Primo Levi: „So war Auschwitz“

Verwundbar und zuverlässig
Primo Levi: Rekonstruktion Monowitz

Die Besprechung von „So war Auschwitz“ führt mich zurück zu den Anfängen meiner Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Ein kurzer Abschnitt des später „Gerstein-Bericht“ genannten Augenzeugenberichts findet sich in Walther Hofers „Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945“ im Kapitel „Judenverfolgung und Judenausrottung“. Kurt Gerstein war Mitglied der Waffen-SS und erhielt im August 1942 den Auftrag, den Massenmord in Treblinka und Belzec mittels Abgasen zu beobachten und Vorschläge zur Optimierung der Tötungen vorzulegen. Es war eine in Klammer gesetzte Ortsangabe, die mich 14- oder 15-Jährigen elektrisierte, weil es das Geschehen aus der Anonymität und Abstraktion herausbrach und einen Täter in meiner Heimatstadt verortete.

Am anderen Tage fuhren wir nach Belcec. Ein kleiner Spezialbahnhof war zu diesem Zweck an einem Hügel hart nördlich der Chaussee Lublin-Lemberg im linken Winkel der Demarkationslinie geschaffen worden. Südlich der Chaussee einige Häuser mit der Inschrift „Sonderkommando Belcec der Waffen-SS“. Da der eigentliche Chef der gesamten Tötungsanlagen, der Polizeihauptmann Wirth, noch nicht da war, stellte Globocnek mich dem SS-Hauptsturmführer Obermeyer (aus Pirmasens) vor. [1]

Nach heutiger Sachkenntnis müsste das obige Zitat an mindestens fünf Stellen korrigiert werden: … Belcec (sic statt Belzec) … Globocnek (sic statt Globocnik) … SS-Hauptsturmführer (sic statt SS-Oberscharführer) Obermeyer (sic statt Oberhauser) … aus Pirmasens (sic statt München) … [2]

Das ist auf engem Raum eine beachtliche Anzahl von Fehlern und wirft die Frage auf, wie zuverlässig der Augenzeuge Kurt Gerstein war. [3]

Auf die allgemeine Ebene gebracht: Wie zuverlässig sind die Augenzeugenberichte des Holocausts überhaupt?[4] Müssen Zeugen ihre Fehler, Irrtümer korrigieren oder bleibt das den Historikern überlassen? [5]

Wiewohl es im Rahmen dieser Rezension illegitim erscheint, Täter- und Opferperspektive aneinanderzureihen, als gäbe es nicht essentielle Unterschiede und als bedürfte ein solches Vorgehen nicht einer ausführlichen Darlegung, führt die Erinnerungsarbeit des Chemikers, Schriftstellers und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi selbst zu diesem Kernthema der menschlichen Existenz: die Zuverlässlichkeit des Gedächtnisses, der Wert der Zeugenschaft. Mit der Authentizität hat sich Levi zeitlebens auseinandergesetzt, nicht zuletzt kommt das zum Ausdruck in dem Satz, der sein letztes Werk von 1986 eröffnet:

Die menschliche Erinnerung ist ein wunderbares, aber unzuverlässiges Instrument.
[aus: Levi „Die Untergegangenen und die Geretteten“, deutsche Erstausgabe 1990]

Fabio Levi und Domenico Scarpa sind die Herausgeber des nun auf Deutsch erschienenen Bands „So war Auschwitz“, das zum Teil unveröffentlichte, erst jetzt entdeckte oder wiedergefundene Zeugnisse von Primo Levi und Leonardo De Benedetti von 1945 bis 1986 versammelt. Darunter befinden sich Aussagen, Erklärungen, Fragebögen, Briefe, Zeitungsartikel, beispielsweise „Erklärungen für den Prozess Höß“ (1947), „Anklage gegen Dr. Josef Mengele“ (ca. 1959) , „Aussage für den Prozess Eichmann (1960)“ und „Textentwurf für das Innere des italienischen Blocks in Auschwitz“ (1979). Die Herausgeber stellen Levis Zitat an den Anfang ihres Buchs, um für einen Ausgleich zwischen „wunderbar“ und „unzuverlässig“ zu plädieren und den Widerspruch zwischen beiden Worten aufzuheben:

