt. Es ist die Mitteilung „vom Ableben des Ihnen bekannten Trafikanten Herrn Otto Trsnjek“.

In vielen kleinen Schritten ließe sich die Handlung rückverfolgen, etwa der Tag, an dem Franz beginnt, seine Träume zu notieren und auf das Schaufenster der Trafik zu kleben, Ottos Verhaftung, Franz‘ Sex mit Anezka, die Schmierereien an der Trafik („Judenfreund“), Franz‘ Gespräche mit Freud über das weibliche Geschlecht, die Postkarten, die Franz seiner Mutter schickt, die ersten Lehrtage in der Trafik, diesem kleinen Laden, wo sich Zeitschriften, Zeitungen und Rauchwaren stapeln, wie Otto seinen Lehrling lehrt, Zeitungen zu lesen und sich ruhig zu verhalten, Franz‘ Ankunft in Wien. Alles Schritte hin zur Exposition:

An einem Sonntag im Spätsommer des Jahres 1937 zog ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über das Salzkammergut, das dem bislang eher ereignislos vor sich hin tröpfelnden Leben Franz Huchels eine ebenso jähe wie folgenschwere Wendung geben sollte.

Es sind schon viele lobende Worte über Buch und Autor aus den Trichtern maßgeblicher Feuilletonredaktionen in die Welt gegangen. Da macht es wenig Sinn, drei Jahre nach Erscheinen des Buches hinterherzukommen wie „die alt Fasnacht“, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Lieber nutze ich den mir gebotenen Raum, einem Tagtraum zu folgen und eine literarische Analogie aufzuzeigen.

Am Gleis II des Wiener Westbahnhofs saßen vierhundertzweiundfünfzig politische Gefangene zusammengedrängt in den hinteren Waggons eines Sonderzugs und warteten auf die Abfahrt nach Dachau. Am gegenüberliegenden Bahnsteig saßen eine alte Frau und ein kleiner Bub nebeneinander auf einer Bank und bissen abwechselnd von einem großen Butterbrot ab. […] Als das Pfeifsignal zur Abfahrt losschrillte und der Zug sich in Bewegung setzte, hüpfte der Bub von der Bank und lief winkend und lachend den Bahnsteig entlang. In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames: Alle Gefangenen an den Fenster winkten zurück.

Warum werde ich das Bild des Trafikanten Otto nicht los, der Einbeinige, der sich mit seinen Krücken durch die Welt bewegt? Ich sehe dieses Kind und ich sehe tagträumend Otto in diesem Deportationszug. Und ich sehe das Winken des Kindes. Das erinnert mich an einen Text, der mich damals im Deutschunterricht der sechsten Klasse sehr gerührt hatte. Eben habe ich nachgeschaut und bin erstaunt: „Die Nacht im Hotel“ von Siegfried Lenz ist aus dem Jahr 1949. Nie hatte ich mit diesem Text Wunden aus einem gerade zu Ende gegangenen Krieg in Verbindung gebracht. Vielmehr die eigene Verletzlichkeit aus meinen Kindertagen der Siebziger Jahre. Wie auch immer: die Melodie, die Seethaler in dieser Szene anspielt, findet sich bei Lenz in der Begegnung des winkenden Kindes am beschrankten Bahnübergang und dem Zurückwinken des Versehrten mit dem an einer Krücke festgebundenen Taschentuch wieder. In einem kurzen Moment treffen sich bei Lenz und bei Seethaler Ungleiche, für einen kurzen Moment erkennen sie sich in ihrer Menschlichkeit. Das ist großartig.

Maria Knissel: „Spring!“

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Das System Margot

Die Verletzung ist aufgebrochen. Nicht der Bänderriss, nicht der Muskelfaserriss, nicht die ungezählten blauen Flecken auf fast allen Knochen meines Körpers, die zum Glück von Brüchen verschont geblieben sind, nicht die „Heidelbeeren“ genannten Blutblasen an den Händen, nicht die eingerissene Haut an den Fingerkuppen, die sich schon seit weit mehr als einem Vierteljahrhundert nicht mehr durch die engen Fingerlöcher der Röllchenriemchen schieben müssen. Die Verletzung ist die tief greifende Erniedrigung, die sich im Körper eines Kindes versteckt hat, das von der Teilnahme an Olympischen Spielen träumte, nur weil jemand von Talent gesprochen hatte; und dann war ich in die Falle der Durchhalteparolen getappt. Ohne Fleiß kein. Du kannst jetzt nicht abbrechen! Du musst den Satz zu Ende führen. Nein, muss ich nicht! Ich höre auf, wann ich will.

