Rozalie Hirs: „Ein Tag | Een Dag“

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Buchmesse Frankfurt am Main 2016:
Gastland Flandern und die Niederlande

Bei der ersten von hochroth und vom gutleut verlag organisierten Lyrikbuchhandlung während der Frankfurter Buchmesse lernte ich am zweiten Abend Rozalie Hirs, Komponistin und Lyrikerin aus Amsterdam, kennen.

hochroth hatte bereits 2014 mit Ein Tag | Een Dag ihre Lyrik als bilinguale Auswahl von Gedichten aus verschiedenen niederländischen Bänden ins Deutsche gebracht.

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Arundhathi Subramaniam: „Die Stadt brandete gegen mich“

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Die edition offenes feld legt mit Die Stadt brandete gegen mich Gedichte der indische Autorin Arundhathi Subramaniam in deutscher Übersetzung vor.

Die Auswahl aus den englischsprachigen Bänden Where I Live. Selected Poems und When God is a Traveller (Bloodaxe, 2009 bzw. 2014) lag in den Händen des Übersetzers und Schriftstellers Jürgen Brôcan.

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John Burnside: „Anweisungen für eine Himmelsbestattung“

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John Burnsides Anweisungen für eine Himmelsbestattung

Iain Galbraith, 2015 für seine Arbeit als Übersetzer mit dem Popescu European Translation Prize ausgezeichnet, mutmaßt in seinem Nachwort zu der von ihm ausgewählten und übersetzten Lyrik des schottischen Schriftstellers John Burnside, dass die Übersetzung von „home“ als „Zuhause“ oder „Heimat“ zu gemütlich anmutet und die Komplexität des Wortes für Burnside nicht abbildet. Gerne möchte ich Galbraith mitnehmen ins Kunstmuseum Moritzburg nach Halle (Saale) und ihm Einar Schleefs Gemälde „Zuhause“ zeigen. Der Text, den Schleef auf dem Gemälde festgehalten hat, tilgt jeden Gedanken an Gemütlichkeit und lässt einem einen kalten Schauer den Rücken runterlaufen.

Zuhause das sind die Eltern, der Vater, die Mutter, der Schulweg, das Kino, die Dörfer, das Gestrüpp, die Stadt, die man sein Leben nicht loswird. Nie mehr zurück, das verwinden, fliehen bis man ein eigenes Zuhause hat, was einen erstickt und auffrißt.

Die Worte des Deutschen beschreiben mit dem Generationssprung von Kind zum Erwachsenen das, worum es auch dem Schotten geht: Die Spiegelung des Ich in den Rollen, die das System Familie zur Verfügung stellt.

Man kann dies aus Burnsides berührenden Roman „Lügen über meinen Vater“ (2011) ebenso wie aus der hier vorliegenden Lyrikauswahl Galbraiths, als Schnellnachweis mögen die beiden Gedichte „Hall of Mirrors, 1964“ und „Spiegelkabinett, Berlin, 2012“ genannt sein, herauslesen.

Was ist „home“ für Burnside, wenn es sich nicht um einen Ort süßlich-klebriger Erinnerungen handelt? Und welche Trigger eröffnen die (Ein-)Sicht auf den Kampf, der, ausgetragen in fernen Tagen, noch heute lebendiges Echo generiert? Mit diesen beiden Fragen, die so etwas wie einen Gegenentwurf zu den „Madeleines de Proust“ provozieren, möchte ich bei der Lektüre der Gedichte auf die Suche gehen nach etwas,

das nicht mehr und nicht weniger angemessen ist als alles andere
das wir brauchen, um in der Welt zu Hause zu sein.
(aus: Häfen)

Um bei dieser Suche Erfolge vorweisen zu können, muss ich die Ordnung durchbrechen, jene, die die Herausgeber vorgegeben haben in der Anordnung der Gedichtauswahl. Nicht mehr die Qualität des Einzelgedichts – sie ist durchgehend hoch, gleich, ob es sich um kurze Gedichte oder zyklische Langgedichte handelt – spielt eine Rolle, sondern die Qualität der Zwischenräume, die die Bilderwelt Burnsides eröffnet. Weil eben mehr dahinter steckt, als eine äußere Ordnung, die uns Menschen ohnehin fremd ist, von der wir uns aber dennoch allzu leicht, allzu gern beherrschen lassen, müssen wir an Stellen suchen, die uns abwegig erscheinen. „Home“ ist nicht die Anordnung von Wänden und Decken, nicht diese Art Behaustsein, die noch keine Identität, keine Geborgenheit liefert – solcherlei wird in keinem Architektenvertrag zugesagt, sondern das Wechselspiel von An- und Abwesenheit, das Hin- und Hergeworfenwerden in einer fühlenden Welt, deren Auslöser leblose Gegenstände oder oftmals Geräusche und Gerüche sind. Was ich versuche, meine eigene Haltlosigkeit in jenem Haus meiner Familie umkreisend, auszudrücken, etwas ratlos, hilfsbedürftig, sagt John Burnside beispielsweise so:

