Tobias Burghardt: „Mitlesebuch 117“

Krumme Wasseradern

Die Lyrikreihe Mitlesebuch kann abonniert werden und ist laut APHAIA Verlag ein Format, welches den Autorinnen und Autoren die Möglichkeit bietet, Auszüge ihrer Dichtung einem größeren Publikum bekannt zu machen. Die fadengebundenen Bücher, Hefte, haben einen Umfang von etwas mehr als 30 Seiten und lassen einen Einblick in das Schaffen der Schreibenden zu. Mitlesen bedeutet zweierlei: Bei der Lesung zur Präsentation der Neuerscheinung ist das Buch ein Format, das leicht in den Händen liegt und durch Mitlesen ermöglicht, den Zugang zu der vorgestellten Lyrik zu finden. Und: Mitlesen als zeitlich begrenztes Nicht-Alles-Lesen. Es gewährt einen ersten Einblick in ein umfangreiches Werk, das möglicherweise im vorgegebenen Umfang nicht ausreichend repräsentiert werden kann. Dies ist kein Argument gegen dieses Konzept, das auch hochroth erfolgreich umsetzt (und uns durch Fundstücke aus der Weltlyrik abseits ausgetretener Pfade bereichert). Vielmehr eine Einladung, die Autorin, den Autor in weiteren Publikationen zu verfolgen, bis ein Gesamtbild entsteht.

Hineingestoßen in den Kosmos des Lyrikers, Übersetzers und Verlegers Tobias Burghardt, versuche ich zunächst, mich zu orientieren, suche eine Ordnung, doch bereits der erste Gedichttitel gibt zwei Richtungen vor: Flussabwärts, flussaufwärts. Ein anderer Titel ruft Erinnerungen an meinen Großvater hervor, der auf einer Insel im Rhein zur Welt kam: Flussinseln und andere Gemarkungen. Ich sehe, wie sich das Wasser an der Inselspitze teilt, Wirbel entstehen und Kiesel und Sedimente ohne mein Zutun in die eine oder andere Richtung flussabwärts getrieben werden.

Vielleicht unterscheidet man nicht mal
zwischen Wassern den Schlick
oder Ufern und Abdrift, zugleich
graugrüner Schiffsrumpf
auf lebhaftem Grund?
[aus: Clowns Pause (Eine Mondfahrt)]

Es geht nicht nach meinem Ordnungswillen. Hier herrscht das freie Spiel der Kräfte, Assoziationen, Lebensstationen; es gibt Widmungen, Totengebete, Referenzen auf vorislamischen Gedichtformen (III Wasser der Qasida). Und ob der Fluss Tigris oder Neckar heißt, den Burghardt in Augenschein nimmt, es stellt sich die Frage, ob wir uns Wasserwege überhaupt noch anders als begradigt und eingepfercht vorstellen können.

lies […]
die krummen Wasseradern
auf deiner Stirn, in deinen Händen.
[aus: Querfeldein]

Ich schlage das Buch zu. Lege mein Raster weg. Schlage den Band erneut auf, lese:

Gesicht zum Fluss

Die Wasserfurche, die Furcht, die Furt
mit der Netzhaut zu durchschwimmen,
einzutauchen, zu durchwaten und nach-
zuzeichnen: vorne im Flimmerwind am
Bug hebt sich die Landschaft zur Welle
und spricht mit den äußersten Winkeln
am Saum, wo das Hautnetz der Hände
im Schlepptau der Blicke schon wartet
und wieder beginnt, fließend zu fassen,
was es alles vergeblich nach sich zieht.

Burghardt schreibt fast durchgehend in freien Dezimen, einer in der spanischsprachigen Welt bis heute bedeutenden Gedichtform aus zehn Versen mit und ohne Reimschema. Bevor Burghardt 1986 nach Stuttgart kam, wo er mit seiner Frau Jona die Edition Delta leitet, lebte er in La Paz und Buenos Aires. Ein Programmschwerpunkt des Verlags ist die lateinamerikanische Poesie. Begegnungen mit Menschen und Landschaften dieses Kulturkreises prägen auch das Mitlesebuch. Maria Reiche, der deutschen Entdeckerin der Nazca-Linien, sind Gedichte gewidmet. Mit Juan Gelman hat sich Burghardt in den beiden Veröffentlichungen „Welteln-Mundar“ und „KOM/POSITIONEN & DARUNTER“ auseinandergesetzt. Unter dem Einfluss von Clarisse Nicoїdski, begann Gelman, sich mit dem Sephardischen (Judenspanisch, Ladino) zu beschäftigen. Im Mitlesebuch finden sich Gedichte für Gelman. Burghardt schreibt ein Gedicht in Sephardisch, dessen Übersetzung er mitliefert. Im Sommer wird er eine Doppelausgabe mit der Lyrik Nicoїdskis herausbringen. So fließt es zusammen, das Wasser des Lyrikers, des Übersetzers und des Herausgebers. Möge es frei strömen, möge es nicht versickern oder abgegraben werden, wie in dem Gedicht, das Burghardt dem 1940 geborenen Bolivianer Pedro Shimose widmet.

Unterwegs nach Luribay Altiplano
für Pedro Shimose

Mit dem ungeschehenen Flusslauf,
der nicht mehr Wasser kennt
noch Treibgut, um die Wette
schweigen… Hier wartet keiner
auf Brise und Krug oder Rückkehr.
Mit von Sternen umbordeten Steinen
um die Bergrücken kreisen, ruderlos,
rhythmisch, spiral. Im Schilfgras
wächst wegsam die Stille, die um-
geschriebene Strömung.