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Jan Koneffke: „Vor der Premiere“

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Borg, Cotta und Strauch

Ich beschäftige mich gerne mit dem Frühwerk von Prosaautoren, insbesondere mit ihren Erstlingen. Meist mit zeitlich großem Abend, wenn die Autoren schon große, ganz große Namen haben und hoffentlich von ihrem Schreiben leben können.

Dieser Tage fand ich im Spendenregal einer Kirchengemeinde die Erzählung „Vor der Premiere“ von Jan Koneffke aus dem Jahr 1988. Koneffke, 1960 in Darmstadt geboren, kenne ich als fachkundiger Juror beim Leonce-und-Lena-Preis. Eigentlich unverzeihlich, den Autoren Koneffke nicht zu kennen. Jetzt konnte ich das nachholen.

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Zsuzsanna Gahse: „JAN, JANKA, SARA und ich“

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Büren TG
Ein urbanes Puzzle aus sichtbaren und unsichtbaren Teilen

Zsuzsanna Gahse hat ihrer Leserschaft mit dem im August erschienenen Buch ein Puzzle geschenkt. Ich mag dieses Geduldsspiel; die Ecken sind schnell heraussortiert, die Randteile ohne Probleme zusammengefügt, doch dann wird es schwieriger. Am Ende liegt ein Bild vor mir, das vortäuscht, einen Gesamtblick auf die Landschaft zu gewähren. Doch ohne die unsichtbaren Teile, die im Verborgenen darauf warten, sich den Personen zu öffnen, die sich nicht mit dem ersten Eindruck zufrieden geben, bleibt das Spiel unvollständig.

Die Eckteile
Die Personen setze ich in die Ecken. Jan, Janka, Sara und die „ich“ genannte Stimme bilden meinen Ausgangspunkt. Hinzu kommen weitere zwanzig Personen, die in unterschiedlicher Länge und Häufigkeit Auskunft geben über das, was sie bewegt. Sie geben ihre freimütigen Meinungen in einem Tonstudio in Büren zu Protokoll, das sich, sozusagen als freiheitlich-demokratische Instanz, verpflichtet, diese Audio-Sammlung der Einheimischen und ihrer Besucher vor einer Verwertung dauerhaft zu schützen. Das Ich lebt unten im Tal (Talstimme) und wirft einen anderen Blick auf Büren, diese rasant wachsende Stadt auf dem Wellenberg.

Wir züchten hier Häuser, in erster Linie Rassehäuser. Jeder soll zwei Wohnungen oder Häuser haben, wegen des guten Tons, weil zur Sittsamkeit zwei Domizile gehören, mindestens, damit niemand auf einen einzigen Ort beharrt und dort kleben bleibt. (Schwarm · Jan)

Mir macht es nichts aus, wie Büren wächst und wächst. Nachmittags, wenn ich mit dem Auto von Konstanz nach Hause fahre, sehe ich die Ortssilhouette, den wachsenden Umriss, und der gefällt mir. Ich glaube nicht, dass es viele Leute gibt, die das Zubauen der Hügel und der übrigen Landschaften gut finden, genau genommen ist das Zupflastern ein Horror, ein herrlicher Untergang der Erde. (Bang · Janka)

Nachher erzähle ich die Geschichte meinem Vater, der mit vierundachtzig gestorben ist. Wir werden miteinander ein großes Zahlenspiel beginnen, ein Alterszahlenspiel. Zum Beispiel acht mal acht. Vierundsechzig bedeutete früher ein gewisses Alter. Vierundsechzig mal acht kommt als Alter nicht in Frage. (Schach · Sara)

Sie haben ihre Meinung, ich die meine, und außer meiner Meinung gibt es deine Deinung, und die Unserung. Gemeinsam steigen sie den Hang hinauf, unterwegs begegnen sie der Ihrung, Deinung hustet und hat einen roten Kopf. (Taltext)

Die Randteile
Die Landschaft setzt die Ränder. Ich erkenne ein breites Tal in der Ostschweiz, wir sind im Kanton Thurgau (TG). Selbst mit Adleraugen und Google Earth gelingt es nicht, Büren auf dem Wellenberg zu verorten. Die Stadt als sozial unverträgliche Utopie, eine Fiktion, die ohne den Samen der Gegenwart, diesem Lebenslabor zwischen Vergangenheit und Zukunft, nicht aufgehen kann.

