In diesem Roman meiner Kollegin Barbara Zeizinger geht es um Schuld und Sühne. Eine kürzere Zusammenfassung des Romans, der auf das Massaker von Ceregnano am 25. April 1945 eingeht, kann es nicht geben. Sehr viel ausführlicher ist mein Gespräch mit der Autorin sowie Rezension und Textauszug auf Faustkultur.
Danilo Kiš: Sanduhr
Ich gebe zu, seit mehr als 25 Jahren lebe ich in Darmstadt und habe doch in dieser Zeit die Entscheidungen der Darmstädter Jury Buch des Monats nicht oder eher am Rande mitbekommen.
Das Buch des Monats Februar ist von Mark Thompson, einem britischen Historiker. „Geburtsurkunde. Die Geschichte des Danilo KIš“ ist die Biografie eines „halb vergessenen Mitteleuropäers von weltliterarischen Rang“, wie es Jurymitglied Wilfried F. Schoeller treffend sagt.
Die sehr erfreuliche Juryentscheidung ist ein guter Anlass, zum Bücherregal zu gehen und abermals eines meiner wichtigsten Bücher in die Hand zu nehmen.
„Sanduhr“, so habe ich das Buch gelesen, kurz nach dem Tod meines Vaters vor 20 Jahren, ist der Versuch, sich der Vaterfigur literarisch anzunähern. Das geschieht auf einem europäischen und multikulturellen Boden, der von den Nazis überrannt und dessen jüdische Existenz vernichtet wurde. Kiš‘ Vater starb in Auschwitz.
Zu der deutschen Erstausgabe von 1988 wagt Thomas Rothschild von der Frankfurter Rundschau die Prognose: „Mit großer Verspätung werden Kritik und Publikum einen der wichtigsten europäischen Schriftsteller entdecken.“ Solche Verspätungen wären E.S., der literarischen Vaterfigur, als Inspektor der (serbokratischen? jugoslawischen? ungarischen?) Eisenbahnen unerträglich gewesen.
Möge die Juryentscheidung dazu beitragen, dass Danilo Kiš, der im Oktober 1989 starb, endlich bei uns ankommt, an Tagen, die über die Existenz von Menschen in europäischen Kriegsgebieten entscheiden können.
Rolf Lappert: „Auf den Inseln des letzten Lichts“
Im Oktober 2010 stellte der 1958 in Zürich geborene Rolf Lappert seinen Roman „Auf den Inseln des letzten Lichts“ in der Stadtkirche Darmstadt vor. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich schon bei einer Lesung das Buch kaufen und es gar signieren lassen. (Wenn mein Buch solche Leserinnen und Leser hat, dann wird es wohl nichts mit der ersten Million.) Aber die Geschichte der Geschwister Megan und Tobey fand ich sehr spannend und nahm mir vor, das Buch später zu kaufen und zu lesen.
Dieser Tage schloss die jokers-Filiale in Darmstadt und im Ausverkauf fand ich eine Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg. Preis: 2,50 Euro. Rechnet man das auf die Seitenanzahl (541) um, kostete mich dieses Buch pro Seite weniger als 5 Cent. Natürlich rechnet man die Honorare für Schriftsteller anders und natürlich kennt jeder, der einen Verlagsvertrag abschließt, die Wörter Remittenden und Verramschung. Hässliche Wörter, weil der Wert eines Buches und damit der Wert der Arbeit eines Schreibenden eben nicht mit dem Marktwert abgedeckt werden kann.
Noch bin ich nicht ganz durch die Geschichte durch. Ich frage mich, was hinter diesen so unterschiedlichen Geschwistern steckt. Megan, die ältere, die es als Tierschützerin auf eine philippinische Insel verschlägt, Tobey, der jüngere, der sein Glück als Musiker in Dublin nicht findet, sich auf die Suche nach seiner Schwester macht und doch nur noch ihr Grab findet. Trotz aller Unterschiede sind beide verbunden über die Erinnerungen an eine nicht gerade problemlose Kindheit. Irland, ihre Heimat lässt sie nicht los. Auch wenn die Philippinen sehr weit entfernt sind, so groß ist keine Welt.
Tara Books, Chennai, Indien
Bei der Frankfurter Buchmesse 2014 nahm ich mir etwas Zeit, die Hallen der ausländischen Buchverlage zu besuchen. Dabei entdeckte ich Tara Books aus Chennai, Indien. Ein Verlag, der Bilderbücher für Erwachsene und Kinder in seiner Kooperative herstellt. Bibliophile Kostbarkeiten, wie etwa das von drei bekannten Künstlern des Gond-Stammes reich ausgestattete Bilderbuch: „The Night Life of Trees“. Das Buch ist 2006 erschienen und inzwischen in der 10. Auflage.
Die Gond, Waldbewohner in Zentralindien, sehen in den Bäumen tagsüber hart arbeitende Pflanzen, die Schatten, Schutz und Nahrung bieten. Nachts jedoch zeigt sich ihr spirituelles Wesen.
