Tadeusz Dąbrowski: „Wenn die Welt schläft“

Zertrümmerte Tastatur der Stadt

Es ist meine erste Begegnung mit dem polnischen Lyriker Tadeusz Dąbrowski (* 1979 in Elbląg), ermöglicht durch die Übersetzerin Renate Schmidgall.
Sie hat Gedichte der beiden letzten Lyrikbände Ausdrucksmitte(l) von 2016, Scrabble von 2020 und neuere, unveröffentlichte Gedichte zu einem Band zusammengefasst.

Die Gedichte lesen sich in der deutschen Fassung leicht und selbstverständlich, sie scheinen auf den ersten Blick keine allzu großen Geheimnisse zu bergen, sie erzählen aus dem Leben, sie erzählen vom Leben, wie es ist, aus der Perspektive eines lyrischen Ich-Erzählers, der nahe am Autor verortet ist. Sie erzählen von Reisen und Lesestationen eines Schreibenden, der seinem Beruf in verschiedenen Städten nachgeht, dabei immer im Gepäck die Entfremdung und die Sehnsucht.

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Marzanna Kielar: „Lass uns die Nacht“

Schwarz dringt immer tiefer, lautlos, zärtlich

In ihrem Nachwort zu Lass uns die Nacht schreibt die Übersetzerin Renate Schmidgall über die polnische Lyrikerin Marzanna Kielar:

[Sie] wurde 1963 in Gołdap/Masuren geboren und gehört zur ersten Dichtergeneration, die sich vom Diktat der gesellschaftlichen Relevanz freimachen konnte. […] Die polnische Kritik hebt hervor, wie sehr sich ihre Gedichte von denen der anderen Autoren unterscheiden, die in den achtziger und neunziger Jahren debütierten – und diese Andersartigkeit und Eigenständigkeit wird bis heute betont.

Man könnte diese Zeilen so lesen: Naturlyrik steht im Verdacht, irrelevant zu sein. Das meint die Übersetzerin nicht und doch ist die öffentliche (Nicht-)Wahrnehmung einer Lyrik, die sich den Vorgängen in der Natur, also außerhalb der urbanen Räume, widmet, geprägt von Desinteresse und Unkenntnis. Naturlyrik, so darf eine Literaturkritikerin im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (Thea Dorn, Das Literarische Quartett, ZDF, 09.10.20) sagen, im konkreten Fall über die Naturlyrik der US-amerikanischen Nobelpreisträgerin Louise Glück, sei

keine Literatur, die engagiert ist.

Dass diese Aussage, auch wenn aus dem Zusammenhang genommen, falsch und dumm ist, belegt Ulrike Draesner, Glücks Übersetzerin (Kulturzeit, 3sat, 08.10.20). Die Amerikanerin sei

eine eigene, originäre lyrische Stimme. […] Ich glaube, dass man hier etwas sieht, was einfach im heutigen Diskurs relevant geworden ist und was in dieser Lyrik lange Zeit schon davor da war […]

Draesner weiß die politische Dimension dieser Lyrik einzuordnen und wer Glücks Schneeglöckchen aus ihrem Mund gehört hat, kann körperlich wahrnehmen, was es heißt, Gedichte aus einer weiblichen Perspektive zu schreiben und solche zu hören.

Hat zeitgenössische Naturlyrik keinen Platz in einer Welt, die der Mensch des 20. und 21. Jahrhunderts durch sein Handeln zerstört? Wie lange glauben wir, uns solche Ignoranz noch leisten zu können? Wann hören wir auf die Fachleute? Warum erlauben wir den Schwätzern, den Diskurs zu bestimmen?

Abseits der Städte mit seinen (Über-)Angeboten für die moderne, hedonistische Gesellschaft ist der Zugang zum Tod als Teil des Lebenszyklus‘ nicht kaschiert, versteckt, verleugnet, sondern unmittelbar.

Schon im ersten Gedicht Marzanna Kielars aus ihrem 1992 veröffentlichten Band Sacra conversazione wird dies deutlich.

die sanften Hügel stehen in prächtigem Licht,
in den Gräsern, unten, bettet sich der Tod
(aus: noch vor einer Stunde …)

Der Tod wird uns durch Kielars vier Gedichtbände Sacra conversazione (1992), Materia prima (1999), Monodonie (2006) und Navigationen (2018) begleiten.

