Ludwik Hering: „Spuren“

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»Warschauer Ghetto« oder »Ghetto in Warschau«?
Überlebensspuren von Ludwik Hering

Sprache ist eine mächtige Waffe. In Polen wird sie von der nationalkonservativen PiS benutzt, um ein ihr gefälliges Geschichtsbild in der Gesellschaft zu verankern und missliebige Sichtweisen unter Strafe zu Stellen. Auschwitz, Sobibor, Majdanek, Belzec, Treblinka sind NS-Vernichtungslager auf polnischem Boden. Es sind nicht, waren nie und werden es nie sein, polnische … Hier nicht abzubrechen könnte einen Tatbestand erfüllen, den der polnische Staat mit einem Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren verfolgen will. Zweifellos ist es ein sprachliche Lapsus, wenn im Zusammenhang mit der Geschichte des Nationalsozialismus‘ und des Zweiten Weltkriegs das ortsbenennende Wort so gebraucht wird, dass der Eindruck entstehen könnte, es behandele die Frage nach Täterschaft und Schuld. Irgendwo in Polen sitzen Menschen, die das Internet durchkämmen und einen Zähler eingerichtet haben, der die Verwendungshäufigkeit des nun strafrechtlich relevanten Begriffs anzeigt. Dabei werden mit politischem Kalkül die Begrifflichkeiten aus dem Kontext gerissen und an den Pranger gestellt.

Was sich über die Vernichtungslager sagen lässt, gilt es nicht ebenso für die Ghettos, die die Deutschen auf polnischem Boden, so in Warschau, errichtet haben? Spreche ich nun demnach besser vom „Ghetto in Warschau“?

Die PiS zeigt kein Interesse an einer verschiedene Blickwinkel zusammentragenden Erinnerungspolitik. Konzepte wie es das Museum des Zweiten Weltkriegs in Gdansk liefern möchte, werden ins Abseits gestellt.  Über den Antisemitismus in Polen, gemeint: der Polen zu sprechen, ist tabu. Und diejenigen, die gegen den einseitigen Diskurs die Stimme erheben, werden niedergeschrien, ausgeladen, diffamiert. Auch moralische Instanzen wie Wladyslaw Bartoszewski (1922-2015) wurden vom Zorn der Rechten getroffen. Es gilt, an die Worte zu erinnern, die der Historiker, Publizist und Politiker im Nachwort zu Janina Baumans: „Als Mädchen im Warschauer Ghetto. Ein Überlebensbericht“ schrieb:

Meine Familie pflegte mit einigen Familien der jüdischen Intelligenz Warschaus Verbindung, was damals – von beiden Seiten – durchaus nicht üblich war. Ich erinnere mich genau an die Aufrufe verschiedener Organisationen der damaligen politischen Rechten zum Boykott des jüdischen Handels in Warschau. Ebenso erinnere ich mich an Aussagen der rechten Presse und eines Teils der katholischen Presse, die die Juden kollektiv für alle sozialen und politischen Übel verantwortlich machten, für Pornographie und Kommunismus, für Armut und wirtschaftlicher Rückschritt der polnischen Gesellschaft, für Atheismus, aber auch für religiösen Fanatismus.

Mit „Spuren“ von Ludwik Hering (1908-1984) kommt nun ein weiterer Zeitzeuge erstmals in deutscher Übersetzung zu Wort:

In den Schaufenstern hingen – von den Deutschen sorgfältig in goldenen Lettern gesetzt und mit amtlichen Rähmchen versehen – alle paar Wochen neue „goldene Gedanken“ des Priesters Stanislaw Trzeciak – über das Wesen der Juden, das der Menschheit nichts als Verderben bringe. Im Handelskalender war jeder Tag geziert mit einer Sentenz der „Weisen“ zu eben dieser Frage – aus der unerschöpflichen Schatztruhe der katholischen Vorkriegspresse.
An den Laternenpfählen hingen Anschläge mit Ekel erregenden Gesichtern, als stammten sie unmittelbar aus dem „Katholischen Führer“. An den Mauern in der Nähe der Kirchen waren die Aufschriften noch nicht verblasst: „Tod den Juden – Polen muss katholisch sein!“
[aus: Das Schlupfloch]