Aus der Vogelperspektive ist das Thurtal eine übersichtliche Landschaft, eine ehemalige Seegegend, wie ich seit Kurzem weiß. Bis in die Nacheiszeit hinein lag im Tal ein Gletschersee, immerhin so groß wie der heutige Zürichsee, nördlich und südlich von zwei langgestreckten Höhenzügen begrenzt, dem Seerücken und dem Wellenberg, von zwei Rivalen, wie ich oft meine, wobei die Gegnerschaft nur eine Sache der Perspektive ist. Am Wellenberg gibt es, wie schon erwähnt, einige Standorte, von denen aus der Blick unmittelbar zum Seerücken führt, von Berg zu Berg, als hätte man eine einzige Berglandschaft vor sich. Das Tal bleibt dabei ausgespart, es liegt in einer Falte, versunken in einer Falte, und von einer Gegnerschaft der Berge kann dann keine Rede sein. (Taltext)

Die sichtbaren Teile
Nach und nach bringe ich die Teile in ihre Position, sie greifen ineinander. Es gibt Teile, deren Inhalt ich schneller erkenne, für andere brauche ich länger, lege sie wieder weg, um im zweiten Anlauf erfolgreich zu sein. Es ist ein zufälliges Spiel und die Vollendung des Landschaftsabbildes ist dabei eine unvorstellbar hohe Anzahl von Möglichkeiten. Da passiert es, dass ich im Prozess den Sinn des Einzelteils nicht erkenne und mich das Gefühl der Beliebigkeit erschleicht. Warum halte ich gerade jetzt dieses Teil in der Hand? Wozu ist es gut? Sicher hat die Autorin die vierundzwanzig Stimmen nicht zufällig gesetzt, sondern wohl bedacht, einer inneren Logik folgend. Ein Buch muss einem Spannungsbogen, wie immer er ausgeprägt sein mag, folgen, um nicht Gefahr zu laufen, weggelegt zu werden. Diese Notwendigkeit widerspricht jedoch dem Wesen des Puzzles. (Selbst meine Vorgehensweise, erst alle Teile auf die bedruckte Seite zu drehen, Eckteile, Randteile zu suchen und zu fügen, dann mit dem Kern zu beginnen, ist sehr fraglich. Mein Sohn beweist mir gerne, dass es auch anders geht.) Das Puzzle lebt die Anarchie, bevor es sich der Ordnung fügt. Wenn wir Erwachsenen das Puzzle beendet haben, seien wir ehrlich, verlieren wir sofort das Interesse am Spiel. Kinder können das Puzzle erneut fügen, dabei des Spieles wegen voller Freude andere Wege nutzen, um ein neues Bild zu erschaffen. Doch Kinder sind im urbanen Konzept von Büren (TG) nicht mehr vorgesehen.

In Büren wurden seit zwei Jahren keine Kinder mehr geboren, allerdings gebe es neu Hinzugezogene mit Kindern, stand in dem Blatt, dem natürlich niemand trauen muss. Bei solchen Mitteilungen fällt einem unwillkürlich ein, wie abfällig die Leute hier über Frauen oder Paare mit Kindern reden. (Wahl · Janka)

Das ist bedrohlicher als die Panzer, die Gahse am Ende aufrollen lässt. Ja, der Krieg rückt näher in die Mitte Europas, Überwachung, Entrechtung und Enteignung. Wenn jedoch keine Kinder mehr da sind, die die Bilder neu zusammensetzen, wird unsere Gesellschaftsordnung totalitär und tot.

Die unsichtbaren Teile
Ein Name, ein Buchtitel schwebt über der Lektüre: Italo Calvino und sein 1972 erschienenes Buch „Die unsichtbaren Städte“, über das Wikipedia die Auskunft erteilt: „Kein Roman, sondern ein singuläres, sich gegen alle Gattungsbezeichnungen sperrende Stück Literatur […], verdichtet sich mehr und mehr zu einem beklemmenden Panorama einer von Zerfall und Untergang bedrohten Welt.“ Das Recycling dieser Worte für Gahses Buch sei erlaubt.