In Materia prima fragt das lyrische Ich

wie wirst du sterben, da du so an dir hängst, mit der Sonne
zwischen den Kiefernnadeln, du heller Tag?
(aus: wie wirst du sterben …)

Auf die Frage kommt unvermittelt eine Antwort

als du plötzlich sagtest: „Ich möchte vor dir
sterben.“

In deinem Haus auf dem Land, gestern, sah ich, wie du einschliefst
beim Lesen – wie eine abfließende Welle
säumte der Schlaf das Ruder deines Körpers.

Ich nahm dir das Buch aus der Hand, löschte das Licht.
Eine Rippe der Nacht
leuchtete in den Zweigen
(aus: Telefongespräch)

Die Beziehung zwischen lyrischem Ich und lyrischem Du verliert die Leichtigkeit, das Alter macht sich bemerkbar, die Gewissheit, dass die Kraft des Menschen nicht unerschöpflich ist, im Gegensatz zu den Naturgewalten, die die Landschaft prägten und prägen.

Im Schnee öffnen sich Adern, voll von erstarrtem Gras, Sand,
quellendem Lehm –

Krähen trinken daraus
(aus: Tauwetter)

Das Schwarz dringt tiefer ein ins Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit. Und doch ist Platz, der Absurdität des Lebens und Sterbens hoffnungsvoll entgegenzutreten.

[…] und der Tod möge sein
wie der Schnee, der die Erde schützt
vor dem völligen Erfrieren
(aus: Stränge von Reif im Graben …)

In Monodie ist diese Hoffnung verloren gegangen.

Der Tod hat sein Lager in dir eingerichtet.
Hat seine verschimmelten Lappen, steifen Bandagen angeschleppt;
jetzt fletscht er die Zähne und steckt das Terrain ab.

Die Brutstätte bist du seiner schwarzen Vögel,
der Laichplatz seiner Fische.

Wie fette Erde vierteilt er dich mit seinen Wurzeln,
durch enge Gefäße wandert er in dir wie Wasser in der Pflanze.

Sein lehmiges Tal bist du.
Verlängerung seines Seins: Es schmilzt in dir wie ein Brocken Toteis
unter der Kiesdecke und fließt dann in deiner Brust, gegabeltes Delta.
Er verschüttet, verschlammt dich, als wärst du ein Altarm: verlassenes Flussbett.
(aus: Der Tod hat sein Lager …)

Zunehmend nutzt Kielar ein Vokabular, das sie aus der masurischen Landschaft zieht, die von der letzten Eiszeit geformt wurde. Das hat für mich einen großen Reiz. Das Arbeiten mit Fachvokabular (hier: der Glazialen Serie) eröffnet neue Räume, ermöglicht Worte in anderen Kontexten zu erschließen. Ich habe nachgeschlagen, was Ogiven sind, wollte es genau wissen, dabei lassen Kielars Sätze im konkreten und im poetischen Sinn nichts an Deutlichkeit vermissen.

Wie Gletscher-Ogiven legen sich wieder die Nächte:
abwechselnd Schichten aus dunklem Eis

und Streifen von hellem, entstanden aus feinen Körnern einstiger Berührungen, Liebkosungen,
aus dem Flaum der Worte in der Dunkelheit;

Schneedünen wandern (Träume), Ogivenfalten.
(Wie Gletscher-Ogiven)

In Navigationen findet sich der Beleg für Kielars Arbeitsweise.

Wanderndes Eis errichtete hier am Ende des Pleistozäns
Moränenhügel, die das Haus von Süden und Westen abschirmen.
Es kerbte die Rinne eines Sees, in der Licht brennt.

Die hohe Mauer an der Südterrasse hält gut.
Du hast sie aus Findlingen gebaut, angeschleppt vom Eisschild.
Hast die Steine zerschlagen, die ungleichen Formen behauen, mit Zement verfugt.

Ich sammle abgesplitterte Teile: gesprenkelte Diorite, Granite –
rosa und grau,
Porphyre, Syenite, gestreifte Gneise mit Schuppen von Mineralien.
Unser geologisches
Erbe. Auf einem Bogen Pappe erstellte ich in Geographie eine Tafel.

Damals, als Zehnjährige, begann ich Gedichte zu lesen,
Lyrikbändchen zu sammeln.
Sie trugen ein anderes Material. Die Worte bearbeiteten die
Materie des Lebens, stumpften sie ab
oder schärften

die Ecken des Todes.
(aus: Steine und Gedichte)

Dass Landschaft ein Gedächtnis besitzt und also Geschichte bezeugen kann, wird leicht übersehen. Wie wenig es braucht, die politische Dimension von Naturlyrik herauszuarbeiten, zeigt Kilar meisterlich.