Herings schriftstellerisches Werk umfasst die nun in einem Band versammelten Erzählungen „Spuren“, „Das Schlupfloch“ und „Zieleniak“, entstanden in Lodz 1945 bzw. 1946. Danach ist er verstummt und doch zu einer wichtigen Inspirationsquelle für andere, beispielsweise für Miron Bialoszewski (1922-1983) geworden. Sind „Spuren“ und „Zieleniak“ wenige Seiten umfassende Erzählungen, die eher in auktorialer Weise die Verbrechen in Warschau während des Zweiten Weltkriegs aufzeigen, gelingt es Hering in „Das Schlupfloch“, die Distanziertheit, die fast totenstarre Subsummierung des Terrors aufzuweichen, in dem er mit Brzozowski eine Figur einführt, die in der Gerberei Temler & Szwede, unmittelbar an der Grenze zum Ghetto gelegen, als Nachtwächter arbeitet.

Brzozowski kommt vom Dorf, wird als Depp, als „Dämlack“ angesehen, der nicht so recht in die städtische Gesellschaft passt, aber sich anstellig zeigt, selbst die niedrigsten, dreckigsten und gefährlichsten Arbeiten in der Gerberei zu machen. Nach einem Unfall, bei dem ein Kollege stirbt und er mit Vergiftungen davonkommt, die ihm seine Gesundheit ruinieren, nimmt er die Arbeit als Nachtwächter an. Sein privates Glück findet Brzozowski spät und es ist eher von kurzer Dauer. Sein Sohn Jedrek wächst, Tür an Tür mit der jüdischen Familie Majeraniec wohnend, mit deren gleichaltrigem Sohn Mietek auf. Beide freunden sich an. Die Freundschaft endet jäh in einem Gewaltexzess der radikalen, nationalistischen-antisemitischen Bewegung Endecja (ND-cja).

Eines Tages weckte ihn ein entsetzlicher Schrei aus der Wohnung der Familie Majeraniec. Ein Polizist hatte die Nachricht gebracht, dass ein Schlägertrupp der Endecja Mietek tot geprügelt hatte, bei einem Pogrom auf dem Napoleon-Platz.
Die Nachricht aus dem Spital, wo der böse zugerichtete Jedrek seinen Verletzungen erlag, traf später ein.
Brzozowski sah seinen Sohn erst in der Leichenhalle wieder.
Als sie von der Beerdigung zurückkehrten, fasste Mieteks Mutter Brzozowski im dunklen Flur an den Händen.
„ Unsere Kinder, unsere Kinder …“, flüsterte sie schluchzend.
Frau Brzozowska sagte mit schwerer Stimme:
„ Mietek … ja … aber warum denn mein Junge?“
Die Jüdin ließ Brzozowskis Hände los, als hätte sie sich verbrüht.
„ Dann soll also mein Sohn ein Verbrecher sein, dass er den Tod verdient hat? Und das sagt ihr, wo ihr ihn kennt vom ersten Tag an? Ihr?“

Jedreks Tod war „eine Verwechslung, ein Unglück bei der ganzen Aktion, für das wir nichts konnten“, entschuldigen sich die Täter kurze Zeit später und legen verstohlen Geld auf den Tisch. „… die Organisation sieht sich verpflichtet, die Kosten zu übernehmen, die entstanden sind.“

Brzozowski versucht am Ende der Erzählung, einen jungen Juden zu retten, während beim Teestündchen in der Vorstandsetage graumelierte Worte fallen.

„Manchmal vergesse ich, dass es Juden sind, und denke, dass es trotz allem schrecklich ist.“ […] „Dann werden wir es nämlich zu schätzen wissen als Lösung einer Frage, die wir selbst, und zwar allein unserer Sentimentalität wegen, nicht zur rechten Zeit zu lösen wussten und die wir … so fürchte ich … im Grunde auch niemals lösen könnten.“

Dem Ingenieur ist das zu kompliziert.

Mit ehrlich-heiterer Offenheit blickte er in die Runde und schloss mit einem leichten, von Herzen kommenden Ausruf: „Abschlachten, die Juden!“

Auch einundsiebzig Jahren nach ihrer Entstehung sind Herings Erzählungen von aktueller Brisanz.