Hanne F. Juritz: „Ein Wolkenmaul fiel vom Himmel“

hannefjuritz_einwolkenmaul

Ein Lyrikband aus dem Jahr 1978 fiel mir aus dem Bücherregal im Prettlackschen Gartenhaus entgegen: Hanne F. Juritz, eine hessische Kollegin des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), von 1978 – 1982 Vorstandsvorsitzende des VS Hessen.

Mit Ein Wolkenmaul fiel vom Himmel las ich zum ersten Mal Gedichte der 1942 in Straßburg geborenen Dichterin. Und dieser erste Einblick verdeutlichte einmal mehr, wie zeitlos gute Lyrik ist, wie sie sich Zeitläufen und Zeitströmungen verweigert, im Gegensatz zur Covergestaltung!

„Hanne F. Juritz: „Ein Wolkenmaul fiel vom Himmel““ weiterlesen

Víctor Rodríguez Núñez: „Mit einem seltsamen Geruch nach Welt“

victornunez_seltsamegeruch

yo soy un tojosista / ich bin ein dichter der sperlingstauben
Das Bekenntnis des Víctor Rodríguez Núñez

Columbina passerina, das Sperlingstäubchen, ist ein sehr kleiner Vertreter seiner Familie, der in Süd-, Mittel- und im südlichen Nordamerika anzutreffen ist. Udo Kawasser, der gemeinsam mit dem kubanischen Dichter Núñez für den vorliegenden Band Mit einem seltsamen Geruch von Welt aus neun Gedichtbänden zwischen 1979 und 2011 die Auswahl getroffen und die Gedichte ins Deutsche übertragen hat, fragte den Autor bei der Lesung auf der Leipziger Buchmesse am 20.3.2016, was hinter dieser Metapher steckt.

Núñez rückt in seiner Lyrik das Landleben in den Fokus und gehörte damit zu einer Gruppe von Poeten, die von den urban geprägten Dichtern Havannas als tojosista abqualifiziert wurden. Der so mit Polemik überzogene Dichter reagiert noch 2011 in seinem Gedicht orígenes aus dem Band tereas mit der Zeilen:

[…]
yo vengo de otro sueño donde los gallos cantan /
ich komme aus einem anderen traum in dem die hähne krähen
[…]
yo soy un tojosista no te olvides /
ich bin ein dichter der sperlingstauben vergiss das nicht
[…]

Es bedarf nur sehr geringer Kenntnis der spanischen Sprache, wie ich sie habe, um zu wissen, dass das Ich, das yo, in beiden Sätzen weggelassen werden kann, ohne den Gesamtsatz zu ändern. Die deutsche Übersetzung bleibt identisch. Das grammatikalische nicht notwendige yo (soy und vengo legen eindeutig 1. Person singular fest) verschiebt den Satz hin zum Ich und betont es, hebt es ab, stellt es heraus. Die Kenntnis dieser sehr einfachen Grammatik wird hier zum Bekenntnis des Schriftstellers über seine Herkunft, die er gegen die Líricos coloquiales, die Alltagsdichter in Kawassers Übertragung, abgrenzt. Das deutsche Wort erscheint harmlos, ein Blick ins Wörterbuch: coloquial = umgangssprachlich, salopp, das verrät etwas mehr über den Plauderton der urbanen Eliten, die den Blick auf die Natur, die Erdung verloren haben.

Bevor ich Núñez‘ Band aufmerksam nach Spuren der Sperlingstaube durchsuche, muss ich zunächst eine Filmsequenz loswerden, an die ich schon seit Tagen denken muss, ohne zu wissen, ob mich das Aufleben der Szenerie in meiner Kritik und der damit verbundenen Annäherung an die Dichter der Sperlingstauben voranbringt oder aber in die Irre lenkt. Ich bekenne offen, meine Kenntnis der kubanischen Literatur, insbesondere der Lyrik, ist unzureichend. Dem kann ich nur meine Neugier, mein unschuldiges Interesse entgegensetzen.