Ach, dies damals zu sehen! 1926, der letzte Tag im Mai,
da unten zwei Gletscherseen – der kleine und der große Tobellus –
zwischen Staatshausen (Stanczyki) und Blindgallen (Blakaly).
Als hier noch die Preußen waren, als die Puszcza Romincka
Rominter Heide hieß.

Spüren wie das Gewitter heraufzieht. Sehen wie es mächtig
Hagel ins tintenfarbene Wasser schlägt, bei den hohen Brücken,
ü ber die
Züge mit Pilzsammlern und Anglern fahren; noch transportierten
sie keine Steine für den Bau der Wolfsschanze.

Schauen wie nach einem Blitze jäh Methan und Sauerstoff
explodieren,
wie das Wasser hochschießt und aus seiner Tiefe
riesige Massen von Erde, Torf und Schlamm wirft.

Wie das Gewitter den Toteiskessel, schwarz, rund wie ein Vulkankrater,
auf die andere Seite dreht.

Schauen wie es abzieht, wie über die Hügel Fichten herabkommen
zum eisigen, gestirnten Wasser –
jetzt ist dort eine schäbige Badeanstalt, ein Zeltplatz
und das feuchte Ufer
(Tobellus)

Adam Zagajewski: „Unsichtbare Hand“

Rozmawiac o ciemnosci w takim jasnym cieniu
Über das Dunkel sprechen in so hellem Schatten

Der Poesie wohnt die Kraft des Trostes inne. Sie ist geeignet, Menschen, die sich im Dunkel der Tage, und damit meine ich bei Weitem nicht nur die Zeit vor Weihnachten, verlieren, aufzurichten und ihnen Hoffnung zu geben. Sie konkurriert somit unweigerlich mit Religion, die ebensolche Angebote versendet.

Ich bin als Katholik ein Anfänger,
der versucht, Gut und Böse zu trennen,
aber nicht weiß, wie sie sich unterscheiden,
vor allem in der Morgen- und Abenddämmerung, wenn
das Licht einen langen Augenblick zögert.
(aus: Erstkommunion)

Adam Zagajewski zu lesen, seine Lyrik mit den Augen (oder bei Lesungen mit den Ohren) aufzunehmen, ist ein großes Geschenk, das uns der 1945 in Lemberg geborene Dichter reicht.

Poesie ist der Königsweg,
der uns am weitesten führt.
(aus: Poesie ist die Suche nach Glanz)

Für den Band Unsichtbare Hand  (2012) wählte der Autor Gedichte aus seinen drei Bänden Powrót (2003), Anteny (2005) und Niewidzialna ręka (2009) aus. Aus dem Polnischen übertrug  Renate Schmidgall in eine einfühlsame und liquide Sprache, flüssig und werthaltig. 2009 wurde Schmidgall mit dem Karl-Dedecius-Preis (für ihre Übersetzungen polnischer Literatur ins Deutsche) ausgezeichnet.

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Renate Schmidgall | Eric Giebel am 02. Mai im Literaturhaus Darmstadt

Lesung am Donnerstag 2. Mai 2019, 19:30 Uhr im Literaturhaus Darmstadt, Kasinostraße 3.

Eine Veranstaltung der Lesebühne. Moderation: Barbara Zeizinger.
Eintritt frei.

Renate Schmidgall, ehemalige Mitarbeiterin des Deutschen Polen-Instituts, Lyrikerin, Übersetzerin aus dem Polnischen und Preisträgerin des Johann-Heinrich-Voß-Preises 2017 liest aus ihrem zweisprachigen Gedichtband: „Nach Weinsberg fahren / Pojechać do Weinsberg“.

Rezension

Eric Giebel, Lyriker und Übersetzer (gemeinsam mit Eva Bourke) des zweisprachigen Bands „A Private Country | Ein privates Land“ stellt die irische Lyrikerin Moya Cannon mit einer Gedichtsauswahl aus ihrer ersten Einzelveröffentlichung in deutscher Sprache vor.

Rezension

Ryszard Krynicki: „Sehen wir uns noch?“

Issas Schnecke, ein minimalistisches Vorbild
Ryszard Krynickis Poesie

Kobayashi Issa (1763-1828) gilt als einer von vier Meistern der japanischen Haiku-Dichtung. Sein Einfluss auf die europäische Lyrik ist im 21. Jahrhundert noch spürbar. Klaus Merz und Ryszard Krynicki nehmen in ihren neuesten Gedichtbänden, die der deutschsprachige Buchmarkt bietet, direkten Bezug auf den Autor der folgenden Zeilen.