Wie die drei Künstler Bhajju Shyam, Durga Bai und Ram Singh Urveti diesen Geist uns durch ihre Illustrationen nahe bringen, ist ein Fest für die Augen. Die kurzen von Gita Wolf und Sirish Rao ins Englische gebrachten Texte geben Anhaltspunkte und lassen viel Raum für diese wunderbaren Zeichnungen.
N.B. Das Buch gibt es in deutscher Sprache bei Baobab Books.
Arundhathi Subramaniam: „When God Is a Traveller“
Eine kleine Reihe über Bücher, die ich in Buchhandlungen außerhalb Deutschlands gekauft habe.
Diesen Gedichtband habe ich in Kottayam, Kerala, Südindien in der Buchhandlung current books gekauft. Die kleine Buchhandlung ist, soweit ich das sehen konnte, in zwei Sprachen aufgeteilt: links Bücher in Malayalam, rechts englischsprachige Ausgaben.
Kottayam gilt als eine Stadt, die eine 100%-Alphabetisierungsrate erreicht hat. Das lässt sich selbstverständlich für den Reisenden nicht nachprüfen, aber die Tatsache, dass sieben Tageszeitungen für eine Einwohnerzahl, die etwas über der Darmstadts liegt, zur Verfügung stehen, spricht eine eigene, selbstbewusste Sprache.
Auch in Südindien nimmt Lyrik keinen breiten Raum in den Regalen der Buchhändler ein. Auf meine Frage nach zeitgenössischer indischer Lyrik geht der Buchhändler in sich und auf die Suche. Viele Bücher sind übereinander gestapelt, weil der Regalplatz nicht ausreicht. Bücher müssen in die Hand genommen werden. Nach einer Weile legt er mir neben anderen Subramaniams „When God Is a Traveller“ von 2014 vor.
Die Autorin ist im indischen und englischsprachigen Raum durch mehrere Bücher und als Herausgeberin wohl bekannt. In einem Interview mit der kroatischen Indologin Lora Tomas spricht sie über den reisenden Gott, gemeint ist Kartikeya, auch als Skanda bekannt.
Moya Cannon: „Carrying the Songs“
Eine kleine Reihe über Bücher, die ich in Buchhandlungen außerhalb Deutschlands gekauft habe.
Nachdem ich Moya Cannon beim 7. Europäischen Poesiefestival in Frankfurt am Main im Mai 2014 kennenlernte und mit ihr eine Lesung gestalten durfte, suchte ich im Sommerurlaub in Irland in den Buchläden nach ihrem Werk. In Charlie Byrne’s Bookshop in Galway fand ich „Carrying the Songs“ aus dem Jahr 2007.
Moyas Lyrik ist großartig. Ihre Texte sollten in Deutschland bekannt sein als eine große europäische Stimme. Mein bescheidener Beitrag hierzu waren zwei Übertragungen ins Deutsche („Driving Back Over the Blue Ridge“ und „Eavesdropping“), die wir bei der Lesung in Frankfurt bilingual gelesen haben.
Für mich, der so sehr an seiner Muttersprache klebt und der in der Schule niemals große Lust verspürte, Fremdsprachen zu lernen, kommt es einer Befreiung gleich, in die Feinheiten einer anderen Sprache einzudringen und neue Melodien und Bilder kennenzulernen.
Debbie Lim: „Recalling the Bats“
Flughunde oder auch Flugfüchse, die großen Verwandten unserer in der nördlichen Hemisphäre beheimateten Fledermäuse, erfreuen sich bei den Menschen keiner großen Beliebtheit. Sie sind Vegetarier und ernähren sich von Blüten und Früchten. Viele sehen in ihnen nur Plünderer, die über Obstbäume herfallen. Die australische Lyrikerin Debbie Lim lässt in ihrem Gedicht „Recalling the Bats“ diese Tiere in einem anderen Licht erscheinen und führt uns zum Ursprung des Lebens auf unserem Planeten. Nachzulesen auf Faustkultur.
Luisa Famos: „eu sun la randolina d’ünsacura“
Eine kleine Reihe über Bücher, die ich in Buchhandlungen außerhalb Deutschlands gekauft habe.
Die rätoromanisch-deutsche Ausgabe der Lyrik von Luisa Famos „eu sun la randolina d’ünsacura – ich bin die schwalbe von einst“ habe ich in der Buchhandlung Chantunet da cudeschs C. Fliri ed A. Hüberli in Scuol erstanden. Die Gedichte aus dem Nachlass sind von Mevina Puorger herausgegeben.
Luisa Famos, geboren 1930 in Ramosch im Unterengadin, starb 1974 im Alter von 43 Jahren in ihrer Schweizer Heimat.
Horst Samson: „Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin“
Wir lesen zu wenig Lyrik, wir alle, uns Lyrikerinnen und Lyriker eingeschlossen. Das ist nicht neu und wird gerne als Grund dafür genannt, dass Lyrik nicht mehr öffentlich diskutiert wird. Die Katze, die sich in den Schwanz beißt: Keine Besprechungen im Feuilleton, kein Publikumszuspruch, keine Besprechungen im Feuilleton, etc.