Julian Schnabel überlagert am Ende seines Filmes Before Night Falls (2000) über den Schriftsteller Reinaldo Arenas Szenen des nächtlichen New York, die Stadt, in der Autor 1990 an den Folgen seiner HIV-Infektion starb, mit dem Land, in dem er aufwuchs. Wir sehen ein Kleinkind in einem Schlammloch, irgendwo in einem kubanischen Dorf, das aus einfachen Behausungen besteht. Die Kamera kreist um das Kind, während aus dem Off Musik und ein biografischer Text von Arenas eingesprochen wird. Es entsteht, getragen durch die Poesie des Sterbenden, ein Sog hin zum Ursprung, der Abstammung vom Land. Und Armut und Reichtum werden kräftig durcheinandergewirbelt durch die existenzielle Gewalt der Sprache. Arenas eröffnet seine Biografie mit den Worten:

I was two. I was standing there, naked. I bent down and licked the earth. I used to eat dirt with my cousin Dulce Maria, who was also two. I was a skinny kid with a distended belly full of worms from eating so much dirt. We ate dirt in the shed. The shed was the next place to the house where the animals slept, that is, the horses, the cows, the pigs, the chickens, the sheep.

Sollte die Erwartung geweckt worden sein, dass sich die Trennungslinie der beiden Poesien in einfacher Weise durch die Sprache zieht, hier eine städtische, dort eine naturbelassene, so zeigt uns Núñez schnell auf, wie unzureichend solche Konstrukte bleiben:

[…] Jemand könnte sagen / Vernünftig und kalt / die Verse nackt und schlecht zugeschnitten / keine Landschaften / – er der anfangs verrückt nach Landschaften war – / kaum etwas von Frische / und Vorstellungskraft und Metaphern / Ein Waisenkind der Poesie / Ich bin / wenn sie erlauben / ein Uhrmacherlehrling gebeugt / über die kaputte Aufzugsfeder dieser Welt […] (aus: Nächte, in: Nachrichten eines Einsamen, 1987)

Das Gedicht Manifest aus dem gleichen Band belegt das Missverhältnis zwischen dem, was der Dichter sagen möchte (Me gustería decir) und dem, was er aber sagen muss (Pero debo decir). Die widerstrebenden Kräfte wirken in den Satzbau hinein und es entsteht aus dem unterdrückten Schrei und den Sprechvorgaben des Dogmas ein Mischwesen, eine Utopie:

Gebt der Revolution ihre Flügel zurück

Núñez fragt die Alltagsdichter am Ende des Gedichts, ob nun die Rechnung bezahlt ist. Was genau meint diese offene Rechnung. die nach Abrechnung klingt?

Ein Schlüssel zu dieser Frage könnte das innige Verhältnis zu der Mutter sein, die im Alter von 28 Jahren ihren Sohn Víctor in Havanna geboren hatte. Mit diesem Fakt, Geburt 1955, beginnen die im Internet verfügbaren Informationen über den Autor. Es macht schon etwas Mühe, Spuren der Familiengeschichte zu finden. Auf einem Blogbeitrag des Birmingham Book Festivals 2011 findet sich der Hinweis:

Despite having roots in Galicia, North Spain, the poet’s family opted not to speak Galician as they wanted to be one hundred per cent Cuban.

Liegt die Ausgrenzung der Alltagsdichter im Falle von Núñez hier verborgen: eine Familie, die in ein anderes Land kommt, in eine andere Gesellschaft, sich der Revolution verpflichtet und die doch nicht dafür belohnt wird?

In den beiden Gedichten Ein ums andere Mal und Der Kapitän (in: Der Letzte auf dem Jahrmarkt, 1995) spricht Núñez über seine Eltern. Die Mutter, die

[…] eine Waise / Hausfrau Kommunistin Witwe ist / Alles machen sie meiner Mutter kaputt / Die Kindheit / den Stricksessel / die Ehe / Seht wie sie durch die Fensterläden herausschaut / die nicht vom Regen / sondern von ihrem eigenen Husten / und den fremden Tränen vermodert sind […]

Der Vater, ein

[…] alter Säufer / der das Leben meiner Mutter ruinierte […]

Die Mutter bleibt fest an der Seite des Sohnes. In einer unbedeutend erscheinenden Nebenbemerkung aus dem Band rückseiten (2011) lernen wir den Ursprung von Núñez‘ Poesie kennen:

[…] auf dem verwöhnten eis
frisst sich das murmeltier mit dämmerung voll
worte meiner mutter […]
(aus: [außenränder oder das murmeltier frisst sich mit dämmerung voll ])

