Wakayama Bokusui: „In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter“

Das tiefe Schwarz ist mir lieb
Tanka von Wakayama Bokusui

Mit dem Band „In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter“ stellt der Japanologe Eduard Klopfenstein das moderne Tanka, wie es für die Erneuerung der tradierten Waka-Dichtung in der Meiji-Ära zu Beginn des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist, dem deutschsprachigen Publikum vor. Die Publikation richtet sich an eine breite, der japanischen Literatur bislang nicht zugeneigten Leserschaft, denn Klopfenstein versteht es ausgezeichnet, mit wenigen Worten eine Einführung in die Epoche und ihre handelnde Personen zu geben. Wissenschaftliche Präzision gepaart mit guter Verständlichkeit: Das macht Lesefreude.

Klopfenstein wählt mit Wakayama Bokusui (1885–1928) nicht eine Person aus, die diese Erneuerungsbewegung initiiert hatte, wie Masaoka Shiki, Sasaki Nobutsuna, Yosano Tekkan und dessen Frau Yosano Akiko, sondern einen etwa zehn Jahre jüngeren Kollegen, der die Merkmale der Modernisierung bereits selbstverständlich anwendet und in seinem 15 Tanka-Bände umfassenden Gesamtwerk schließlich zum Meister dieser Dichtung wurde.

Drei Tanka aus dem Frühwerk, das innerhalb des Gesamtwerks Wakayamas auch heute noch einen hohen Stellenwert hat und sich in Japan großer Beliebtheit erfreut:

Zwei Wolken
streben aufeinander zu
trennen sich wieder
schwinden dahin in die blaue Weite
des Frühlingshimmels

Die konkrete Beobachtung, der festgehaltene Moment, die Abwesenheit des Menschen, des Individuums im Angesicht der großartigen Natur: eine eher tradierte Tanka-Auffassung.

Angelehnt neige ich
mein Gesicht zum Baum hin
Da pocht an die Wange
kaum spürbar der Pulsschlag
des herbstlichen Waldes

Die Entdeckung des modernen Menschen als Individuum, das lyrische Ich, die Herstellung von wechselseitigen Bezügen von Innen und Außen.

Stielblütengräser
Rote Pimpernelle Binsenhalme –
Herbstgräser
als Zeichen tiefer Einsamkeit
will ich dir schicken

Die Hinzunahme des lyrischen Du, der Dialog, die Natur tritt hier in den Hintergrund, liefert Metaphern und Jahreszeitenwörter, Kigo, für das Gespräch mit der Geliebten.

Und doch findet sich bereits im Wolkenbild des ersten Tanka alles, was das Leben, auch das zweier Liebenden, auszumachen vermag: Das Streben nach Vereinigung, Einheit, Trennung und Entschwinden.

Klopfenstein ordnet die Auswahl der Tanka in fünf (Lebens-)Abschnitte: Das Frühwerk 1904–1910 | Dunkle Jahre des Übergangs 1910–1912 | Stabilität und Selbstironie 1913–1917 | Gereifte Sensibilität 1918–1920 | Die letzten Jahre 1921–1928. Biografische Hintergründe sind im Anhang erläutert, sodass wir einen Einblick in das Leben des Dichters erhalten und gleichzeitig nachvollziehen können, wie Lebenslust und Krise in der Beschränkung von 31 Moren (oder in freieren Versen, die ab 1910 verstärkt auftreten) zum Ausdruck kommt.

Was Klopfenstein „ein Kaleidoskop“ nennt, dessen „Splitter zu farbigen Mustern“ sich ordnen, ist doch ein Vielfaches von dem, was in deutschsprachigen Internetquellen über das Leben des Japaners bereitsteht: Die Herkunft aus einem abgelegenen Tal auf der Insel Kyushu, glückliche Kindheit, starke Bindung an die dortige Natur. Erste Berührungspunkte mit modernen Tanka. Studium in Tokyo, intensive dichterische Aktivitäten. Ausgedehnte Wanderungen durch Japan. Das Feuer der Liebe und die Asche. Einsamkeit. Trunksucht. Die Suche nach Halt in einer Ehe, Frau und Kinder, die ihm wichtig sind. Gesellschaftliche Anerkennung als Dichter, prekäre finanzielle Situation, Unruhe, Glorifizierung des Reisweins, Rückzug aus dem Stadtleben, Rückkehr in die Naturräume seiner Kindheit, der Blick auf den Fuji und in die Ferne, der Blick ins Dickicht des Waldes mit dem tiefen Schwarz seiner Kiefern. Unerwarteter Tod.

Abgestreifte
Blätter vom Bambusschössling
hebe ich auf
nehme sie mit – eine Schönheit
die mir ans Herz rührt

Wakayama Bokusui in der Übersetzung von Eduard Klopfenstein – ein schönes Buch, reich ausgestattet und brillant.