Jean Portante: „In Wirklichkeit | En réalité“

Der Wille, die Wörter

Das umfangreiche lyrische Werk des luxemburgischen Schriftstellers Jean Portante, 1950 in Differdange geboren, ist auf dem deutschen Markt noch weitgehend unbekannt. 2005 erschien mit Die Arbeit des Schattens (französisch: Point, Editions PHI 1999) die erste Übersetzung seiner Gedichte (Übersetzerin: Odile Kennel) in der luxemburgischen Editions PHI. Nun folgt die Veröffentlichung eines weiteren Gedichtbands, En realité aus dem Jahr 2008, als zweisprachige Ausgabe In Wirklichkeit – En realité im Verlag Hans Schiler. Michael Speier und Brigida Bezzenberger haben als Übersetzerduo aus dem Französischen übersetzt.

Wenn ein Schriftsteller, der in unserer Nachbarschaft geboren wurde und in Paris lebt und arbeitet, als Lyriker, als Romancier, als Essayist, als Übersetzer, der zwischen Italienisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Spanisch und Lëtzebuergesch im Gespräch ansatzlos wechseln kann, 35 Jahre nach seinem literarischen Debüt, zum ersten Mal von einem deutschen Verlagshaus herausgegeben wird, so sagt dies, wie ich denke, sehr viel über den kritischen Zustand von Europa jenseits tagesaktueller Politik aus. Diese Kurzsichtigkeit zu beenden ist ein bedeutungsvoller Verdienst, hervorgegangen aus einem Zusammenspiel von Übersetzungsförderung, umsichtiger Übersetzungsarbeit und verlegerischem Interesse.

Portantes Gedichte werden von der Zentrifugalkraft zusammengehalten. Wie die Planeten unseres Sonnensystems sich um die Sonne und in unterschiedlicher Geschwindigkeit um die eigene Achse drehen, so tun wir Menschen es, trachten nach stabilen Umlaufbahnen in unseren vielfältigen Beziehungen zur Außenwelt. Die fünfzig Gedichte des Bandes sind ein langanhaltender Austausch zwischen dem lyrischen Ich und dem lyrischen Du, in welchem das Ich sich der Bedeutungslosigkeit bewusst ist und doch den rätselhaften Sinns der menschlichen Existenz zu entschlüsseln sucht. Das Individuum ist nicht mehr als kosmischer Staub, das den physikalischen Gesetzen folgt und doch die wechselnden Perspektiven auf der Umlaufbahn nutzt, sich ein Bild von unserer Welt zu schaffen. Abhängigkeit und Autonomie, die beiden Gegenspieler, lassen uns verstummen, lassen uns Wörter finden und sprechen.

In Portantes Gedichten sehen wir die Sonne, die Sterne, den Mond, die Erde und den Schatten, aber sie sind keine Chiffren einer verklärten Sehnsucht. Der Schatten spielt in Portantes Werk eine zentrale Rolle. Greifen wir zunächst auf zwei Strophen aus Point zurück, die der deutschen Ausgabe den Titel liehen:

kennst du die Arbeit des Schattens um
unsere Augen herum und alles was
unbemerkt vorübergeht wenn wir plötzlich
die Stunde berühren die fällt

wie eine Sonne fällt die fallend
das Fallen erlernt es liegt in deinem letzten Blick
ein unvollendetes Werk und in meinem
die Dringlichkeit eines endenden Tages

Portante lässt den Stand der Sonne und damit die Schatten nicht aus den Augen. In En realité fragt er:

Ist es zeit die schatten zu mahnen ihnen einzureden
wie HUNDEN OHNE HALSBAND dass der
moment der rückkehr gekommen.

umherschweifend waren sie kühn wie träume : will
sagen : ein schatten der sich löst von seinem herrn
dringt leicht bis unter die haut der elemente.

ob er dort glücklicher ist.

worin besteht seine zukunft : will sagen : findet der
schatten des glücks wenn er unter der oberfläche wühlt
durch zufall das glück des schattens.

Speier und Bezzenberger als Übersetzende haben sich entschlossen, die Formel, die sich durch annähernd alle Gedichte (gelegentlich mit leichten Varianten) zieht, : je veux dire : als : will sagen : einzusetzen. Dies verstärkt die Absicht Portantes, scheinbar etwas allgemeingültig erklären zu wollen, eine Lösung für ein Rätsel anzubieten, ein Geheimnis zu lüften. Scheinbar freilich deshalb, weil der Autor weder fähig noch willens ist, uns die Welt zu erklären. Mit dieser kleinen rhetorischen Formel führt er uns die Sinnlosigkeit vor Augen, für unsere Existenz eine verknappte Antwort anzubieten. Was Portante nach : will sagen : liefert ist nur wieder ein neues Rätsel, das nicht selten sprachlich so gebaut ist wie die Grafiken von M.C. Escher: Mit einem verborgenen Trick schließt sich ein Kreis zu einer Denkschleife, aus der es kein Entrinnen gibt.

all das nährt sich von seinem gewicht aus stille und
wiederbeginn : will sagen : diesseits des dampfes der schon
nicht mehr der unsre ist lassen die diebe des feuers
das rätsel erneut aufflammen wenn der tag gekommen ist.

Mein Französisch ist zu rudimentär, um die Finessen der Übersetzungsarbeit zu würdigen. Die deutschen Versionen lesen sich flüssig und selbstverständlich, kein Indiz für ein leichtes Original, eher für eine akribische Arbeit an der Übersetzung. Bei Portante scheint der Zeilensprung kein ausgeprägtes Stilmittel zu sein, um seine Inhalte zusätzlich mit Bedeutungsebenen aufzufüllen. Das wäre sicher des Guten zu viel. Dem Übersetzerduo gelingt es durch einige Freiheit in der Verslänge, die nicht nur bedingt ist durch die andere Sprache, die Gedichte mit ihrer Strophen- und Versanzahl und -länge etwa gleich abzubilden, was ein gutes Schriftbild und eine gute Lesbarkeit der zweisprachigen Ausgabe zur Folge hat.

Den Band beschließt ein sehr lesenswertes Gespräch zwischen Pierre Joris und Jean Portante über mehrsprachige Poesie. Beide Schriftsteller aus Luxemburg: einer hat sich entschieden, seine Literatur auf Englisch zu schreiben, der andere auf Französisch. Schnell kommen sie auf Paul Celan, der eine Dichtung außerhalb der Muttersprache als „doppelzüngiges Gerede“ abtat. Bei aller Würdigung Celans trifft diese vereinfachte Formel für beide nicht zu. Joris endet mit den Sätzen:

Und das ist auch der Grund, aus dem ich immer versuche, diese Trojanischen Pferde direkt in die Oberfläche der Sprache einzuschreiben – als Wortspiele, Zitate, in fremden Alphabeten oder manchmal sogar auf audiovisuelle, quasi morphemische Weise – und zwar so ganz offensichtlich, dass die Übersetzung darüber stolpern muss und so den Übersetzer/die Übersetzung zwingt, erkenntlich zu sein und auf sich aufmerksam zu machen. So zu schreiben ist, gelinde gesagt, anstrengende Arbeit, und manchmal sehne ich mich nach der Einfachheit des Einsprachigen (andererseits aber gibt es so etwas wie Einsprachigkeit nicht, wie wir sehr wohl wissen), oder ich wünschte, ich wäre ganz stumpfsinnig in nur einer Sprache zu Hause – doch dann stelle ich fest, dass dies in der Welt fade monochrom & monotone Zustände schaffen würde.