John Burnside: „Ashland & Vine“

Meine Sorte Wildfang

In der Biografie der US-amerikanischen Dramatikerin und Menschenrechtsaktivistin Lorraine Hansberry (1930–1965) finden sich Motive, die John Burnside in seinem neuen Roman episch ausbreitet, um einen Abschnitt amerikanischer Geschichte des 20. Jahrhunderts ins Bewusstsein zu rufen, wie es seine Figur Laurits, ein Filmemacher mit europäischen Wurzeln, tut.

Laurits schüttelte den Kopf. „Kannst du nachlesen“, sagte er. „Steht in den Geschichtsbüchern.“ Er gab sich ernst, doch war ihm anzumerken, dass es sich um eines seiner Lieblingsthemen handelte, eines, von dem er wusste, dass es Huey ärgern würde. „Ihr Amerikaner kennt eure eigene Geschichte nicht …“

Hansberry starb kurz vor meiner Geburt. Und ihr Name trat erst mit Raoul Pecks Dokumentarfilm I Am Not Your Negro (2017) über den mit Hansberry befreundeten Schriftsteller James Baldwin in mein Leben.

Hansberrys Eltern engagierten sich gegen die Rassentrennung. Burnsides Figur Jean Culver, die der jungen Studentin Kate ihre Familiengeschichte über Wochen erzählt, verliert 1935 in Alabama ihren Vater, der sich als Anwalt gegen die Rassentrennung einsetzt. der als Anwalt Politik, Geschäft und Gerechtigkeit unter einen Hut bringen will. Ein beauftragter Mord. An einer Straßenkreuzung.

Hansberrys Eltern engagierten sich gegen die Rassentrennung. Burnsides Figur Jean Culver, die der jungen Studentin Kate ihre Familiengeschichte über Wochen erzählt, verliert 1935 in Alabama ihren Vater, der als Anwalt Politik, Geschäft und Gerechtigkeit unter einen Hut bringen will. Ein beauftragter Mord. An einer Straßenkreuzung.

… Ecke Ashland und Vine. Ashland und Vine, Ashland und Vine, Ashland und Vine. Unablässig höre ich im Kopf den Singsang dieser Worte. Wie ein Fluch.

Hansberry protestiert gegen die Hinrichtung von Ethel und Julius Rosenberg im Juni 1953. Deren Vergehen: Rüstungsspionage für die Sowjetunion. Burnside lässt Jeans Bruder Jeremy, der Augenzeuge des Mords an seinem Vater war, nach dem Krieg zum Spion werden, dem alle Mittel zur Verfügung stehen, um gegen den Kommunismus zu kämpfen. Es ist Jeremys privater Feldzug, den Mann aufzuspüren, der den Kommunisten entscheidende Details zum Atombombenprogramm verraten hat. Er findet Yonas Sax in England. Die Figur ist angelehnt an Theodore (Ted) Hall, dessen Spionagetätigkeit erst 1995 aufgedeckt und dessen Verrat als schwerwiegender eingestuft wird, als jener des Ehepaars Rosenberg. Burnside war mit Hall freundschaftlich verbunden, wie er in der Danksagung schreibt. Die Begegnung zwischen Jeremy und Sax wird Jeremys Leben, seine Überzeugungen, seine Loyalität über den Haufen werfen.

Sax nickte. „Also warum sind Sie gekommen, Mr …?“
Jeremy schüttelte den Kopf. „Ich versuche nur, die Wahrheit herauszufinden.“
„ Die Wahrheit?“ Sax schien leicht amüsiert, machte sich aber nicht über ihn lustig. Eher hatte er Mitleid mit ihm. „Darf ich Sie fragen, wie Sie damit vorankommen?“

Hansberry war verheiratet, aber homosexuell. Das Thema der sexuellen Selbstbestimmung wird bei Burnside durch Jean aufgegriffen, die ihre einzige Liebe Lee an einen Mann verliert, an das alleingültige heterosexuelle Verständnis von Ehe, beinah hätte ich geschrieben: der fünfziger Jahre. Es ist gut so, dass die Fünfziger mit dem Beginn des Oktobers 2017 in Deutschland beendet sind.

