Juan Gelman: „Leidland – País del dolor“

Tinte, die kein Leid schreibt

Das Werk des Dichters Juan Gelman (1930-2014) wurde mit allen wichtigen Literaturpreisen der spanischsprachigen Welt ausgezeichnet. Es umfasst 31 Lyrikbände und kann, folgt man den Betreibern der Webseite des Schriftstellers, in drei Schaffensphasen aufgeteilt werden; Einleitung: Utopie und Revolution (1956-1973) | Exil: Unterbrechungen und Erinnerung (1980-1994) | Ein glühendes Handwerk (1997-2014). Zu jeder dieser Phasen liegt mir ein Band in deutscher Übersetzung vor: So arbeitet die Hoffnung. Lyrik des argentinischen Widerstands in der Übertragung von Wolfgang Heuer und Miquel Salí von 1978 (Oberbaumverlag Berlin), Kom/positionen & Darunter, übertragen von Juana und Tobias Burghardt aus dem Jahr 2013 (Edition Delta, Stuttgart) sowie das zu besprechende Leidland, für das Walter Eckel, Direktor des Heidelberg Centers Lateinamerika, für Übertragung und Einführung in Leben und Poesie des Argentiniers verantwortlich zeichnet.

Leid ist der Schlüsselbegriff dieser Gedichtauswahl aus dem Spätwerk Gelmans. Es verdichtet sich in den beiden Zeilen:

Cuando el dolor se parece a un país
se parece a mi país.

Wenn das Leid einem Land gleicht,
dann gleicht es meinem Land.
(aus: „País“ – „Land“)

Ohne dass Gelman das Wort benutzt, ist es folgerichtig, aus diesen beiden Zeilen das Titelwort zu bilden: Leidland. Die Übersetzung ist dabei nicht zwangsläufig. Im Deutschen gibt es feine Unterschiede zwischen Schmerz und Leid, die spanische Sprache bietet für Schmerz el dolor, für Leid el sufrimiento an. Ist der Schmerz eher ein akutes Ereignis, wird es im chronischen Zustand zum Leid.

Si el dolor es físico y de alma
el sufrimiento, díganme
cómo se distribuye la pasión
del cuerpalma […]

Wenn der Schmerz körperlich ist und seelisch
das Leiden, sagt mir,
wie sich die Leidenschaft
der Körpseele verteilt […]
(aus: „Distribuciones“ – „Verteilungen“)

Aber diese Finessen spielen keine Rolle angesichts der Verschleppung und Ermordung von Gelmans Sohn Marcelo und seiner schwangeren Schwiegertochter María im Jahr 1976. Die Gefolterten und die Angehörigen der Desaparecidos, der Verschwundenen, sind lebenslang durch unendliches Leid gezeichnet.

Im Bereich der Sprache sind mir in Eckels Übertragungen einige Alliterationen aufgefallen, die sich im Original nicht abbilden.

[…]
En el tajo de sus corrientes extrañas.

[…]
Im Schnitt seiner seltsamen Strömungen.
(aus: „El tajo“ – „Der Schnitt“)

Keine Frage: Leidland ist ein kraftvoller Titel. Land des Schmerzes fiele dagegen weit ab.

Es gibt, wie ich denke, einen weiteren Grund, Leidland der Gedichtauswahl voranzustellen. Zu finden ist dieses Wort in Rilkes Duineser Elegien. Rilke versteht Leidland als Zwischenraum zwischen Leben und Tod, ein Raum der Trauerkultur. Er schreibt:

Doch der Tote muß fort, und schweigend bringt ihn die ältere
Klage bis an die Talschlucht,
wo es schimmert im Mondschein:
die Quelle der Freude. In Ehrfurcht
nennt sie sie, sagt: – Bei den Menschen
ist sie ein tragender Strom. –Stehn am Fuß des Gebirgs.
Und da umarmt sie ihn, weinend.
(aus: Rainer Maria Rilke „Die zehnte Elegie“)

Mir scheint, Rilke Klagelied stimmt überein mit der Ansprache des totlebendigen Vaters an seinen lebendigtoten Sohn.

Du bist also zurück.
Als ob nichts geschehen wäre.
Als ob das Konzentrationslager, nein.
Als ob seit 23 Jahren,
in denen ich dich nicht gehört und gesehen habe.
[…]
Du wirst jetzt nie mehr aufhören aufzuhören.
Wieder und wieder kommst du zurück,
und ich muss dir erklären, dass du tot bist.
(aus: „Wiederkünfte“)

Es ist ein Frage, die auch Eckel umtreibt: Wie kann ein Mensch solches Leid aushalten, ohne daran zu zerbrechen? Im Kapitel Leid, Liebe und die Poesie zitiert Eckel in seinen einleitenden Worten Gelman.

Keine von der Natur oder vom Menschen verursachte Katastrophe hat jemals den Faden der Poesie durchtrennen können.
(aus: „Rede zur Verleihung des Juan-Rulfo-Preises,“ 2000)

Eckel schreibt weiter:

Doch haben nicht alle, die über das Schreiben die „Erinnerungswunde“ zu schließen suchten, stellvertretend seien hier Primo Levi und Paul Celan genannt, ihr Leben auf natürliche Weise beenden können.

Wenn hier über Shoah oder Khurbn gesprochen wird, so wird der Bezug von Gelman, dessen Eltern ukrainische Einwanderer jüdischen Glaubens waren, durch einen historischen Vergleich (nicht: Gleichsetzung) hergestellt.

[…]
Gräber im Wasser geschaufelt, Paul Celan. […]
(aus: „Land“)

Eckel kommentiert:

Wenn auch das religiöse Motiv und die industrielle Perfektion der Vernichtungsmaschinerie in Argentinien im Vergleich zu Deutschland nicht vorhanden waren, so standen die argentinischen Folterzentren ihren deutschen Vorbildern in Grausamkeit und Perversion in nichts nach.

Der Akt des Schreibens, des Dichtens ist das, was Gelman davor rettet zu zerbrechen. Graben ist hierfür weit mehr als eine Naturmetapher. Wenn man Gelmans Suche nach seiner zwangsadoptierten Enkelin María Macarena und die Aufklärung der Verbrechen an seiner Familie nimmt, ist das Graben in der Geschichte, deren Oberfläche durch Amnestie und Amnesie versiegelt wurde, ein konkreter Akt, einer, der mit der Verurteilung des Staates Uruguay durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica am 24. Februar 2011 Rechtsgeschichte schrieb.

Der kahle Baum, auf dem zwei Vögel sitzen, die Einbandgestaltung von Jürgen Kostka, steht für den Dichter und seine Poesie. Auf der Rückseite trägt der Baum neue Blätter, Hoffnung auf eine neue Zeit mit

[…] Tinte,
die kein Leid schreibt
(aus: „Wetten“)

Es mag banal klingen: Durch die Kraft der Liebe wird diese Hoffnung in die Welt getragen. Mara La Madrid, Psychotherapeutin aus Buenos Aires, wird Gelmans große Stütze beim Graben unterhalb des Vergessens und später seine zweite Frau. In einem ihr gewidmeten Gedicht ist für immer festgehalten:

Deine Luft ist die Sonne, die ich habe
und die gestern im Heute schreibt.
Die Reise besteht darin,
Himmel zu bauen, die von Dauer sind.
(aus: „Von Dauer“)