Luis Chaves: „Während ich aus den Minusgraden zurückkehre und eine beiläufige Bemerkung vortäusche“

Mudanzas ↔ Umzüge
Luis Chaves‘ Lyrik

Kartons mit Edding in Schrägschrift beschrieben.
Küche / Bücher / Bad.
Wenn ein Fremder in diesem Augenblick hereinkäme
wüsste er nicht, ob gerade jemand ein- oder auszieht.
[aus: Umzüge]

Kiste 8 – Wintersachen (Abstellkammer)
Der Gedichtband eröffnet mit der Kapitelüberschrift „Außerhalb der Schwerkraft“ (Erstveröffentlichung) und beinhaltet lediglich das Gedicht „Zeitzone“, aus dem die beiden titelgebenden Verse entnommen sind. Da die weiteren Kapitelüberschriften identisch sind mit den Titeln der bisherigen Gedichtbände Chaves‘, erscheint mir dieser erste Abschnitt als eine noch verpackte Kiste (ein Gedicht lugt oben hervor) mit neuer Poesie, die, warm eingepackt zwischen Handschuhen, Schals und Mützen, erst demnächst, sicher zur gegebenen Zeit, am anderen Ort ausgepackt wird. Dass Chaves während seiner Zeit in Berlin an seinem dritten Roman arbeitete, schließt nicht aus, einen weiteren Lyrikband vorbereitet zu haben.

Die Wichtigkeit der Jahreszeiten für den Mittelamerikaner wird deutlich, wenn er, nicht nur aus anderer Zeitzone, sondern aus anderer Klimazone kommend (Trockenzeit, Regenzeit), in dem vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD produzierten Video sich Kim Ki-duks Film „Frühling, Sommer, Herbst, Winter… und Frühling“ erinnert. Folgerichtig arbeitet er, wie er dort berichtet, an einer Berliner Chronik, die er in Jahreszeiten gliedert. Chaves kommt mit seiner Familie Mitte Januar nach Deutschland.

Auf dem Balkon wird das Bier kalt
ein anderer Anfang fällt mir nicht ein.
[aus: Zeitzone]

Für uns gewohnheitsmäßig willkommene Annehmlichkeit nicht zu strenger deutscher Winter, ist die Außenkühlung für den Gast gleich zu Beginn eine Erwähnung wert. Und die Kälte setzt nicht, wie bei vielen von uns, Fluchtgedanken Richtung Sommer frei.

Gehen wir bei Null Grad raus
oder rollen uns wenigstens in den kalten Teil
des Betts.
[aus: Zeitzone]

Kiste 6 – Un comentario mecánico
Chaves schreibt in einer Sprache, die aus der Mitte des Lebens gegriffen ist. Nicht artifiziell, nicht abgehoben. Wir sehen seine Bilder in all ihrer Schärfe. Es sind keine Metaphern für höhere Inhalte. Andererseits ist die Abfolge seiner Beobachtungen nicht deswegen zusammengestellt, um die Sprache dem Alltag zu unterwerfen und als Mittel einer Aufzählung zu dienen, die das Leben in seiner Vielfalt abzubilden strebt, als eine Parallelanordnung in einem System hedonistischer Selbstdarstellung und -genügsamkeit.

Konzeptkunst und Amphetamine
halten uns auf dem Laufenden.
[aus: Postkarten aus dem tropischen Protofaschismus]

Chaves kommt nicht ins Plappern. Seine Wörter sind Worte, nicht beliebige, beiläufige Bemerkungen. Das Vortäuschen falscher Tatsachen ist freilich ein doppeltes Spiel: Insistieren auf eine seriöse Spracharbeit und gezielt Zweifel an derselben wecken.

Unscharfe Fotos
vor Reiterstandbildern

Der Nebel der Droge
belanglose Anekdoten
und Szenen schlecht synchronisierter Filme.

[…]
[aus: Reiterstandbilder (eine Litanei)]

Kiste 3 – Werkzeug
Hier steht eine Name drauf: Timo Berger. Sein Handwerk ist das Übertragen aus dem Spanischen ins Deutsche. Schaue ich in die Kiste, sieht sie gar nicht überfüllt aus. Und doch weiß ich, dass sie mit Arbeit überladen ist, die am Ende keiner mehr sieht und die meisten für selbstverständlich nehmen. Das Los, traurig oder nicht, guter Handwerksarbeit, die sich in den Dienst anderer stellt. Es sind ja nicht nur die Übertragungen, die angefertigt werden müssen, damit ein zweisprachiger Lyrikband auf den deutschen Markt kommt. Kontakte müssen hergestellt und dauerhaft gepflegt werden. Berger als Organisator der Latinale hatte Chaves während eines Aufenthalts in Argentinien kennengelernt. Zunächst erschienen zwei Bände mit Bergers Übertragungen bei hochroth, La foto / Das Foto von 2012 und Debajo de esto hay algo mejor / Hier drunter liegt was Besseres von 2013, verantwortet von Peter Holland, der nun für diesen ersten umfassenden Band Textauswahl und Lektorat übernahm. Diese kontinuierliche Arbeit bildet sich im Verkaufspreis des Buches selbstverständlich nicht ab. Ich schaue nochmals in die Kiste, es ist kein Werkzeug drin, nur das fertige Produkt. Ich nehme es heraus, lege es in meine Hand und erfreue mich an seiner Leichtigkeit, seiner Eleganz. (Wer denkt schon darüber nach, ob die leere Kiste zum Eigentümer zurückgebracht wird?)