Der Sohn trägt die Poesie der Mutter in die Welt. Er schreibt nicht, wie er bei der Lesung in Leipzig klarstellte, über Kuba, sondern von Kuba aus. Die Poesie lässt sich nicht von Systemen, Staaten, Nationen vereinnahmen; sie geht ihren Weg in die Welt und bleibt doch Familienerbe in einer eng definierten Sprache zwischen den Generationen.

y comienza un poema / sencillamente humano / Con raro olor a mundo

und beginnt ein Gedicht / ein einfach menschliches / Mit einem seltsamen Geruch nach Welt

Gleich wie fern kubanische Literatur erscheint, wie unbekannt der Autor mir auch nach einer wunderbaren Lesung, nach diesem lebhaften Wechselspiel zwischen Autor und Übersetzer in Wort, Gestik und Mimik bleiben wird, dieser Geruch ist nicht seltsam, nur seltsam vertraut und sehr willkommen.

Antonia Torres: „Umzug – Mudanza“

antoniatorres_mudanza

Auf der Leipziger Buchmesse 2016 fand eine von der Botschaft der Republik Chile organisierte Veranstaltung unter dem Titel Chilenische Gegenwartsliteratur zweistimmig – Literatura chilena actual a dos voces statt. Es lasen Lina Meruane (*1970 in Santiago) und Antonia Torres (*1975 in Valdivia). Moderiert wurde die Lesung von Benjamin Loy, Redakteur der in Berlin herausgegebenen Literaturzeitschrift alba. lateinamerika lesen, deren Nummer 08 sich ausschließlich der zeitgenössischen chilenischen Literatur widmet. Loy las die vorgestellten Texte in deutscher Sprache.

Mein Interesse an der chilenischen Literatur entspringt, allgemein gesprochen, der Neugier, im Speziellen der sich aus ihr abgeleiteten Zusage, den Lyrikband von Enrique Winter (*1982 in Santiago) oben das meer unter der himmel zu besprechen. Das Buch soll bei luxbooks erscheinen, es war bereits für 2015 angekündigt. Die Veröffentlichung verzögert sich leider aus verlagsinternen Gründen. In alba 08 findet sich der Vorabdruck eines Gedichtes, der mir eine Vorschau auf die bevorstehende Aufgabe gewährt.

„Antonia Torres: „Umzug – Mudanza““ weiterlesen

Dirk Uwe Hansen: „wolkenformate“

dirkuwehansen_wolkenformate

findling auf weiß
Feine Wolkenformate von Dirk Uwe Hansen

In wolkenformate sind die Worte sorgsam gesetzt. Wir sehen das Ergebnis einer Übereinkunft des Dichters Hansen mit seinem Verleger Michael Wagener, der zugleich Bildender Künstler ist und Fotografien seiner Serie landskeips zur grafisch-künstlerischen Gestaltung des Buches nutzt. Wir werden an den Doppelsinn des Wörtersetzens erinnert: Die Wahl der richtigen Worte, das Arbeiten an den Versen, solange, bis die Worte ihren endgültigen Platz gefunden haben (an den im ersten Kapitel wird was wolkenform hat eingefügten fast zwanzig Gedichten hat der Autor fünf Jahre bis zur Veröffentlichung gearbeitet). Und: die Wahl der grafischen Mittel, die Typografie, diese hochwertige Umsetzung der Texte in einer bibliophilen Ausgabe, dieses Relikt aus vergangener Druckerzeit, das Setzen der Buchstaben.

Hansens Gedichte als wortkarg zu bezeichnen, nur weil sie zumeist mit wenigen Worten auskommen (und dabei ihren Sinn nicht auf den ersten Blick freigeben), wäre eine Verkennung der gewählten Arbeitsmethode. Sie sind am Kondensat interessiert, bilden nur noch das Übriggebliebene ab, ohne die Sinnzusammenhänge zu unterdrücken.