Es steckt mehr dahinter, als ich dachte –
mehr als das Haus oder unser stilles Bett,
wenn keiner da ist,
mehr als das Buch mit der Schrift nach unten,
das du auf den Küchentisch gelegt hast,
das Haarknäuel in der Bürste, der Wust an Klamotten
– zu einem Zuhause gehört mehr,
als ich je erwartet hätte:
ein Prozess des Ausgrabens, Suchens
nach etwas in mir, das gegen
die Kälte des anderen zu setzen wäre,
gegen das Echo, das du nicht hörst, wenn ich lauschend innehalte,
[…]
(aus: Siedlungen, III Brunnen)

Was ist unter dem Stapel Klamotten abgelegt? Was findet sich zum Beispiel an schmutzigen Kindersocken, die tagelang in den Ecke darauf warten, dass einer kommt, um sich zu erinnern. Sich zu erinnern an das eigene Kinderzimmer, die gleichlautenden Mahnungen aufzuräumen, die Socken nicht aufgerollt in die Waschmaschine zu stecken, denn der Knotentest, höre ich meine Mutter, als stünde sie gerade jetzt neben mir, das sei nur ein Trick aus der Werbung.

Es finden sich abgelegte Emotionen, die sich plötzlich Bahn brechen, absichtslos und ungeschminkt. Diesen Satz schreibe ich mit einer gehörigen Portion Ratio, während ich versuche, meine Kindersocken-Emotion unter Kontrolle zu bringen, die Tränen, die gar nicht wissen, ob sie eine glückliche oder tieftraurige Erinnerung beweinen, trocken zu wischen. Das gelingt, zweifelsohne, aber dieses kurze Beben, das meinen Körper eben erfasste, war da und wirft die Frage auf, ob ich weiterhin äußeren Ordnungen folgen will (also die Socken meiner Kinder entrollt in die Waschmaschine gebe: Kontinuität) oder es aber einfach anders mache (rein, wie es kommt, vielleicht hat die Werbung ja doch recht: Diskontinuität).

Ich könnte mich der Tränen schämen,

doch Zuhause ist der Ort, wo alles geschieht: Panik und Freude,
die Begegnung mit dem Gott, der Gestank des Ziegenbocks;
haarlose Engel, die aus dem Regen treten;
hier, in einem Waldstreifen auf der Fahrt nach Norden,
durch alles, was ich schon einmal gesehen und gehört habe
(aus: Ny-Hellesund, IV Rückkehr)

mit diesen und den folgenden Worten stärkt der Schotte meinen Rücken

und nichts ist wahrer als das Dunkel von Zuhause:
Verandalampen, denen wir Namen gaben, Erbsenfelder, Kreuzungen;
Rehweg und Laichstelle, Vogelwanderung und Todesskurve,
wie sich die weite Nacht
auf Lagerfeuer und Molkereien reduziert,
oder Hockey-Juniorenteams in Rot und Blau
das perfekte Spiel
in einem Kreis von Regen proben.
Das ist eine Karte der Ewigkeit, alles Beben und Fallen:
ein Körper aus Feuer, ein Funkeln der Sterne in der Ferne,
Aale auf einem Treidelpfad, die das Gras zwischen Flüssen aufzeichnen,
die verblassende Schönheit des langen Heimwegs
und, irgendwo im Traum von diesem Traum,
das Haus hinter den Häusern, an die ich mich erinnere,
Froschhaus, Sternhaus, Haus aus Seide und Knolle,
die Scharen der Besucher, die hier kommen und gehen,
mit ihrem Hauch von Waldgrün oder Wassergrün:
Gestalten, die ich durch Panik oder Freude hindurch erblickte:
Handflächen und Blicke, die ein Scheinwerfer streifte,
Stachelgräten, weißer als Kalk, in den Nähten des Wetters
(aus: Ny-Hellesund, IV Rückkehr)