Kiste 5 – Tane, cone
Man kennt diese Situationen. Selten sind sie geworden. Doch bei Umzügen kommen sie als regelmäßige Störung. Die Printausgaben der Wörterbücher sind nicht in der Kiste, in der sie sein sollten. Und Internetanschluss? Vergiss es, Providerwechsel …! Warten, warten, warten! Aber wie soll ich in dieser Zeit die Wörter nachschlagen, die ich gerade brauche?

Irgendwer hat zum Glück ein Bier kaltgestellt, das ich öffne und dem Zauber nachspüre, den „Hoppel, Ninchen“ verbreitet, zwei Kosewörter, die mich in eine sehr intime Situation bringen, in eine fremde, gleichwohl vor mir ausgebreitete Erinnerung, die die ganze Kiste vereinnahmt, ein Kindsein ausleuchtet, in dem sich Geschwister gegenseitig Schutz, jedoch keine Sprache schenken.

No sabés hablar todavía,
ni persona ni animal.
¿ Pero esos ojos?

Du kannst noch nicht sprechen
weder Mensch noch Tier.
Aber diese Augen?

Es ist ein Kindsein, das aus (bildlichen) Rätseln besteht, deren Antworten wir selbst als Erwachsene nicht zu geben vermögen. Das Gedicht, die Erinnerung ist zart. Weder zeitlicher noch räumlicher Entfernung verändern jenen warmen Impuls, der das Gedicht auslöste.

150 Kilometer von hier
vor 25 Jahren
ertrinkt die Sonne in dem Faden
der den Himmel vom Meer trennt.
Ich gehe mit einem halbvollen Bier spazieren
der Wind kreuzt
den Strand
und der Flaschenhals
pfeift.

Kiste 4 – Ringside
Box- (Fehde?-)handschuhe obenauf. Zwei Augenpaare, die einander nicht ansehen, sondern auf einen fernen Fleck, einen blinden Fleck gerichtet sind. Parallelanordnung: Vater und Sohn. Duell im Boxring. Eine Fernseh-Wirklichkeit. Cassius Clay vs. George Foreman. Jahr 197X (bin immer noch offline, es muss reichen, zu wissen, dass ich Kind war)

Ich könnte nicht einmal über meinen Vater sagen, ob ihn dieses Spektakel interessiert hätte (oder ob er es vorgezogen hätte, mit einem „Dichter in der Schlange vor dem Schwulenclub“ zu stehen, um dort sein Eingeständnis loszuwerden). Dieses so bittere Eingeständnis der Nicht-Liebe, dieses für jedes Kind unmöglich zu ertragende Zeugnis einer nicht ausgefüllten Familie. Ein wenig beneide ich Luis Chaves um die in „Ringside“ beschriebene Gemeinsamkeit mit dem Vater, einem Amateurboxer, der seine Begeisterung auf den Sohn überträgt, in jener Couch, in der sie nebeneinander sitzend in die Flimmerkiste starren, trotz der nachfolgenden, bodenlosen Enttäuschung.

Zwischen der fünften und sechsten Runde
kam Papa zum ersten und letzten Mal aus der Deckung
ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden, sagte er:
Obwohl du schon auf der Welt warst
wollte ich deine Mutter nicht heiraten
ich liebte eine andere.

Im Fotoalbum der Familie
bewahre ich ein altes Poster von Ali auf.
Auf dem Poster schlägt er Foreman in Zaire k.o.
Es ist mein liebstes Bild von Mama.

Kiste 0 – wichtige Dokumente
Geburtsurkunde von 1969, ausgestellt in San José. Diverse Urkunden zu Literaturpreisen: Premio Hispanoamericano de Poesía Sor Juana Inés de la Cruz von 1997, III Premio Fray Luis de León, Premio Nacional de Poesía von 2012, Heiratsurkunde, Geburtsurkunden der beiden Töchter, Meldeadresse in Zapote, Diplomurkunde der Universität San José (Agrarwissenschaft), Familienfotos (vaterlos, farbig und schwarz-weiß), Unterlagen zum Berliner Künstlerprogramm des DAAD für ein zwölfmonatiges Stipendium.

Kiste 9 – Poesiebände (Mittel- und Südamerika)
Wer immer diese Kiste eingeräumt hat, er hatte es nicht eilig, nahm sich Zeit, Bände nochmals in die Hand zu nehmen und einen kurzen Moment innezuhalten, bevor er die Bücher auf Reise schickte. Obenauf liegt, und das spricht für feinen Humor, der Gedichtband „Umzug – Mudanza“ der Chilenin Antonia Torres. Die Plackerei des Bücherkistenschleppens wird nicht etwa mit einer weiteren Flasche Bier belohnt, sondern mit einer Einladung zur Reflexion über Leere, die an Auszugsorten zurückbleibt und den Ankunftsorten noch lange anhaftet. Sowohl Chaves als auch Torres haben zeitweise in Deutschland gelebt, Torres von 2007 bis 2011, Chaves von Winter 2015 bis Winter 2016. Welche existenziellen Erfahrungen bringen Umzüge für die chilenische Lyrikerin, für den costa-ricanischen Lyriker mit sich, im Spannungsfeld von Identität und Verwurzelung auf der einen, Leben als Gast, als Beobachtender eines neuen Ortes, vielleicht einer anderen Kultur, getrieben und aufgerieben zwischen Neugier und Fremdheit auf der anderen Seite?

Torres schreibt:

Die Szene besteht aus einigen leeren oder zerbrochenen Wörtern
Leerstellen, auf den Boden geworfene Satzzeichen,
zusammengefegte Staubflocken zwischen Buchstaben.
Der verbleibende Raum wird gehalten durch den Blick
[aus: Mudanza]

Chaves schreibt:

Die Ameisen kamen
mit den Umzugskisten
Die neue Wohnung
sieht allmählich wie ein Zuhause aus.
Das eines anderen zwar, aber ein Zuhause.
[aus: Umzüge]