Bachtyar Ali: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“

Nachtwind

Oh, der Nachtwind weht sanft, warm und leise
über die Wälder, die Städte und Dörfer
Rio Reiser: Bei Nacht

1995 hatte ich einen Traum über meinen plötzlich und viel zu früh verstorbenen Vater. Ich notierte mir auf:

»Vater ist ein toter Körper, geschrumpft zu einem annähernd ebenen, ledrigen Stück Pergament. Der verschrumpelte Körper ist nur noch an wenigen Stellen dreidimensional, ansonsten ein toter Lappen. Er ist leicht zu tragen.«

Es berührt mich sehr und spendet mir Trost, den ich nach so langer Zeit immer noch vertragen kann, dass er im übertragenen Sinn mit dem Protagonisten Djamschid Khan des Romans Mein Onkel, den der Wind mitnahm von Bachtyar Ali (* 1966 in Sulaimaniya, Nordirak) eine furiose Auferstehung als literarische Figur, die im Herbstwind hoch über mir flattert, erlebt und ich diesen gekonnten Flug bezeugen darf.

Die Originalausgabe der Romans ist in Sorani (Zentralkurdisch) geschrieben und erschien bereits 2010. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Ute Cantera-Lang (* 1974 in Erlangen) und Rawezh Salim (* 1973 im Irak), einem Übersetzer-Duo, das sich dem Werk Alis angenommen hat (mit Ausnahme des hier ausführlich gewürdigten Romans Die Stadt der weißen Musiker) und das uns mit Sherzad Hassans Roman Die Nacht, in der Jesus herabstieg in den kommenden Wochen das Werk eines weiteren kurdischen Autors präsentieren wird.
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Bachtyar Ali: „Die Stadt der weißen Musiker“

Was ist der Traum der Gerechten?

Vielleicht ist das die Frage, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller weltweit am meisten umtreibt. Bachtyar Ali, 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren, legt sie seiner Figur Halim Schewaz in seinem 2017 auf deutsch erschienenen Roman „Die Stadt der weißen Musiker“ (aus dem Sorani von Peschawa Fatah und Hans-Ulrich Müller-Schwefe) in den Mund.

[…] Diese Frage können Sie nicht beantworten, Dschaladat, weil Sie ein Blödmann sind. Es gibt nichts Gefährlicheres als den Traum der Gerechtigkeit. […] Es ist die Obsession der angeblich Gerechten, alle Schuldigen dingfest zu machen und zu bestrafen […] Dann müssten wir alle Schuldigen bestrafen, für jedes Vergehen müssten wir eine Strafe parat haben. Aber die Menschen sündigen ständig. Es gibt keinen Menschen, der nicht Strafe verdient hätte. Wahre Gerechtigkeit würde die Welt in eine Hölle verwandeln. Bestrafen und bestraft werden, eine endlose Barbarei.

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