Es ist nur natürlich, dass sie [die Leser, E.G.] ihr Augenmerk dabei auf das Adjektiv „unzuverlässig“ konzentrieren, in dem der Scharfsinn und die Ehrlichkeit eines Schriftstellers zum Ausdruck kommen, der von vorneherein auf die Beschränktheit jedes Zeugenberichts hinweist, angefangen vom eigenen.
[aus: Levi/Scarpa „Vorbemerkung der Herausgeber“]

Am Ende des Buches gehen die Herausgeber im Abschnitt „Ein Zeuge und die Wahrheit“ näher auf die Selbstbefragung, Recherche und die in die Tiefe gehenden Reflexionen Primo Levis ein. Außerdem werden in den Anmerkungen akribisch Fehler in den Originaldokumenten, vermerkt und korrigiert, ohne dabei die Legitimität und Aussagekraft der Zeugnisse Levis und De Benedettis in Frage zu stellen. Nur ein Beispiel:

Wenn die Fahrtdauer vom italienischen Polizei-Durchgangslager Fossoli di Carpi bei Modena, von dem sowohl De Benedetti als auch Levi am 22. Februar 1944 nach Auschwitz deportiert wurden, in manchen Zeugnissen, die die beiden über Jahrzehnte anfertigten, mit drei, manchmal mit fünf Tagen angegeben wird, so spielt es eine untergeordnete Rolle, dass die Zugfahrt in Wahrheit vier Tage gedauert hat, angesichts

der Kälte, die insbesondere in den Nachtstunden so stark war, dass die Metallrohre, die im Innern der Waggons verliefen, am Morgen von Eis bedeckt waren, weil der Wasserdunst der Atemluft sich auf ihnen niederschlug und gefror. Eine weitere Qual war der Durst, den man nicht löschen konnte, außer mit dem Schnee, den man während des einzigen Halts am Tag sammelte, wenn der Konvoi auf freiem Feld stehenblieb und es den Reisenden erlaubt war, aus den Waggons auszusteigen, unter strengster Bewachung durch zahlreiche Soldaten mit vorgehaltenem Maschinengewehr, die stets bereit waren, auf jeden zu schießen, wenn er auch nur die geringsten Anstalten machen sollte, sich vom Zug zu entfernen. […]
Sobald der Zug Auschwitz erreichte (das war ungefähr um 21 Uhr am 26. Februar 1944), wurden die Waggons rasch von zahlreichen, mit Pistolen und Gummiknüppeln bewaffneten SS-Männern geräumt; […]
[aus: De Benedetti/Levi „Bericht über die hygienisch-medizinische Organisation des Konzentrationslagers für Juden in Monowitz (Auschwitz – Oberschlesien)“, 1945-1946]

Dagegen Levis Bemerkung über die überlebensnotwendige Exaktheit in Monowitz, wo

viel zu dieser Hölle das linguistische Chaos beitrug, das dort herrschte. Es war ein Tohuwabohu von herausgebrüllten Befehlen, Drohungen, Flüchen auf Deutsch und Polnisch; von Vorschriften, Verboten und sonderbaren Anordnungen, einige regelrecht grotesk, die man auf Anhieb verstehen oder erraten musste. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass die sehr hohe Sterblichkeitsrate unter Griechen, Franzosen und Italienern in Konzentrationslagern auf deren Mangel an Sprachkenntnissen zurückzuführen ist. So war es zum Beispiel nicht leicht zu erraten, dass der Hagel von Fausthieben und Tritten, der einen plötzlich zu Boden streckte, auf die Tatsache zurückzuführen war, dass man vier oder sechs Knöpfe an der Jacke hatte statt fünf […]
[aus: Levi „Deportation und Vernichtung von Juden“, 1961]

Levi spricht über Scham, seine Scham, überlebt zu haben, seine Scham, in einem System absoluter Unmenschlichkeit das Menschsein nicht bewahrt haben zu können.