Die Entscheidung im Layout eine Schriftart im Schriftschnitt condensed einzusetzen, ist sicher schon mit Beginn der reihe staben, deren band 08 mit wolkenformate vorliegt, gefallen. Doch erweitert sich durch den Einsatz einer schmal laufenden Schrift semantisch die Bedeutungsebenen vom Kondensat. Das ist schön.

kondensate

ist zeit ohne farbe und mitten im
körper ausdehnungslos (punkt)
sind striche gesichtet in zwei
richtungen : linien
enden fasern verfilzt
auf dem weg zurück
suchen ein anderes
gleich es zu spiegeln

Hansen dickt, dampft seine Lyrik ein und verflüssigt gleichzeitig die schwebenden Teilchen. Als Autor weiß er genau, was er will, ist aber klug genug, nicht die Kontrolle über seine Teilchen behalten zu wollen, sie schweben frei und zufällig. Und, wie jeder aus der Chaosforschung schon mal gehört hat: der Flügelschlag eines Schmetterlings hat weitgehende Folgen für das Wetter, dieses große, offene System, in dem die Niederschläge aus Layern von Wolkengrau, Wolkenblau, Wolkenschwarz und Wolkenweiß niedergehen.

Mit anakoluth und enallage bringt uns Hansen seine Technik der Reduktion und des Umbaus nahe. Anakoluth meint den Satzbruch; damit kann der Bruch des Satzbaus gemeint sein im Sinne einer vorsätzlichen Eier und Käse … (sorry, meine Tochter verkündet stolz das Rezept ihres Mittagessens), einer vorsätzlichen Störung, als auch im Sinne des in der Alltagssprache die nicht zu Ende gesprochenen Satzes. („Sehr interessant, Töchterlein! Könnte ich jetzt bitte mal wieder …“) Enallage ist eine rhetorische Figur, die darin besteht, dass die grammatische Beziehung eines Wortes zu einem anderen Wort führt als die inhaltliche, semantische Beziehung. Die Beziehungen zwischen Wörtern in einem Satz wurden also verschoben und sind deshalb nicht wörtlich zu nehmen. (Wikipedia)

Für Hansen, Altphilologe und Übersetzer aus dem Alt- wie dem Neugriechischen sind diese Figuren wohl vertraut. Aber auch ohne tiefere Kenntnis der Rhetorik ist zu spüren, dass es sich bei den während des Schreibens und Kondensierens vorgenommenen Wortstreichungen nicht um Lücken oder Leerstellen handelt, die in der Endfassung nicht mehr sichtbar sind.

Leerstellen kann es am Firmament ohnehin nicht geben. Mein Großvater hatte einmal gesagt, dort in Russland, hätte es einen Tag gegeben, an dem kein Wetter gewesen wäre. Als Kind wusste ich natürlich nicht, was eine Metapher ist, und ich versuchte mir diese Leere vorzustellen. Heute sehe ich in den Worten kein Wetter! ein gültiges Bild für die Hölle des Zweiten Weltkriegs inklusive all der Bestialität, die später sorgsam verschwiegen wurde. Dieser Einschub führt mich zum dritten Textteil aus sechs Gedichten, den Hansen mit friedhof tituliert hat.

6 | styx

kommt unsterblichkeit immer zu
früh verlangt nach
tod nach leben nach tot

kriechen kreise zu
rück in den stein und bein
geschworen : schweigt wie ein gott

Der Zyklus sag mir sirene was im Mittelteil des Bands ist formal der stärkste. Der Presseinformation entnehme ich, es handelt sich hier um „das Ergebnis eine Art Selbstbefragung“, die im Sommer 2015 entstanden ist. Auf der linken Seite die vom Ich aufgeworfenen Fragen, auf der rechten Seite ein Echo durch die Sirenen, gegenläufig angeordnet: von eins – neunte sirene bis neun – erste sirene.

Ist aber Wahrnehmung
niemals ein Anderes als der Schmerz
zwischen Innen und Außen.
(aus: neun)

Die Selbstvergewisserung Hansens gerät überzeugend. Es sind existentielle Fragestellungen, die das Ich umtreiben, aber nicht abheben lassen, um von einem Wind weggeweht zu werden.

Lies das schwindende Licht. An der Wand ist
Weiß die Summe der Farben ist Schwarz
(aus: drei)

Dazu echot die siebte Sirene ihr sag mir seelchen mit den Worten:

malst du selbst deinen fußboden blau
vielleicht
atmest du einen himmel

Überrascht hat mich der Plakatumschlag. Zum einen Schutzumschlag, zum anderen als Zugabe ein schön gestaltetes Plakat, das ich gerne aufhängen möchte. Dort finde ich aber nicht, wie erwartet, Texte, die im Band vertreten sind und für das Plakat wiederholt werden, sondern weitere Texte. Der Band besteht also aus vier Teilen. Wenn ich das Plakat an meine himmelgraublaue Wand hänge, fehlt dieser Teil im Buch. Lasse ich aber den Schutzumschlag ums Buch, bleiben die Gedichte verborgen. Vielleicht ist das eine Knobelaufgabe, die sich der Absurdität des Lebens in seiner ganzen Schönheit widmet.