Wildfang – selbst heute noch ist mir die Etymologie unklar. Damals aber lautete die eigentliche Frage, was das für mich bedeutete. Hatte mich geprägt, wie die Leute mich sahen? Wie sie mich nannten? Oder hatten sie eine gewisse Eigenheit gespürt, die schon immer da gewesen war, jetzt aber an die Oberfläche gelangte? Denn ehrlich gesagt, bis ich Lee kennenlernte, hatte ich keine Ahnung gehabt, dass ich anders war. Ich fühlte mich nur nicht zu Männern hingezogen, kannte aber auch keine Männer, die ich sonderlich attraktiv fand, weshalb ich glaubte, mehr hätte es damit nicht auf sich.

Wildfang, ein mir bislang unbekanntes Wort, entspricht in etwa dem von Burnside benutzten Wort Tomboy (Zur Diskussion über diesen Begriff vergleiche: FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Nr. 33 (2002). Ich erinnere mich an eine Erzählung meiner Mutter. Kurz vor der Heirat machten meine Eltern einen Hotelurlaub auf einer Mittelmeerinsel. Bei der Miss-Wahl am Abend schmuggelte sich mein Vater in Frauenkleidung unter die Siegesaspirantinnen. War mein Vater tomgirlish? Und was sagt das über seine Ehe aus und seine Homosexualität?

Naheliegend, warum Burnsides Lügen über meinen Vater für mich ein sehr wichtiges Buch ist: Die Frage der Selbstinszenierung des Vaters, die Suche des Sohnes. Wer kann schon von sich behaupten, auf dieser Suche nach Wahrheit vorangekommen zu sein?

Burnside bleibt sich treu, er schreibt über Trauer und gewaltige, gewalttätige Eruptionen, die die Welt und sogar Amerika erschüttern. Da wird Laurits niedergestochen, er verblutet im Dunkel einer einsamen Straße, während Kate versucht, Hilfe zu holen. Es ist ein sinnloser Tod. Wie es zu viele gibt. Jeremy war nicht nur Zeuge des Mords an seinem Vater, im Zweiten Weltkrieg kann er als amerikanischer Soldat mit französischen Widerstandskämpfern ein Massaker der SS nicht verhindern. Der Ort wird nicht genannt, das Wort Oradour-sur-Glane flackert in mir auf, aber wie viele weitere Orte hat es gegeben? Jeremys Sohn Simon kämpft in Vietnam, bevor er desertiert. Am Ende wird er seine Tante Jean besuchen und mit Kate, die Jean am Lebensende pflegt, sprechen.

„Mordlust“, sagte er dann auf Deutsch. Wissen Sie, was Mordlust ist? Ein spezifischer Ausdruck, ein Fachbegriff. Man könnte ihn mit bloodlust übersetzen, aber das klingt so gewöhnlich – manchmal braucht man ein Wort aus einer anderen Sprache, um der Sache die nötige Schwere zu verleihen.
M? Lai war keine Ausnahme. Wir wissen heute mehr, aber wir wissen längst nicht alles, und das werden wir auch nie.

Jeremys Tochter Jennifer bleibt verborgen. Sie unterstützt die Ziele der Weathermen, einer revolutionären Organisation kommunistischer Männer und Frauen, die sich nach der kaltblütigen Ermordung Fred Hamptons, eines Aktivisten der Black Panther Party, am 4. Dezember 1969 vom amerikanischen Studentenbund SDS abspaltet und für mehrere Bombenattentate verantwortlich ist. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten führt sie das Leben einer Staatsfeindin im Untergrund.

Zu Jeans Begräbnis liest Simon einige Zeilen aus einem Gedicht von Ted Berrigan.

„Mein Land ist ein gutes Land …“

Das klingt wie eine Beschwörungsformel, über die sich die Trauer wie ein Bleimantel legt.

 

 

John Burnside: „Lügen über meinen Vater“

John Burnside: Lügen über meinen Vater

Ein Roman von fulminanter Wucht, würde ich mir, sollte ich für den Verlag eine Kritik von „Lügen über meinen Vater“ von John Burnside auf verwertbare, griffe Formeln untersuchen, markieren. Ich selbst lege bei der Auswahl meiner Lektüre keinen großen Wert auf diese Kritikerstimmenschnipsel, die auf der Rückseite abgedruckt sind und dort abbrechen, wo die Rezension ins Detail geht und differenziert.

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