Bei der Verortung von „home“ geht es ja um nichts weniger als eine Abgrenzung von Gegenwart und Vergangenheit, also in existenzieller Weise um Leben und Tod. Fasziniert schreibt Burnside über ein totes Rind, das sein Nachbar John gefunden hatte, eine konservierte Hülle, „im Leerraum des Schädels urzeitliche Stimmen“. John will den Kadaver fotografieren, „doch die ersehnte Aufnahme / war nicht zu machen.“ Das erinnert mich an meinen gescheiterten Versuch, den Kadaver eines Zebras zu dokumentieren. Ich stand in Namibias Buschlandschaft und vertiefte mich in Details der Fellzeichnung, des Skeletts, das nicht eine Spur von Eingeweiden, nur noch Leerraum umschloss, in die nicht gefressenen und nicht verwesenden Wimpern des Tieres, so als könne ich mittels Fotografie Abwesenheit erfassen, eine Abwesenheit, die ich von zu Hause kannte, jenem zerrissenen Wort, das keine Familie barg und schützte. Meine Tochter stand wenige Meter entfernt und der immer noch verhandene fürchterliche Verwesungsgeruch schlüpfte in ihre junge Nase. Was wird die Erinnerung an das tote Tier später bei ihr auslösen?

Glücklicherweise ist Burnsides Sprache und die Arbeit des Übersetzers nicht so limitiert wie die Zeichenanzahl dieser Rezension. Es ließen sich noch viele weitere Les- und Sprechwege finden, die „home“ im Kinderlachen, im Duft von Wiesenblumen oder in den „Regentropfen am Fenster des Fischladens“ erkennen würden. Diese anderen Wege führten jedoch am Ende zur gleichen Feststellung: Burnsides Gedichte sind Weltliteratur, die

wir brauchen, um in der Welt zu Hause zu sein.
(aus: Häfen)

 

Adriaan van Dis: „Nathan Sid“

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Die 1983 erschienene Novelle Nathan Sid des 1946 geborenen, niederländischen Schriftstellers Adriaan van Dis (deutsche Erstausgabe 1988, Übersetzer: Siegfried Mrotzek) ist von betörender Schönheit.

Da schreibt ein Erwachsener das Buch der eigenen Kindheit, gibt seiner Einsamkeit, seiner Traurigkeit, seiner Verlorenheit Raum, viel Raum, und versteht es doch, in luftig geschriebenen Kapiteln so etwas wie eine frohe Erinnerung aufzunotieren. Das ist zauberhaft, gerade weil die Kindheitsbilder nicht zuckersüß sind, keine Madeleines de Proust! Sie neigen nicht zur Verklärung, sondern sind sauer, sind gallig. Im wörtlichen Sinne, denn der an Hautausschlägen leidenden Junge wird mit Ochsengallenseife, Zitronensaft und Essigwasser gereinigt. Ma Sid, die fürsorgende Mutter, singt dazu die Verse:

Saures reinigt, Saures peinigt.
Saures im Blut, Saures gegen Eiter,
Saures gegen Furunkel, Karbunkel,
Saures kratzt nicht weiter.

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Víctor Rodríguez Núñez: „Mit einem seltsamen Geruch nach Welt“

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yo soy un tojosista / ich bin ein dichter der sperlingstauben
Das Bekenntnis des Víctor Rodríguez Núñez

Columbina passerina, das Sperlingstäubchen, ist ein sehr kleiner Vertreter seiner Familie, der in Süd-, Mittel- und im südlichen Nordamerika anzutreffen ist. Udo Kawasser, der gemeinsam mit dem kubanischen Dichter Núñez für den vorliegenden Band Mit einem seltsamen Geruch von Welt aus neun Gedichtbänden zwischen 1979 und 2011 die Auswahl getroffen und die Gedichte ins Deutsche übertragen hat, fragte den Autor bei der Lesung auf der Leipziger Buchmesse am 20.3.2016, was hinter dieser Metapher steckt.

Núñez rückt in seiner Lyrik das Landleben in den Fokus und gehörte damit zu einer Gruppe von Poeten, die von den urban geprägten Dichtern Havannas als tojosista abqualifiziert wurden. Der so mit Polemik überzogene Dichter reagiert noch 2011 in seinem Gedicht orígenes aus dem Band tereas mit der Zeilen:

[…]
yo vengo de otro sueño donde los gallos cantan /
ich komme aus einem anderen traum in dem die hähne krähen
[…]
yo soy un tojosista no te olvides /
ich bin ein dichter der sperlingstauben vergiss das nicht
[…]

