Andreas Lehmann: „Über Tage“

Plötzliche Stille, so laut

Mit dem Roman Über Tage meldet sich der 1977 in Marburg geborene Andreas Lehmann in der deutschen zeitgenössischen Prosa an. Die Geschichte, die auf weniger als 180 Seiten niedergeschrieben ist, darf man nicht als ein Bewerbungsschreiben ansehen. Was Lehmann hier abliefert, ist ein makelloses Debüt, ein Meisterwerk.  Und es bedarf nicht allzu vieler Worte, es zu würdigen. Der Zauber der Literatur muss vom Rezensenten nicht wortreich durchdekliniert werden.

[Dieses Erstlingswerk zeigt eindrucksvoll, die Schnellrechner haben es längst gecheckt: 2018 – 1977 = 41, wie unsinnig die imaginäre Grenze des deutschen Literaturbetriebs ist, Stichwort: Hausnummer 35. In dieser Logik erscheint Lehmanns Debüt als Spätstart. Solche Etiketten sind vielleicht nützlich, um die schiere Masse eingereichter Skripte auf den Schreibtischen der Verlage zu reduzieren, um Literatur gerecht zu werden, braucht es aber KEINE Begrenzung, die Autorinnen und Autoren aus diskriminierenden Altersgründen von Fördermöglichkeiten ausschließt.]

Joscha Farnbach, Mitte Dreißig, arbeitet in einer Druckerei in Bad Kreuznach. Dort ist er zuständig für den Materialeinkauf. Im Kampf ums Überleben des mittelständischen Betriebs ist er dem Druck seiner Vorgesetzten und Kollegen ausgesetzt, muss aus den Zulieferern das Letzte herauspressen. Schnellere Liefertermine, günstigere Preise, bessere Qualität!
Gleich zu Beginn des Romans wird deutlich, dass Farnbach diesem Druck nicht gewachsen ist. Er taumelt, fällt hin. Ist kurz weggetreten.

„Farnbach, stehen Sie auf!“
Die Worte kamen von oben, aber noch sah er nichts. Er saß unter einer Glocke aus milchigem Glas, durch die Licht und Schall nur mit Mühe drangen. Als er es geschafft hatte, seinen Rücken gegen die Wand zu lehnen, wurde alles um ihn herum ein wenig heller. Aber noch immer war er umstellt von Schemen.
“ Herr Kollege?“
Er erkannte die Stimme, die aus dem Halbdunkel zu ihm sprach. Augenblicklich schoss ihm das Blut zurück in den Kopf. Hatte Huber wirklich nur seinen Namen gesagt, ohne Anrede?

Warum Farnbach dem Druck nicht gewachsen ist, das zeigt Lehmann in Rückblenden, die eine traumatische Pubertät offenbaren. Da das Trauma nicht behandelt wurde, konnte es Farnbach nicht überwinden. Er zeigt auch im Erwachsenenalter noch deutlich depressive Züge. Überlebenswichtig ist, alles zu vermeiden, was ihn an das Trauma erinnert. Seine Vermeidungsstrategie trägt die Überschrift Augsburg. Augsburg ist ihm keine Stadt, sondern ein übermächtiges Instrument, das sein Leben zu verstören droht. Damals wie heute. Immer noch. Immer wieder.

Aus beruflichen Gründen muss Farnbach nach Augsburg, um dort einem Papierhersteller Druck zu machen. Er will entrinnen, doch letzten Endes muss er die Reise antreten und sich seiner Geschichte stellen.

Es wird Mirrer sein, der Angestellte der Papierfabrik, sein beruflicher Kontrahent, ein vermeintlicher Riese, der Farnbach die Verletzlichkeit, die Endlichkeit des Menschen vor Augen führt und einen Grundstein für die Überwindung des Traumas legt.

In nur fünf Worten spiegelt sich die Möglichkeit des Freitods, des Abgangs aus einer Welt, die unerträglich erscheint:

nur ein Schritt, zwei vielleicht,

Farnbach findet in Mirrer die Spiegelung seiner lang zurückliegenden Lebenskrise, seiner Suizidgedanken. Das gibt ihm unerwartet Kraft. Das Leid des Anderen hilft, das eigene Leid zu heilen.

Der Roman ist klug komponiert. Die Szene des Prologs kommt am Ende wieder, doch die Handlung führt nicht in eine Endlosschleife, sondern geht weiter, weist einen Ausweg. In den Rückblenden werden die Geschehnisse nicht ausgewalzt, sprachlich bleibt es oft bei Andeutungen, die wir Lesenden erst einmal, wie der jugendliche Protagonist, verarbeiten müssen. Das ist viel.

Die Ausstattung des Romans (Covergestaltung, Haptik, Papierqualität) ist wie die Geschichte von hoher Qualität. Gedruckt wurde allerdings nicht in Bad Kreuznach, sondern in Ceský Tešín. Dieser Druck endet nicht.