Kerstin Preiwuß: „Gespür für Licht“

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Aalmutter fang an
Kerstin Preiwuß mit Gespür für Licht

Hans Christian Andersen notiert in Eine Geschichte aus den Dünen den Satz: „Das Kindesalter hat für jeden seine Lichthöhen, die später durchs ganze Leben hindurchstrahlen.“ Kerstin Preiwuß nimmt uns in ihrer dritten Lyrikpublikation mit in einen geschützten Raum, der voller (Vor-)Freude und Ängste ist. Sie führt uns entlang der Jahreszeiten in die zweite Hälfte ihrer Schwangerschaft, zur Geburt und zum ersten Lebenshalbjahr ihres Kindes. Die Unsicherheit, die Verlustängste der (werdenden) Mutter sind in der Referenz zu Andersens Aalmutter festgehalten, einem dem Jahreszeitenzyklus vorangestellten Gedicht, in dem es heißt:

Ich habe kein Gespür für mich selbst
aber ein Gespür für Licht.

Ungeduldig wird das Frühjahr erwartet. Es ist bereits April und die Temperaturen sind immer noch um den Gefrierpunkt. Die Außenwelt verschmilzt nach wenigen Gedichten mit der Innenwelt. Sollte Mann überlesen haben, dass die Autorin das Wort Mutter bereits zweimal benutzt hat, so bringt sie mit überzeugender poetischen Kraft und Klarheit ihre Schwangerschaft zum Ausdruck.

Ich halte meine Hand an den Bauch.
Das Wasser schwappt gegen den Rand.
Die Waage zittert leicht.
Ich bin eine Höhle davor eine leere Hülle danach.

Wir dürfen die Entwicklung dieser beiden Menschen miterleben, spüren, wie sie sich annähern, dort, wo sie schon ganz nahe sind:
Du bist noch ein Fremdwort. – Noch hält die Fracht. – Ich bin da widerhallt mein Kind.

Spätestens im siebten Frühlingsgedicht kann ich eine literarische Analogie nicht mehr übersehen. Und ich möchte darüber sprechen. Ich habe solch zarte, der Außenwelt von innen heraus zugewandte Lyrik schon einmal gelesen. (Sicherlich lässt sich mehr als eine Seelenverwandtschaft finden, so alt die Mutterschaft ist, so lange ist sie bestimmt literarisches Thema.)

Mevina Puorger hat 2004 die Gedichte aus dem Nachlass von Luisa Famos unter dem Titel ich bin die schwalbe von einst zweisprachig, rätoromanisch und deutsch, herausgegeben. Kapitel III trägt den Titel Ich warte, dass der Kreis / Der Jahreszeiten sich schliesst. Am 25. November 1964 schreibt Famos:

Für mich war jener Tag
Der letzte meines Herbstes
So lichterfüllt
Vor allen andern lieb
So anders war der Himmel
In seinem tiefen Blau
Verwoben mit Wünschen und
Fragen ohne Antwort

Es lohnt sich, beide Bücher nebeneinanderzulegen und sich vorsichtig heranzutasten an das, was Mutter und Kind verbindet.

Kerstin Preiwuß gibt ihren Zweifeln, ihren Ängsten Raum. Da ist nicht nur die frohe Erwartung, eine Mystifizierung der Mutterschaft, wie sie ohnehin nicht mehr in die moderne Gesellschaft passt. Was man von einer Dichterin erwarten darf, erfüllt Preiwuß. Sie arbeitet präzise an der Sprache und nimmt dabei intime Augenblicke nicht aus. Sie rückt rücksichtslos ihre Schwächen ins Licht, um daraus poetisch wie persönlich Kraft zu gewinnen für das neue Leben.

Ich will verschwimmen bis ich unsichtbar bin.
Wie Wasser im Fluss nicht zu erkennen
wann es an Fahrt gewinnt
und wie es vor und zurückschnellt.

Und an anderer Stelle dieser wunderbare Aufschrei:

Guten Morgen du rapsgeiles Land.
Alles prima heute.
Ich bin im Gleichgewicht.

In dem Gedicht über die Geburt kulminiert der Zweifel, der Schmerz.

Enge treibt mich.
Wehe bin ich
hab noch nichts zur Welt gebracht
[…]
Immer noch eng der Kanal.
Verformt mir’s Ah.
[…]
Danach weht Wind.
Danach schmutziges Kind.
Danach blauer Himmel.

Nach der Geburt, in der Lebensphase, in der der Säugling ganz von der Mutter abhängig ist, wechseln Zuversicht, Ungeduld und tiefe Zweifel in schneller Folge. Dabei wendet sich die Mutter verstärkt der Außenwelt zu, ruft regelrecht nach Impulsen von außen, die sie aus ihrer Situation herausreißen.

Leben benötigt Zeit auf einem Planeten.
Ich muss das anerkennen.

Ich will fortgehen weil ich nicht weiß was das ist.

Ich weiß gar nicht mehr ob es mich gibt.

Ich zerbreche.

Das sind Aussagen, die andere Mütter in ähnlicher Form äußern. Sie zeugen von der kraftraubenden Arbeit, die frau bewältigt, um Kinder aufzuziehen.

Bin leer in mir ein Gefäß innen
und außen Material aus Welt.
Osmose ausgeschnitten
heißt erkennen was man schon weiß.

Wenn Preiwuß ihren Band mit dem Volkslied Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder … eröffnet, zeigt sie: sie ist sich bewusst, ihre Mutterschaft steht in einer langen Generationsfolge, in die die 1980 geborene Lyrikerin sich nun einordnet. Sie ist nicht klüger als andere Mütter. Sie formt neue Sätze, neue Bilder, darin enthalten die Lebenserfahrung anderer. Es sind poetisch kraftvolle Bilder, die sie ihrem Kind und sich widmet.