Nicht gekommen
Was hindert zwei Menschen, gleich des Geschlechtes, des gleichen Geschlechts, dass sie sich treffen, ihre mit Wollust und Blut vollgepumpten Geschlechtsorgane aneinanderreiben und sich im Orgasmus vereinen?
Angélica Freitas, am 8. April 1973 in Pelotas, Rio Grande del Sur, Brasilien aus der Gebärmutter ihrer Mutter = Gebärmutterzum Quadrat (stört nicht das Eckige?) entlassene Tochter, gibt uns darüber in ihrem zweiten Gedichtband in deutscher Übersetzung Der Uterus ist so groß wie eine Faust (aus dem brasilianischen Portugiesisch von Odile Kennel) Auskunft.
Wir lernen, auch ein Nicht-Koitus (damit meine ich nicht nur das Treiben geiler Schwänzchen im Muttis dunkler Empfangshalle) nimmt die orgiastische Steigerung nicht aus.
Drei (von sex) Stationen (mittleren Erregungspotenzials) hin zum kleinen Tod, der uns am und im Leben hält:
liebe Angélica konnte nicht kommen hatte einen kleinen
Unfall im Haushalt mein Haar klemmt in der
Waschmaschine ich steck immer noch fest
diktiere diese E-mail meiner Nachbarin
liebe Angélica konnte nicht kommen mein Hund
ist gestorben und danach auferstanden und zu Himmel gefahren
hatte den ganzen Nachmittag mit den Feuerwehrleuten zu tun
mit den Drehleitern von Magirus
liebe Angélica konnte nicht kommen der Bankautomat
hat meine Karte verschluckt ich hab mich beim Wächter
beschwert der in Wirklichkeit Bankräuber war er hat mir meine
Geldbörse geklaut vor Schock habe ich jetzt Amnesie
(aus: liebe Angélica)
So Frau zu sein, wie frau will, will uns Freitas sagen, ist ein immerwährender Kampf gegen die Absurdität des Lebens. Sie hat sich entschieden, dagegen mit Witz, mit Aberwitz, mit Nichtsdestotrotzwitz anzuschreiben und zu agieren, um überleben zu können.
Sie ist dabei die Clownin, die sich der Traurigkeit des Momentes und des Ernstes vollkommen bewusst ist. Über ihr Schreiben sagt sie
ich wollte keine falsche
Lesart
doch Poesie ist immer
falsche Lesart
(aus: Metonymie)
Das Cover (Zeichnung: Ihsan San) schaut mich erwartungsvoll an, fragt: Bist du nicht schon in die Falle getappt? Dass deine Lesart richtig ist, das glaubst du ja nicht wirklich, oder? Ich besorge es mir lieber selbst, da brauch ich nicht auf dein freundliches Wort, auf deine zärtliche Berührung zu warten. Ich kann immer kommen.
ich schlaf mit mir/schlaf mit mir auf dem bauch/auf der rechten
seite liegend schlaf ich mit mir/eng umschlungen schlaf ich
mit mir/keine nacht ist so lang dass ich nicht mit mir schlafe/wie
ein barde der sich an seine laute klammert schlaf ich mit mir/unterm
sternenhimmel schlaf ich mit mir/ich schlaf mit mir während die anderen
geburtstag feiern/manchmal schlaf ich mit brille mit mir/und selbst im
dunkeln weiß ich dass ich mit mir schlafe/und wer mit mir schlafen will
muss neben mir schlafen.