wieviele millimeter sind
ein jahrtausend und ab
geschliffene ecken und
enden im sand bleibt
unter der lupe ein fjord
(aus: kiesgrube)

 

Kerstin Preiwuß: „Gespür für Licht“

kerstinpreiwuss_gespuerfuerlicht

Aalmutter fang an
Kerstin Preiwuß mit Gespür für Licht

Hans Christian Andersen notiert in Eine Geschichte aus den Dünen den Satz: „Das Kindesalter hat für jeden seine Lichthöhen, die später durchs ganze Leben hindurchstrahlen.“ Kerstin Preiwuß nimmt uns in ihrer dritten Lyrikpublikation mit in einen geschützten Raum, der voller (Vor-)Freude und Ängste ist. Sie führt uns entlang der Jahreszeiten in die zweite Hälfte ihrer Schwangerschaft, zur Geburt und zum ersten Lebenshalbjahr ihres Kindes. Die Unsicherheit, die Verlustängste der (werdenden) Mutter sind in der Referenz zu Andersens Aalmutter festgehalten, einem dem Jahreszeitenzyklus vorangestellten Gedicht, in dem es heißt:

Ich habe kein Gespür für mich selbst
aber ein Gespür für Licht.

Ungeduldig wird das Frühjahr erwartet. Es ist bereits April und die Temperaturen sind immer noch um den Gefrierpunkt. Die Außenwelt verschmilzt nach wenigen Gedichten mit der Innenwelt. Sollte Mann überlesen haben, dass die Autorin das Wort Mutter bereits zweimal benutzt hat, so bringt sie mit überzeugender poetischen Kraft und Klarheit ihre Schwangerschaft zum Ausdruck.

Ich halte meine Hand an den Bauch.
Das Wasser schwappt gegen den Rand.
Die Waage zittert leicht.
Ich bin eine Höhle davor eine leere Hülle danach.

Wir dürfen die Entwicklung dieser beiden Menschen miterleben, spüren, wie sie sich annähern, dort, wo sie schon ganz nahe sind:
Du bist noch ein Fremdwort. – Noch hält die Fracht. – Ich bin da widerhallt mein Kind.

Spätestens im siebten Frühlingsgedicht kann ich eine literarische Analogie nicht mehr übersehen. Und ich möchte darüber sprechen. Ich habe solch zarte, der Außenwelt von innen heraus zugewandte Lyrik schon einmal gelesen. (Sicherlich lässt sich mehr als eine Seelenverwandtschaft finden, so alt die Mutterschaft ist, so lange ist sie bestimmt literarisches Thema.)

Mevina Puorger hat 2004 die Gedichte aus dem Nachlass von Luisa Famos unter dem Titel ich bin die schwalbe von einst zweisprachig, rätoromanisch und deutsch, herausgegeben. Kapitel III trägt den Titel Ich warte, dass der Kreis / Der Jahreszeiten sich schliesst. Am 25. November 1964 schreibt Famos:

Für mich war jener Tag
Der letzte meines Herbstes
So lichterfüllt
Vor allen andern lieb
So anders war der Himmel
In seinem tiefen Blau
Verwoben mit Wünschen und
Fragen ohne Antwort

Es lohnt sich, beide Bücher nebeneinanderzulegen und sich vorsichtig heranzutasten an das, was Mutter und Kind verbindet.

Kerstin Preiwuß gibt ihren Zweifeln, ihren Ängsten Raum. Da ist nicht nur die frohe Erwartung, eine Mystifizierung der Mutterschaft, wie sie ohnehin nicht mehr in die moderne Gesellschaft passt. Was man von einer Dichterin erwarten darf, erfüllt Preiwuß. Sie arbeitet präzise an der Sprache und nimmt dabei intime Augenblicke nicht aus. Sie rückt rücksichtslos ihre Schwächen ins Licht, um daraus poetisch wie persönlich Kraft zu gewinnen für das neue Leben.