Ein weiteres unsichtbares Teilchen sehe ich in Werner Dürrsons „Das Kattenhorner Schweigen“, ein schmaler Gedichtband, der 1985 mit dem Bodensee-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Da blickt jemand von der anderen Seeseite auf den Seerücken und erahnt vielleicht noch im Hintergrund den Wellenberg. Freilich: Büren, wie es Gahse aufleben lässt, gab es in den Achtziger Jahren noch nicht. Aber das Verschwinden einer Kulturlandschaft zugunsten einer Parzellierung von Grundstücken, diese Einigelungswut, die ihren Ausdruck in Immobilienwirtschaft, sozialer Kälte und Gedächtnisverlust findet, ist bereits bei Dürrson präsent.

Freundlicherweise gibt die Autorin mit einer Danksagung an Richard Sennett und Georges Perec wesentliche Hinweise, wo ihre unsichtbaren Teile zu finden sind. Richard Sennett, 1943 geborener US-Soziologe, Sohn kommunistischer Eltern, „seine Hauptthemen sind die Vereinzelung, Orientierungslosigkeit und Ohnmacht moderner Individuen, die Oberflächlichkeit und Instabilität zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Ausübung von Herrschaft“ (Wikipedia). Georges Perec (1936 – 1982), sein Hauptwerk „La Vie mode d’emploi“ (deutsch: „Das Leben Gebrauchsanweisung“) ist formal und inhaltlich ein Puzzle. Ich komme nicht umhin, die „Werkstatt für Potentielle Literatur“ (franz. „L‘ Ouvroir de Littérature Potentielle“, OuLiPo) zu erwähnen, ohne dessen Programmatik das Werk Perecs nicht entstanden und verstanden wäre. Darüber ließe sich noch viel Notwendiges sagen, lesenswert ist Gundel Mattenklotts Abhandlung „Über einige Spiele in Georges Perecs Roman ‚Das Leben Gebrauchsanweisung’“. Ich will es bei meiner kleinen Freude belassen, dass auch Calvino Oulipien war, genauer gesagt: ist. Verstorbene bleiben Mitglied und gelten als entschuldigt. Ein interessanter Umgang mit Lebenszeit, Verklärung, Vergangenheit, Stillstand und Fortschritt.

Die Gegenwart kommt nicht einmal zufällig vor, und entsprechend sind die alten Fotos, die sie sammeln, eine Ölhaut gegen die Gegenwart. (Flachs · Jan)

 

 

Rudolf Gramich: „Das Wayang-Spiel“

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Indonesien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2015

Rudolf Gramichs Roman „Das Wayang-Spiel“ erschien 1999 im Horlemann-Verlag. Damals war der Verlagssitz in Bad Honnef, heute ist er unter Leitung von Anja Schwarz in Angermünde. Der Verlag hat in seiner Asienreihe einen Schwerpunkt Indonesien, der zur Buchmesse mit fünf neuen Titeln herausgestellt wird.

Rudolf Gramich (1931 – 2010) lebte achtzehn Jahre in Indonesien und hat in „Das Wayang-Spiel“ die indonesische Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne beschrieben. Vieles bleibt den Lesern, die sich noch nicht mit Geschichte und Kultur Indonesiens beschäftigt haben, fremd, unbekannt. Dennoch oder aber gerade deswegen lohnt es sich, dieses Buch zu lesen, das das nächtliche Spiel des Puppenspielers (Dalang) zum Anlass nimmt, die Menschen zwischen unterschiedlichen religiösen Traditionen (hinduistische, christlich, muslimische), Befreiungskampf, Militärdiktatur und dem Kahlfraß eines aufkommenden Turbokapitalismus zu zeigen.

Und so profund Gramichs Kenntnisse über die javanische Kultur, die ihren Ausdruck im Schattenspiel der Lederfiguren (Wayang kulit) und der Gamelan-Musik, die Gramich erlernt hatte, findet, hört man die tiefe Sehnsucht heraus, selbstbestimmt und fern der Götzen des Marktes zu leben.

„Leben, einmal leben ohne Gott und ohne Götter. Einfach so leben.“

Gramich jedoch zeigt die Götter bereits als alte Männer, die mit der Gegenwart nicht mehr zurecht kommen. Sie finden die alten Wege nicht mehr, stoßen auf Hochhäuser, in deren oberen Geschosse kleine, mächtige Männer das Land für ihre Zwecke aufteilen.  Hier wird die Lebensgrundlage einer Gesellschaft zerstört, die einst auf dem Prinzip gegenseitiger Nachbarschaftshilfe (Gotong-Royong) aufbaute.