(ich schlaf mit mir)
Die Einsamkeit, sie liegt in mir, sie liegt neben mir. Zuweilen nachdenkliche Töne, die schnell wieder weggewischt werden müssen zugunsten einer Formel für Glanz und Gloria. Ein Möbiusband.
denn eine gute Frau
ist eine saubere Frau
und ist sie eine saubere Frau
ist sie auch eine gute Frau
(aus: eine saubere Frau)
Odile Kennel übernimmt Freitas‘ Witz in das Sprachspiel ihrer Übersetzungen. Wo nicht inhaltlich ausstaffiert, wird die Situation der Frauen (innerhalb und außerhalb der LGBTI*-Szene) in Brasilien und weltweit durch lustvolle Reimerei bis hin zur Blödelei über(genau nachge)zeichnet. Der wahre Kern in der Hülle der Denunziation.
sie sagt wirre
Dinge und schreibt nichts
Sinnvolles
erleichtert nicht die Massen
betört keine Kobras
(aus: eine Schlange mit dem Maul voller Colgate)
Es geht Freitas um Konstruktionen. Wie menschliche Körper gebaut sind, das ist nicht die Frage. Vielmehr: Wie ist die gesellschaftliche Rolle der Frau in einer von Männern dominierten Welt? War hat Zugriffsrechte auf diese Konstruktion? Auf die innenliegende Statik? Und wer bestimmt Face, Fassade: die Oberfläche?
die Frau muss im Grunde
ein Wohnkomplex sein
alles ist gleich
alles gleich verputzt
nur jeweils anders gestrichen
ich persönlich bin eine Frau
mit Backsteinfassade
bei der Eigentümerversammlung bin ich meist
am schlechtesten gekleidet
(aus: die Frau ist eine Konstruktion)
Kennel liefert zwei Fassungen des titelgebenden Gedichts. In der zweiten Fassung, als Fußnote gesetzt, wird der Uterus durch die Gebärmutter ersetzt und das Sprachspiel auf die Spitze getrieben. Kennel verwischt hier die Grenze zwischen Übersetzung und eigener Lyrik, sagen wir, sie schreibt, im Einverständnis mit der Autorin Freitas‘ Gedicht weiter, verdeutscht es und verdeutlicht es. (Freitas spricht etwas deutsch, sie hat es sich vor vielen Jahren angeeignet, aber dann wieder verlegt. 2020/2021 ist sie als Stipendiatin des DAAD-Künstlerinnenprogramms in Deutschland. Sie wird an Kennels zweiter Version sicher auch ihre Freude haben.)
Unterarten der Gebärmutter:
Geisbärmutter
Gebraunbärmutter
Geschwarzbärmutter
Gelippenbärmutter
Gekragenbärmutter
Gemailaienbärmutter
Gepandabärmutter
Gekoalabärmutter
(aus: Der Uterus ist so groß wie eine Faust)
Das klingt nach vom Aussterben bedrohten Tierarten. Ich denke aber an geschlechtsselektive Abtreibung und die Tötung weiblicher Babys kurz nach der Geburt in Teilen von Indien (und andernorts) und die damit verbundende Dominanz männlichen Nachwuchses. Es wird mir deutlich, wie nahe wir mit Wortakrobatik an eine gefährliche Entwicklung heranreichen, die von Dummheit und Ignoranz, von Machtwillen vorangetrieben wird. Hier werden tradierte Handlungsmuster zum Verbrechen: weiblicher Fetozid und postnataler Femizid.
***
Haustiermaus: klein, puschlig, unruhig
Die gleiche feministische Richtung mit einem Angélica Freitas gegenläufigen humorfreien, ernsten und schmerzverzerrten Sound verfolgt die Russin Galina Rymbu, die 2018 in die Ukraine emigrierte, in ihrem Text Meine Vagina (deutsch von Jan Schaldach).
Der Schmerz wird nicht durch Scherz weggekürzt, sondern breitet sich aus, ergießt sich über die Zeilen.
[…] Und der Sohn bepinkelte mir sofort die Brust und den Bauch
und die Welt wurde zu meiner wunden Vagina, zu dem Sohn, zu seinem heißen Strahl,
seinem nassen, warmen Kopf, meinem leeren
Bauch.
Rymbus Monolog wird zu einer politische Kampfansage.
Die Revolution mit der Vagina machen.
Die Freiheit durch sich selbst machen.
Das Gedicht versteht sich als Beitrag zur Unterstützung der russischen LGBTI*-Aktivistin Yulia Tsvetkova. Amnesty International fordert dazu auf, für sie Briefe gegen das Vergessen zu schreiben.