Katatsumuri
sorosoro nobore
fuji-no yama.

Die kleine Schnecke
ganz langsam steigt sie hinauf
auf den Berg Fuji.

Das höchste und heiligste Ziel zu erreichen, das sagt uns Issa, bedeutet, die Langsamkeit als Ausdruck der eigenen Möglichkeiten zu akzeptieren und dennoch nicht abzulassen, unbeirrbar zu bleiben. Krynicki kommt mit Issa ins Gespräch.

Was machst du, kleine Schnecke, auf meinem Balkon,
so viele Stockwerke über der Erde!
Kommst du vom Fuji zurück?
Ach, wie konnte ich
dich nicht gleich erkennen, Issa.
(„Wie konnte ich“, in: „Gedichte, Stimmen“, 1987)

Ich weiß nicht, ob die Schnecke auf Krynickis Balkon erschöpft und/oder frohgemut war, noch, ob die Annahme der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten ein Baustein für die Formel zum glücklichen Leben sein kann.

Seid ohne Eile, Wörter, Regungen.
(aus: „Issa“, in: „Unser Leben wächst“, 1978)

Durch Bedächtigkeit und starke Wortverdichtung entsteht die Möglichkeit, die Weißräume des Papiers als Freiräume anzubieten. Das birgt andererseits die Gefahr, in unserem hektischen, erfolgs- und profitorientierten Leben übergangen, überlesen zu werden. Die Schnecke fällt aus der Zeit, hat das Nachsehen, muss den Schnelleren den Vortritt überlassen. Die haben schon alle heiligen Berge niedergetrampelt! Hat der Literaturbetrieb Sinn für kleine, langsame Tiere?

Ryszard Krynicki, mag er sich auch an Issas Schnecke orientieren, ist keineswegs ein kleines Tier in der polnischen und europäischen Literatur. Er arbeitet als Lyriker, Übersetzer und Verleger. Artur Becker zählt Krynicki neben Adam Zagajewski und Julia Hartwig zu den zur Zeit wichtigsten polnischen Dichtern. Krynicki betreut in seinem mit seiner Ehefrau Krystyna geführten Verlag a5 deren Werk ebenso wie das von Wislawa Szymborska und Zbigniew Herbert. Für seine Übersetzungstätigkeit wurde Krynicki im Jahr 2000 mit dem Friedrich-Gundolf-Preis der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. Er hat beispielsweise Bertolt Brecht, Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Reiner Kunze und Nelly Sachs ins Polnische übertragen.

Mit „Sehen wir uns noch?“ wird die erste umfangreiche Gedichtauswahl seit 1991 vorgelegt, wie Renate Schmidgall, Übersetzerin der jüngsten Gedichte im Nachwort schreibt. Die ältesten Gedichte stammen aus dem Band „Geburtsurkunde“ von 1969 in der Übersetzung von Karl Dedecius, die neuesten Haiku aus dem Jahr 2010.

Krynicki gehört zu den Vertretern der Neuen Welle, einer Generation junger Dichter, die um das Ende des 2. Weltkriegs geboren wurden (Krynicki 1943, Zagajewski 1945, Baranczak 1946), die als Generation 68 nach der antisemitischen Kampagne des polnischen Staates in die Öffentlichkeit traten und die sehr schnell mit Zensur bis hin zu Publikationsverboten konfrontiert waren.

Bücher, Bilder, die Bernsteinkette,
die Wohnung, wenn wir sie erleben,
die Himmelspupille und den Tautropfen,
die Tigermuschel, den Pass, das Gedächtnis,
[…]

alles können wir verlieren,
alles kann man uns nehmen,

nur nicht das freie,
das namenlose Wort,
[…]
(aus „Bücher, Bilder“, in: „Unser Leben wächst“, 1978)

Man darf diese Zeilen als ein Manifest der Unbeirrbarkeit lesen, das sehr konkret das Ausgeliefertsein des Individuums gegenüber staatlicher Repression benennt. Auch in anderen frühen Gedichten bearbeitet Krynicki dieses Thema.

