Lisa Elsässer: „flussbewohner“

Das Jahr der Liebe

Schatten und Licht bestimmen das lyrische Ich in Lisa Elsässers neuem Gedichtband: seine gegenwärtigen Gefühle, sein Sehnen, sein Verzweifeln. Dabei lese ich flussbewohner als eine Art lyrisches Tagebuch, das die An- und Abwesenheit des lyrischen Du verortet. Den einundachtzig, zumeist kurzen Gedichten sind Zeilen von Dorothy Parker vorangestellt, die den Weg, wohin die Lektüre des Bandes führt, vorzeichnen: in eine intime Schutzzone, in der das Du und das Ich sich begegnen, sich abstoßen, auseinderdriften, sich wieder annähern, eins werden, zwei bleiben und in unsichtbaren Überlagerungen mehrfach besetzt werden.

als das telefon nicht
klingelte, wusste ich
ganz genau, dass du
es warst
(Dorothy Parker)

Welche Erwartungen werden mit den Zeilen Parkers genährt? Erlebt Parkers Galligkeit, „Liebe ist ein Griff ins Klo“, eine Wiedergeburt in den Zeilen Elsässers: die lebensbejahende Lust am Leben, die Lust an Sexualität, das Todesnahe ihrer Verzweifung an der vom Leben inszenierten Langeweile, gegen die die Amerikanerin mit böswilligem Spott aufbegehrte oder mit Suizidversuchen? [Diese wenigen Zeilen über Parker können nicht das Leben der Schriftstellerin abbilden, schon gar nicht jene Aspekte abseits des Glamours: ihr Einsatz für die Rechte Unterpriviligierter und ihre Tätigkeit als Korrespondentin im Spanischen Bürgerkrieg.]

mein schreibtisch

hat eine affaire mit
einer alten dichterin
ich lasse sie und ihn
ein paar gedichte
schreiben über die so
genannte liebe meine
freiheit grenzenlos
(aus: „mein schreibtisch“)

Elsässer ist eine stille Beobachterin, die ihren Gefühlen keine pompösen und auf Außenwirkung gedachten Worte verleiht. Das Wortrepertoire ist bekannt, es gibt wenig Sprachexperimentelles. Severing Perrig nennt Elsässers Sprache eine Vermeidung des „kieselslangs“, des neumodisch Zeitgeistigen.

heute
eine muschel gefunden
im salzigen gras
ich dachte an dich
und hörte im wolkenmeer
das sanfte rauschen
deiner stimme

Als Tagebucheintrag ist das schön, als Ausgangsmaterial für eigene Entdeckungen und Begegnungen, als Lyrik, die mich mit meiner eigenen Gefühlswelt konfrontieren, mich (als Mann [es wäre falsch, den Genderaspekt völlig in Abrede zustellen]) rühren könnte, ist es mir an dieser Stelle zu konventionell, zu wenig. Wie aber das Gesagte neu sagen? Und wozu? Ist nicht schon alles gesagt? Und ist es nicht ausreichend wertvoll, dass überhaupt etwas gesagt wird, dass Worte gesprochen werden?

keine worte

kommen mir mehr
übern mund und
das licht ein kaltes
glas an meiner wange
mir zu füssen scherben
gefallene stunden

ohne glück

Das Phänomen und Problem der abgesetzten letzten Gedichtzeile kenne ich aus meinem eigenen Schreiben. Ist der Ton noch so leise, zurückhaltend, fast unhörbar, erliegt man/frau doch der Versuchung, etwas überdeutlich zu sagen, was längst zum Ausdruck gekommen ist. Hier wäre das Lektorat gefragt gewesen, um die letzte Zeile ersatzlos zu streichen.