Dabei sollte über die Leselust gesprochen werden, die es bereiten kann, den Tag ausklingen zu lassen mit den Gedichten einer fremden Person, die einem im Laufe des Abends nähertritt, sich durch ihre Worte vorstellt und dann später, vielleicht erst gegen Mitternacht, vertraut sein wird. Ich spreche also nicht davon, mal ein, zwei Gedichte anzuschauen, sondern einen Gedichtband konzentiert zu lesen.
Diese Woche habe ich Horst Samsons 2014 im Pop Verlag erschienenen Band „Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin“ gelesen und bin mit dem Autor auf eine Zeitreise gegangen von der Verbannung seiner Eltern in die Baragan-Steppe, seiner Geburt 1954, vom stalinistischen Rumänien, dem Exil bis in die Gegenwart.
Meine Jahre, verlorene
Gedichte, Wörter holen mich
(aus: „Bei den Sonnenblumen“)
Manchmal reichen zwei Verse, um die Welt und die Bestimmung des lyrischen Ich darin zu fixieren. Das ist die wunderbare Kraft der Lyrik, die uns Samson zur Verfügung stellt. Machen wir etwas daraus, trotz alledem!
Peter Härtling: „Zwettl“
In einer Zeit, in der die Bücher immer schneller aus den Buchläden verschwinden, so sie es bis dorthin geschafft haben, gleicht es einem Wunder, einem Buch aus den Achtzigern auf der Straße zu begegnen.
Letzten Herbst waren die Quitten schnell reif geworden. Ich hatte noch keinen Gelee gemacht, da gab es auf dem Markt schon keine Früchte mehr. Eine Freundin aus der Frankfurter Straße gab mir einen Tipp. Der Nachbar um die Ecke bietet noch welche zum Verkauf, sagte sie. Auf dem Bürgersteig dieses Nachbarn stand eine Kiste mit alten Büchern, aus der ich Härtlings „Zwettl“ herausnahm. Der Titel sagte mir nichts, aber der Untertitel „Nachprüfung einer Erinnerung“ weckte mein Interesse. So ging ich mit Quitten und Buch bestückt zurück in die Frankfurter Straße.
„Zwettl“ geht auf die Suche nach Indizien, die Erinnerungen an Kindheit und Krieg, an die Eltern belegen. Härtling möchte herausfinden, was genau wann und warum geschehen ist, ob seine Erinnerungen exakt sind. Für diesen Abgleich fährt er 1971 nach Zwettl, nordwestlich von Wien, befragt Verwandte und offizielle Stellen.
Was Härtling findet, findet sich im Widerspruch zu anderslautenden Aussagen. „Es sei, berichtigt Tante K. mit Erbitterung, alles falsch. So habe es sich nicht zugetragen.“
„Zwettl“ belegt nicht eine Wahrheit, sondern dokumentiert ihre aus verschiedenen Perspektiven, Verzerrungen und Erinnerungslücken hervorgehenden Widersprüche durch „Löschung eines Kapitels“, „Exkurse“ und „Korrekturen“. Und es ist mit 126 Seiten ein schmales, aber großes Buch einer Vater-Sohn-Suche.
Luis Sepúlveda: „Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte“
Ein Fund beim Kinderbuchflohmarkt in der Schule. Intuitiv wusste ich, das ist ein Juwel, das fälschlicherweise unter die Masse eselohriger Leselernbücher geraten war. Ich habe das Buch sofort in die Hand genommen und nicht mehr hergegeben. Es stammt in der 11. Auflage aus dem Jahr 2007. Trotz des für ein Buch inzwischen hohen Alters hat es seinen Schwung nicht verloren. Es wirkt frisch und unverbraucht, so wie die ersten Flügelschläge der Möwe Afortunada. Obwohl meine Kinder meine Vorlesestimme längst nicht mehr brauchen, sie lesen viel und schnell, haben sie ihre Augen geschont und dieser Geschichte von Katzen, Möwen und einem Dichter gerne zugehört. Ein großes Vergnügen, mit tollen Illustrationen von Sabine Wilharm.
Alexander Zinn: „Das Glück kam immer zu mir“
Es hat viele Jahre gedauert, bis ich im April zum ersten Mal in der Gedenkstätte Buchenwald war. „Jedem das Seine“, erst neulich sagte das meine türkischstämmige Friseurin zu mir und meinte damit die Freiheit jedes Einzelnen, das zu tun, was er will. Und ich schwieg, was ich selten tue, wenn ich Victor Klemperers „LTI“ zu Ohren bekomme, was häufig geschieht.
Das 2011 im Campus-Verlag erschienene Buch über Rudolf Bradza habe ich mir an diesem kalten, nebligen Morgen im Buchshop der Gedenkstätte mitgenommen. Innerhalb weniger Tage las ich dieses gut recherchierte und gut geschriebene Buch. Danke, Alexander Zinn.