Wir sind Menschen, wir gehören derselben Menschenfamilie an wie unsere Henker. Angesichts der Ungeheuerlichkeit ihrer Schuld fühlen auch wir uns als Bewohner von Sodom und Gomorrha; wir können uns nicht ausnehmen von der Anklage […]
[aus: Levi „Jahrestag“, 1955]

In seinem autobiografischen Bericht „Se questo è un uomo?“, erstveröffentlicht 1947, schreibt Levi im letzten Kapitel „Geschichte vor zehn Tagen“ über die Zeit zwischen Auflösung des Lagers, den Todesmärschen und seinem Glück, auf der Krankenstation mit anderen zurückgelassen zu werden; Tage, in denen sie auf sich selbst gestellt sind, bis endlich am 27. Januar 1945 das Lager von der Roten Armee befreit wird, Tage, in denen die verlorene Menschlichkeit langsam zurückkehrt.

Als das zerbrochene Fenster instand gesetzt war und der Ofen schon Wärme hergab, schien es, als löste sich etwas in jedem von uns; und da geschah es, daß Towarowski (ein Französischpole, dreiundzwanzig Jahre alt, typhuskrank) den andern Kranken vorschlug, sie sollten uns dreien, die wir arbeiteten, jeder eine Scheibe Brot abgeben; und es wurde akzeptiert. […]
Es war die erste menschliche Geste, die unter uns geschah. Ich glaube, daß man auf diesen Augenblick den Beginn jenes Vorgangs festsetzen könnte, der uns, die wir nicht starben, von Häftlingen nach und nach zu Menschen verwandelte.
[aus: Levi „Ist das ein Mensch?“, deutsche Erstausgabe 1961]

Aus der Scham entsteht eine Verpflichtung der Geretteten, Zeugnis ablegen zu müssen, stellvertretend für die Untergegangenen.

Dies ist die Erfahrung, durch die ich gegangen bin und die mich tief gezeichnet hat; Symbol dafür ist die Tätowierung, die ich noch immer am Arm trage: mein Name, als ich keinen Namen hatte, die Nummer 174517. Das hat mich gezeichnet, hat mir aber nicht die Lust am Leben genommen, im Gegenteil, es hat sie gesteigert, denn es hat meinem Leben einen Sinn gegeben, den nämlich, Zeugnis abzulegen, damit Ähnliches nie wieder geschehe. Das ist der Zweck, den meine Bücher verfolgen.
[aus: Levi „Dieser Zug nach Auschwitz“, 1979]

Levis Rekonstruktion von Monowitz durch Wiederholung und wiederholte Überprüfung des Geschehens, durch Abgleichung mit anderen Zeitzeugen, durch die Korrektur eigener Aussagen und durch die Erkundung unangenehmer Wahrheiten würdigen Fabio Levi und Domenico Scarpa.

[…] aus dem Zeugen Primo Levi (wird) der Primo Levi, der sich nicht darauf beschränkt, Daten zu sammeln, sondern sie befragt, sie miteinander verknüpft und zueinander in Verbindung setzt, um daraus nicht nur ein Mehr an Erkenntnis, sondern auch ein Mehr an Menschlichkeit zu gewinnen.
[…]
Und hier die Frage, auf die diese Überlegungen unausweichlich hinauslaufen: „Wer kann mit Sicherheit von sich behaupten, gegen die Ansteckung immun zu sein?“ Eine Frage, die Vergangenheit und Gegenwart verknüpft und die faktische Untersuchung der Natur dieser Ansteckung und die ethische Reflexion über die Verantwortung eines jeden Einzelnen miteinander verbindet.
[aus: Levi/Scarpa „Ein Zeuge und die Wahrheit“]