Mein Eindruck beim ersten Lesen der Gedichte war, dass sie, gerichtet an ein Du, ausgerichtet auf ein zukünfiges Wir, mich nicht ansprechen, ganz im Sinne: Ich, ein ferner Kritiker, bin nicht gemeint. Es geht mich nichts an. Die Frage der Relevanz ist grundsätzlich ein Problem einer Lyrik, die den Dialog zwischen Du und Ich konsequent durchsteht, natürlich trifft das für jedes Tagebuch zu.

finissage

es ist das letzte
in diesem jahr
und zeig mir dein
gesicht im gedicht
das jahr der liebe
das zu ende geht

Bei näherem Hinschauen entwickelt Elsässer jedoch Wege, wie sie die zuvor genannten Kritikpunkte sehr weit hinter sich lässt. Das gelingt nicht durchgängig, aber die Lichtstrahlen sind kraftvoll und erwärmen mich. Dies geschieht durch eine leichte Verschiebung des Wortmaterials, die ausreicht, um den lästigen Eindruck des Schoneinmalgehörten abzuschütteln. Zwei Beispiele:

du wirst es mir nicht glauben

die bienen kommen dieses jahr
im herbst und die eichhörnchen
erwachen dann sie riechen gerne
nur einen winter lang den schnee

wir haben uns den sommer über
verschlafen einander zugewandt
betrachten die bienen und schnee
blüten treiben im offenen mund

und

wieder

schichte ich alte hölzer
sie scheuen feuer und so
brennt wieder nur der tag
erloschen weht seine
asche in die dämmerung

kalt die nacht ein tier
ohne fell und hier höre ich
die sprache zwischen holz
und scheu brennen
alle schichten lichterloh

Hier bin ich mitten im Geschehen, kann mich in die Situation einfinden. Die Worte fordern mich auf: Schau auf die Sprache zwischen den Dingen! Das macht mich neugierig. Ich dringe ein. Die Suche der Autorin nach einem Wesen mache ich zu meiner eigenen. Zumal Elsässers Verzicht auf Satzzeichen an vielen Stellen unterschiedliche Lesarten bietet. Die Möglichkeit, Zäsuren selbst zu setzen, ergibt sich aus einer klugen Verzahnung der Verse. Der Atem, Maß der Verslänge, darf variieren.

Was zumeist gut gelingt, generiert, es soll nicht verschwiegen werden, auch schwache Verse.

denn auch wenn uns doch die
(aus: „die tage flüchten jetzt“)

Über ein Wort im Gedicht „schweigen“ habe ich mich verwundert: die „mundkeller“. Ich kann mir dieses Wort nicht ohne Andreas Neesers Gedicht „Großmutters Mund war ein Keller“ aus dem Band „Wie halten Fische die Luft an“ (Haymon, Innsbruck 2015) denken. Bin ich auf einer falschen Spur oder führen die beiden Schweizer mittels ihrer Bände einen poetischen Dialog?

in begleitung stummer fische
tauchst du in den trüben grund
(aus: „angeln“)

die flüsse hüten dümpeln tage dahin
spiegeln sich in seltenen pegeln
vielleicht ist es ihr alter die jahre und
dass sie und wir diese fische noch sehen
(aus: „summertime“)

Das titelgebende Gedicht gehört zweifelsohne zu den stärksten des Bandes. Elsässer lässt ihren Worten mehr Raum, das Gedicht ist länger als die meisten anderen und geht in die Tiefe des Flusses. Es lässt sich lesen im Dialog mit Neesers „Die Strömung wird stärker“ oder als melancholischer Monolog. Gleichwie meine oder jede andere Lesart ist: „flussbewohner“ ist ein großartiger Text, bei dem das Sprachmaterial, die Verse, die festzulegenden Atemzäsuren sich zu einer starken Präsenz vereinen.

deine schmerzen hast du
mir hinterlassen wie schöne
kieselsteine ordne ich nun dein

und mein nicht auseinander
zu halten ist das flussgeschliffene
grau dem das wasser beibrachte

still still zu liegen so wie wir
manchmal in der stille lagen
und über uns das fliessen

in der strömung einander
zugewandt stumm im dunkel
zogst du aus ohne ein gepäck
(aus: „flussbewohner“)