[…] Nachgeborenes Kind, vergebliches
Kind: Kaum erhebst du dich vom Kniefall,
wirst du zum Bannfluch.
(in: „Geburtsurkunde“, 1969)

[…] dieser Knebel, der den Aufstand der Wörter
niederschlägt, dieses gezähmte Tier
mit Menschenzähnen, dieses Unmenschliche, das in uns wächst
und uns überwuchert, diese rote Fahne, die wir ausspucken
zusammen mit dem Blut, dieses Gespaltene, das uns umgibt, diese
wahre Lüge, die uns täuscht,
[…]
(aus: „Die Zunge, dieses wuchernde Fleisch“, in: „Kollektiver Organismus“, 1975)

[…]
Die dienstreisenden Beamten tragen in den Aktentaschen Klappstullen,
die kleinen Länder sind für die Großmächte immer häufiger
Truppenübungsplätze,
und nichts ändert sich, es ändert sich der Unglaube, die Hoffnungslosigkeit,
sie nehmen zu,
bilden Imperien, schließen Freundschaftspakte,
die Menschenangst ändert die Sprache, […]
(aus: „Die sich immer weiter entfernen“, in: „Kollektiver Organismus“, 1975)

Bei Gedichtbänden, die das Werk eines Autors über mehrere Dekaden vorstellen, verfällt man leichter der Versuchung, nicht das Gedicht an sich auf sich wirken zu lassen, sondern die Biografie des Autors, die historischen Zusammenhänge mitzudenken und in eine Bewertung einfließen zu lassen. Es ist ein Leichtes, die zitierten Textstellen als ein Aufbegehren gegen Zensur und Selbstzensur zu lesen. Dafür braucht es keine vertieften Kenntnisse der polnischen Geschichte. Fragen nach der Wirkung der Poesie tauchen auf und zerren an der Unbeirrbarkeit. Dem Gedicht „Stärker als die Angst“ aus dem Band „Nicht mehr viel“ von 1981, dem Jahr, in dem das Kriegsrecht verhängt wurde, stellt Krynicki ein Epigraph von Czeslaw Milosz voran, die beiden nachfolgenden Zeilen.

Was ist Poesie, wenn sie weder Völker
noch Menschen rettet?

Und Miloszs „Vorwort“ von 1945 geht weiter mit den Zeilen:

Eine Komplizenschaft amtlicher Lügen,
ein Singsang von Säufern, denen bald jemand die Kehle aufschlitzt,
ein Lesestückchen aus einem Mädchenzimmer?

Krynicki, bei dem eine Entwicklung vom längeren hin zum kurzen Gedicht zu beobachten ist, findet eine präzise Antwort auf Miloszs Frage.

Schlechte Gedichte
bekehren den Despoten nicht.
Das gilt, leider, auch für die guten Gedichte.
(„Leider“, in: „Gedichte, Stimmen“, 1987)

Schmidgall betont, dass bei den späteren, kürzeren Gedichten der gesellschaftskritische Aspekt im Werk Krynickis nicht verschwindet. Er weise wiederholt hin auf

beklagenswerte Zustände (vor allem der Sprache) […]. Doch wesentlich wichtiger wird in seinem Schaffen die Reflexion über Leben, Tod, Vergänglichkeit, die Suche nach der Wahrheit.

Schauen wir uns „Leider“ noch einmal an. Die im Urteil Schnellen könnten sagen: leider kein gutes Gedicht, eine Oberflächlichkeit, schnell aufs Papier gebracht. Wäre das gerecht gegenüber der kleinen Schnecke, die den Gipfel vor Augen hat? Wir wissen von Krynicki, dass er seine Gedichte nicht abschließt, sondern sie zur Überarbeitung offen hält. Diese Arbeitsweise spricht, dem Wesen der Schnecke eigen, gegen Schnelligkeit, gegen Oberflächlichkeit. Folgerichtig, nähert sich Krynicki dem Haiku immer weiter an, dieser kondensierten Form des Dichtens und Denkens, das, ja!, eine Reflexion über Leben, Tod, über Vergänglichkeit darstellt. Aber, und das ist die Kunst des Haiku, immer am Beispiel einer konkreten Beobachtung, nicht anhand einer allgemeinen, oberflächlichen Aussage (mit denen wir kurzsilbig, werbewirksam im Internet überschwemmt werden).

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(aus: Neue Gedichte)

Ich lese Krynickis „Leider“ nicht als flaches Wortspiel, sondern als Essenz einer bitteren, durchlittenen Lebenserfahrung, ganz im Sinne Miloszs.