Mario Szenessy: „Verwandlungskünste“

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Dieses Buch ist ein Wunder aus einer anderen Zeit. Es erschien 1967 im S. Fischer Verlag, zu einer Zeit als Peter Härtling als Cheflektor verantwortlich zeichnete.

Die Gestaltung des Covers ist von schlichter Konzentration auf das Wesentliche, die Rückseite eine leere weiße Seite. Das muss für die heutigen Marketingexperten unfassbar sein, diese verspielte Chance, mit markschreierischen Zitaten bekannter Magazine Werbung zu machen, um den Verkauf des Buches anzuheizen. (Oh ja, der Dichter sitzt in seiner ungeheizten Dachkammer und wartet vergeblich auf Brennholz!)

Mario Szenessy, ein deutschschreibender Ungar, lebte von 1930 bis 1976, geboren in einem Ort im westlichen Banat, der heute Zrenjanin heißt, im wechselvollen Spiel der Historie des Balkans aber viele Namen trug, heute Teil Serbiens ist, genauer gesagt der autonomen Provinz Vojvodina. 1942 ging er nach Ungarn, nach Szeged. 1963 kam er nach Deutschland, zunächst Tübingen, später Berlin. „Verwandlungskünste“ ist sein Erstlingswerk.

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Daša Drndić: „Sonnenschein“

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„Das macht mir Angst, wenn in Menschen, die Ungeheuer sind, von denen wir wissen, dass sie Ungeheuer sind, Metzger, Schlächter, perverse Sadisten, wenn wir in ihnen ein Stückchen Menschlichkeit erkennen, Sanftheit und Ohnmacht, das ist der Horror.“

„Sonnenschein“ (Übersetzung: Brigitte Döbert und Blanka Stipetić) der 1946 in Zagreb geborenen Autorin Daša Drndić handelt von Horror, nicht endend wollendem Horror. Nachdem ich vor vielen Jahren Pasolinis „Salò oder die 120 Tage von Sodom“ im Kino gesehen hatte, war ich mir sicher, dem ultimativen Horror begegnet zu sein. Aber es hört nicht auf. Ich habe das Gefühl, immer noch am Anfang zu sein und mich doch gleichzeitig seit mehr als 35 Jahren im Kreis zu drehen.

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Pete Smith: „Endspiel“

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Von Gewissheit und Gewissen

Gewiss – das ist das zentrale Wort dieses Romans, es steht als sprachlicher Mittler zwischen dem 29jährigen angehenden Historiker Lionel Kaufmann und der 79 Jahre alten Elena Morgenstern.

Lionel soll die Lebensgeschichte der Seniorin, die er im Altersheim kennenlernt, wo er einen Brotjob als Lehrer für Silver Surfers bekommen hat, aufschreiben. Zu diesem Zweck reicht Elena Lionel einen Koffer voller Aufzeichnungen. Ein ganzes Leben, das eng beschrieben in diesen Koffer passt, verlässt die Seniorenresidenz und zieht in Lionels kleine Wohnung ein. Dort wird es eng. Lionels Freundin Uli zieht ebenfalls ein. Sie ist schwanger. Beide planen ihr gemeinsames Leben und verfangen sich zunehmend in der Vergangenheit, in der Geschichte der aus Elbing stammenden Deutschen und ihrer großen Liebe Seraphin, eines jüdischen Auschwitz-Überlebenden.

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Michel Laub: „Tagebuch eines Sturzes“

Michel Laub: Tagebuch eines Sturzes

Wie der Pole Piotr Paziński ist auch der Brasilianer Michel Laub ein im Jahr 1973 geborener Schriftsteller jüdischer Abstammung. Wie Pazińskis „Die Pension“ geht auch Michel Laub in seinem Roman „Tagebuch eines Sturzes“ (Übersetzung: Michael Kegler) an die Erinnerungsarbeit.

Der Ich-Erzähler erinnert sich an den Moment, als er mit seinen jüdischen Mitschülern den einzigen Nichtjuden João in der Klasse zu dessen 13. Geburtstag dreimal in die Luft werfen und ihn dann nach dem dritten Wurf nicht auffangen.

„Ich träume oft von dem Moment dieses Sturzes, einer Stille von einer, vielleicht zwei Sekunden, einem Saal von sechzig Leuten, und niemand gibt ein Laut von sich, und es war, als warteten alle auf den Schrei meines Klassenkameraden …“

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