Ich will verschwimmen bis ich unsichtbar bin.
Wie Wasser im Fluss nicht zu erkennen
wann es an Fahrt gewinnt
und wie es vor und zurückschnellt.

Und an anderer Stelle dieser wunderbare Aufschrei:

Guten Morgen du rapsgeiles Land.
Alles prima heute.
Ich bin im Gleichgewicht.

In dem Gedicht über die Geburt kulminiert der Zweifel, der Schmerz.

Enge treibt mich.
Wehe bin ich
hab noch nichts zur Welt gebracht
[…]
Immer noch eng der Kanal.
Verformt mir’s Ah.
[…]
Danach weht Wind.
Danach schmutziges Kind.
Danach blauer Himmel.

Nach der Geburt, in der Lebensphase, in der der Säugling ganz von der Mutter abhängig ist, wechseln Zuversicht, Ungeduld und tiefe Zweifel in schneller Folge. Dabei wendet sich die Mutter verstärkt der Außenwelt zu, ruft regelrecht nach Impulsen von außen, die sie aus ihrer Situation herausreißen.

Leben benötigt Zeit auf einem Planeten.
Ich muss das anerkennen.

Ich will fortgehen weil ich nicht weiß was das ist.

Ich weiß gar nicht mehr ob es mich gibt.

Ich zerbreche.

Das sind Aussagen, die andere Mütter in ähnlicher Form äußern. Sie zeugen von der kraftraubenden Arbeit, die frau bewältigt, um Kinder aufzuziehen.

Bin leer in mir ein Gefäß innen
und außen Material aus Welt.
Osmose ausgeschnitten
heißt erkennen was man schon weiß.

Wenn Preiwuß ihren Band mit dem Volkslied Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder … eröffnet, zeigt sie: sie ist sich bewusst, ihre Mutterschaft steht in einer langen Generationsfolge, in die die 1980 geborene Lyrikerin sich nun einordnet. Sie ist nicht klüger als andere Mütter. Sie formt neue Sätze, neue Bilder, darin enthalten die Lebenserfahrung anderer. Es sind poetisch kraftvolle Bilder, die sie ihrem Kind und sich widmet.

Nguyễn Bình Phương: „Xa Xăm Gõ Cừa“

Eine kleine Reihe über Bücher, die ich in Buchhandlungen außerhalb Deutschlands gekauft habe.

nguyenbinhphuong_xaxamgocua

Bei meiner Rundreise durch Vietnam habe ich in verschiedenen Buchhandlungen in Hanoi, Hội An und Ho-Chi-Minh-Stadt nach zeitgenössischer vietnamischer Lyrik in englischsprachiger Übersetzung gefragt. Diesen Wunsch konnte mir niemand erfüllen.

Im FAHASA-Bookstore in Ho-Chi-Minh-Stadt, 40 Nguyễn Huệ, fand ich zeitgenössische vietnamische Lyrik. Nach längerer Suche entschied ich mich zum Kauf von „Xa Xăm Gõ Cừa“ des Autors Nguyễn Bình Phương.

„Nguyễn Bình Phương: „Xa Xăm Gõ Cừa““ weiterlesen

John Mateer: „Der Narbenbaum“

johnmateer_dernarbenbaum

Natives and Aliens

John Mateer und sein Gedicht Verbreitung aus dem 2015 bei hochroth erschienenen Band  „Der Narbenbaum“ geben Anlass, über Einheimische und Fremde nachzudenken.

Das Gedicht stellt die ausschließlich in Australien beheimatete Banksia, eine Pflanzengattung innerhalb der Silberbaumgewächse in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Schnell finden sich im Internet Abbildungen der verholzten Zapfen und der durch die große Hitze der Buschfeuer aufgesprungenen Früchte des Fruchtstands. Jetzt weiß ich endlich, was ich vor Jahren in einer Bucht von Sydney aus dem Wasser fischte und nicht zuordnen konnte: den Rest einer Banksia integrifolia, auch Honeysuckle, White Bottlebrush oder in der Sprache der Gunaikurnai (Gippsland Region) Birrna genannt. Fälschlicherweise lag der Fund bis eben bei Muscheln und Schneckengehäusen.