Es bedarf nur sehr geringer Kenntnis der spanischen Sprache, wie ich sie habe, um zu wissen, dass das Ich, das yo, in beiden Sätzen weggelassen werden kann, ohne den Gesamtsatz zu ändern. Die deutsche Übersetzung bleibt identisch. Das grammatikalische nicht notwendige yo (soy und vengo legen eindeutig 1. Person singular fest) verschiebt den Satz hin zum Ich und betont es, hebt es ab, stellt es heraus. Die Kenntnis dieser sehr einfachen Grammatik wird hier zum Bekenntnis des Schriftstellers über seine Herkunft, die er gegen die Líricos coloquiales, die Alltagsdichter in Kawassers Übertragung, abgrenzt. Das deutsche Wort erscheint harmlos, ein Blick ins Wörterbuch: coloquial = umgangssprachlich, salopp, das verrät etwas mehr über den Plauderton der urbanen Eliten, die den Blick auf die Natur, die Erdung verloren haben.

Bevor ich Núñez‘ Band aufmerksam nach Spuren der Sperlingstaube durchsuche, muss ich zunächst eine Filmsequenz loswerden, an die ich schon seit Tagen denken muss, ohne zu wissen, ob mich das Aufleben der Szenerie in meiner Kritik und der damit verbundenen Annäherung an die Dichter der Sperlingstauben voranbringt oder aber in die Irre lenkt. Ich bekenne offen, meine Kenntnis der kubanischen Literatur, insbesondere der Lyrik, ist unzureichend. Dem kann ich nur meine Neugier, mein unschuldiges Interesse entgegensetzen.

Julian Schnabel überlagert am Ende seines Filmes Before Night Falls (2000) über den Schriftsteller Reinaldo Arenas Szenen des nächtlichen New York, die Stadt, in der Autor 1990 an den Folgen seiner HIV-Infektion starb, mit dem Land, in dem er aufwuchs. Wir sehen ein Kleinkind in einem Schlammloch, irgendwo in einem kubanischen Dorf, das aus einfachen Behausungen besteht. Die Kamera kreist um das Kind, während aus dem Off Musik und ein biografischer Text von Arenas eingesprochen wird. Es entsteht, getragen durch die Poesie des Sterbenden, ein Sog hin zum Ursprung, der Abstammung vom Land. Und Armut und Reichtum werden kräftig durcheinandergewirbelt durch die existenzielle Gewalt der Sprache. Arenas eröffnet seine Biografie mit den Worten:

I was two. I was standing there, naked. I bent down and licked the earth. I used to eat dirt with my cousin Dulce Maria, who was also two. I was a skinny kid with a distended belly full of worms from eating so much dirt. We ate dirt in the shed. The shed was the next place to the house where the animals slept, that is, the horses, the cows, the pigs, the chickens, the sheep.

Sollte die Erwartung geweckt worden sein, dass sich die Trennungslinie der beiden Poesien in einfacher Weise durch die Sprache zieht, hier eine städtische, dort eine naturbelassene, so zeigt uns Núñez schnell auf, wie unzureichend solche Konstrukte bleiben:

[…] Jemand könnte sagen / Vernünftig und kalt / die Verse nackt und schlecht zugeschnitten / keine Landschaften / – er der anfangs verrückt nach Landschaften war – / kaum etwas von Frische / und Vorstellungskraft und Metaphern / Ein Waisenkind der Poesie / Ich bin / wenn sie erlauben / ein Uhrmacherlehrling gebeugt / über die kaputte Aufzugsfeder dieser Welt […] (aus: Nächte, in: Nachrichten eines Einsamen, 1987)

Das Gedicht Manifest aus dem gleichen Band belegt das Missverhältnis zwischen dem, was der Dichter sagen möchte (Me gustería decir) und dem, was er aber sagen muss (Pero debo decir). Die widerstrebenden Kräfte wirken in den Satzbau hinein und es entsteht aus dem unterdrückten Schrei und den Sprechvorgaben des Dogmas ein Mischwesen, eine Utopie:

Gebt der Revolution ihre Flügel zurück

Núñez fragt die Alltagsdichter am Ende des Gedichts, ob nun die Rechnung bezahlt ist. Was genau meint diese offene Rechnung. die nach Abrechnung klingt?

Ein Schlüssel zu dieser Frage könnte das innige Verhältnis zu der Mutter sein, die im Alter von 28 Jahren ihren Sohn Víctor in Havanna geboren hatte. Mit diesem Fakt, Geburt 1955, beginnen die im Internet verfügbaren Informationen über den Autor. Es macht schon etwas Mühe, Spuren der Familiengeschichte zu finden. Auf einem Blogbeitrag des Birmingham Book Festivals 2011 findet sich der Hinweis:

Despite having roots in Galicia, North Spain, the poet’s family opted not to speak Galician as they wanted to be one hundred per cent Cuban.