Mit „So war Auschwitz“ legen die Herausgeber 31 Jahre nach Levis Tod den neuesten Forschungsstand vor. Als Einzelpublikation betrachtet ist es vor allem ein Buch von Historikern für Historiker, im Kontext des Werks Levis jedoch ein Wegweiser, wie notwendigerweise die „ethische Reflexion“ zu vertiefen ist. Das geht uns alle an.


[1] Niederschrift Kurt Gersteins vom 4. Mai 1945 über Massenvergasungen am 18. August 1942, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1. Jg. (1953), 2. Heft (April), S. 189ff.

[2] Geht es in den beiden ersten Fällen lediglich um eine Ungenauigkeit in der Schreibweise, legt Gerstein ein falsches Zeugnis ab bezüglich Rang, Namen und Ort des Mannes, dem er an diesem Tag vorgestellt wurde. Die Quelle wird häufig zitiert, so in: „Juden in Pirmasens. Spuren ihrer Geschichte“, Autorenkollektiv, Hrsg. Stadt Pirmasens, 2004. Auf Seite 373 versieht Bernhard Kukatzki in seinem Beitrag „Davidstern und Hakenkreuz“ diesen Abschnitt des Gerstein-Berichts mit der Fußnote 67: „www.ns-archiv.de/verfolgung/gerstein/gerstein-bericht v. 16.10.2002. Es konnte bisher noch nicht abschließend geklärt werden, ob dieser Obermeyer nach 1945 von Justiz und Polizei unbehelligt in Pirmasens leben konnte.“ Dabei hatte schon Christopher R. Browning in seinem Buch »Evidence for the Implementation of the Final Solution« aus dem Jahre 2000 den Fehler in Fußnote 130 korrigiert: „Wirth’s adjutant was named Josef Oberhauser, not Obermeyer.“ In Chris Webbs „The Belzec Death Camp: History, Biographies, Remembrance“ aus dem Jahr 2016 wird der Gerstein-Bericht mit Fußnote 80 versehen: „Many historical accounts assume this to be Oberhauser not Obermeyer. But Josef Obermeyer was in charge of the sorting operation and disinfection of clothing at the Old Airfield Camp in Lublin, which had a direct connection with Gerstein and Pfannenstiel. Oberhauser was not from Pirmasens – he was born in Munich – and was a SS-Hauptscharführer in rank. Whereas Obermeyer was a SS-Hauptsturmführer.“ Josef Obermeyer (Obermaier, Obermeier) könnte einer Internetquelle zufolge am 8.1.14 in Oestringen geboren sein, SS-Nr. 232 946, getötet am 25.5.44 in Drvar. Vgl. hierzu http://forum.axishistory.com/viewtopic.php?f=38&t=142693, https://chelm.freeyellow.com/majdanek_ss.html und http://www.holocaustresearchproject.org/ar/labour%20camps/lublinairfield.html, aufgerufen am 13.3.2017

[3] Browning schreibt dazu: „Many aspects of Gerstein’s testimony are unquestionably problematic.“

[4] Dass diese Frage von Holocaust-Leugnern genutzt wird, um aufgrund von Unzulänglichkeiten des Gedächtnisses und fehlerhaften Aussagen die Existenz der Vernichtungslager zu verneinen, ist unerträglich.

[5] Gerstein starb bald nach der Abfassung seines Berichts am 25. Juli 1945 unter ungeklärten Umständen in einem Pariser Militärgefängnis und hatte somit nicht die Möglichkeit, seine Fehler, zu korrigieren. Trotzdem ist sein Bericht ein wichtiges Zeitdokument über die Vorgänge im NS-Vernichtungslager Belzec.