„John Mateer: „Der Narbenbaum““ weiterlesen

Andreas Neeser: „Wie halten Fische die Luft an“

neeser_wiediefische

Wie graublaues Fell

Seiner Herkunft und seines Könnens ist sich Andreas Neeser selbstgewiss. Die Sprache der Gedichte in seiner neuesten Veröffentlichung „Wie halten die Fische die Luft an“ ist knapp und reich. Ein Reichtum, der den Weißraum des leeren Blattes im richtigen Maß füllt, mit Worten, die nicht zweifeln, nicht suchen, sondern sich bereits gefunden haben. Einfach gesagt: Das ist Souveränität! Das ist Meisterschaft!

„Andreas Neeser: „Wie halten Fische die Luft an““ weiterlesen

Abbas Kiarostami: „Stille und bewegte Bilder“

abbaskiarostami_stille

Lyrik des Schnees

Die Serie Snow White (1978-2004) des iranischen Filmemachers, Fotografen und Poeten Abbas Kiarostami (* 1940) gehört zu den aufregendsten Fotoserien, die ich kenne. Leider hatte ich die Ausstellung der Werke 2013 in Wiesbaden verpasst und damit die Gelegenheit, diese wunderbaren Arbeiten großformatig auf mich wirken zu lassen. Es blieb mir nur, den dazugehörigen Kunstband Stille und bewegte Bilder – Images, Still and Moving zu erwerben. Auch die zweite, dort abgebildete Serie Rain and Wind (2006-2007) bewegt mich sehr.

„Abbas Kiarostami: „Stille und bewegte Bilder““ weiterlesen

Sipho Sepamla: „Soweto, das ich liebe“

siphosepamla_sowetodasichliebe

Wenn Indra Wussow in ihrem Nachwort „Poetische Landschaften der Leere – Südafrikanische Lyrik zwischen den Zeiten“ der im Verlag Das Wunderhorn erschienenen Anthologie „Ankunft eines weiteren Tages“ von den Dichtern des Struggle spricht, dann meint sie sicher auch Sipho Sepamla  (1932 – 2007). Sie schreibt über die Zeit des Soweto Uprising im Jahr 1976:

„Lyrik war politisch, gab den Menschen im Kampf gegen den übermächtig scheinenden Apartheidsstaat eine Stimme und Trost. Selten hat eine Generation südafrikanischer Dichter, Verbannte im eigenen Land oder Exilanten, einen so wichtigen und sichtbaren Beitrag zur Befreiung des ganzen Volkes von den Fesseln eines Unrechtsstaates geleistet.“

„Sipho Sepamla: „Soweto, das ich liebe““ weiterlesen

Raoul Schrott: „Die Kunst an nichts zu glauben“

schrott_diekunstannichtszuglauben

Wo fromm ein eitel Spiel mit dem Schein

Ich gebe zu, für den kurzen Moment einer Lesung (Stadtkirche Darmstadt, 02.10.2015) habe ich an das Vorhandensein einer historischen Schrift in der Biblioteca Classense geglaubt, die Raoul Schrott als seine Entdeckung ausgibt: das „Manual der transitorischen Existenz“. Wäre ich auf der Höhe der Zeit und des deutschsprachigen Feuilletons gewesen, wäre mir der Trug bereits bekannt geworden. Denn Ende September hatte Hannelore Schlaffer in der Neuen Zürcher Zeitung geschrieben, dieses Manual stamme aus der gleichen Feder wie die Gedichte, entspringe Schrotts Kreation. Das Manual ist demnach ein Fake.

„Raoul Schrott: „Die Kunst an nichts zu glauben““ weiterlesen

Moya Cannon: „Keats Lives“ und „Hands“

cannon_keatslives       cannon_hands

Moya Cannon, 1956 im County Donegal, Irland geboren, lebt in Dublin und hat bislang fünf Gedichtbände veröffentlicht. Oar (Salmon Publishing, Knockeven 1990, überarbeitete Fassung: The Gallery Press, Loughcrew 2000), The Parchment Boat (The Gallery Press, Loughcrew 1997), Carrying the Songs (Carcanet, Manchester 2007, beinhaltet eine Auswahl aus „Oar“ und „The Parchment Boat“), Hands (Carcanet, Manchester 2011) und, gerade erschienen, Keats Lives (Carcanet, Manchester 2015).

Ich bin überzeugt, mit dieser Lyrik eine große europäische Stimme zu hören. Was zeichnet diese Lyrik aus?

„Moya Cannon: „Keats Lives“ und „Hands““ weiterlesen