Liegt die Ausgrenzung der Alltagsdichter im Falle von Núñez hier verborgen: eine Familie, die in ein anderes Land kommt, in eine andere Gesellschaft, sich der Revolution verpflichtet und die doch nicht dafür belohnt wird?

In den beiden Gedichten Ein ums andere Mal und Der Kapitän (in: Der Letzte auf dem Jahrmarkt, 1995) spricht Núñez über seine Eltern. Die Mutter, die

[…] eine Waise / Hausfrau Kommunistin Witwe ist / Alles machen sie meiner Mutter kaputt / Die Kindheit / den Stricksessel / die Ehe / Seht wie sie durch die Fensterläden herausschaut / die nicht vom Regen / sondern von ihrem eigenen Husten / und den fremden Tränen vermodert sind […]

Der Vater, ein

[…] alter Säufer / der das Leben meiner Mutter ruinierte […]

Die Mutter bleibt fest an der Seite des Sohnes. In einer unbedeutend erscheinenden Nebenbemerkung aus dem Band rückseiten (2011) lernen wir den Ursprung von Núñez‘ Poesie kennen:

[…] auf dem verwöhnten eis
frisst sich das murmeltier mit dämmerung voll
worte meiner mutter […]
(aus: [außenränder oder das murmeltier frisst sich mit dämmerung voll ])

Der Sohn trägt die Poesie der Mutter in die Welt. Er schreibt nicht, wie er bei der Lesung in Leipzig klarstellte, über Kuba, sondern von Kuba aus. Die Poesie lässt sich nicht von Systemen, Staaten, Nationen vereinnahmen; sie geht ihren Weg in die Welt und bleibt doch Familienerbe in einer eng definierten Sprache zwischen den Generationen.

y comienza un poema / sencillamente humano / Con raro olor a mundo

und beginnt ein Gedicht / ein einfach menschliches / Mit einem seltsamen Geruch nach Welt

Gleich wie fern kubanische Literatur erscheint, wie unbekannt der Autor mir auch nach einer wunderbaren Lesung, nach diesem lebhaften Wechselspiel zwischen Autor und Übersetzer in Wort, Gestik und Mimik bleiben wird, dieser Geruch ist nicht seltsam, nur seltsam vertraut und sehr willkommen.

György Dragomán: „Der Scheiterhaufen“

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Endlich mal ein Buch, das sich nicht über eine mangelnde Wahrnehmung und Anerkennung durch das deutsche und deutschsprachige Feuilleton zu beklagen braucht!

Einen Rezensionüberblick des 2015 auf Deutsch veröffentlichten Romans „Der Scheiterhaufen“ (Übersetzung: Lacy Kornitzer) des 1973 in Târgu-Mureş (Siebenbürgen, Rumänien) geborenen, der ungarischen Minderheit zugehörigen Autors György Dragomán, findet sich bei Perlentaucher.

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Literaturzeitschrift alba08: „Literatura chilena emergente / Aufstrebende chilenische Literatur“

alba08

In der Rezension zu Antonia Torres: Umzug – Mudanza habe bereits über die Literaturzeitschrift alba. lateinamerika lesen gesprochen. Die Ausgabe alba 08 widmet sich der zeitgenössischen chilenischen Literatur und bietet mit einer Sammlung von Kurzprosa, Romanausschnitten, Lyrik sowie Interviews und literaturhistorischen Essays eine kompakte Annäherung an die Literatur dieses südamerikanischen Landes.

Die Mehrzahl der 28 Autorinnen und Autoren sind in den siebziger oder achtziger Jahren geboren. In annähernd allen Beiträgen wird die Erinnerung beschworen. Es wird auch dem Außenstehenden deutlich, wie die chilenische Gesellschaft durch die Pinochet-Diktatur unterjocht wurde.

Ich werde anhand einiger Textbeispiele aufzeigen, wie dieses belastete Erbe durch die junge Generation verarbeitet wurde. Doch zuvor möchte ich Benjamin Loy, verantwortlicher Redakteur von alba 08 und Übersetzer mehrere Texte in dieser durchgängig zweisprachigen Ausgabe, fragen, wo er Unterschiede im Umgang mit dem totalitären Erbe erkennt. Er schreibt mir:

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Etgar Keret: „Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn“

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Die Bonusmeilen der Abwesenheit
Etgar Keret als Sohn und Vater

„Du bist auch ein Kind“, sagt mein Sohn und nimmt meinem Argument den Wind aus den Segeln, „das Kind deiner Eltern!“ Er strahlt. Er weiß, er hat ins Schwarze getroffen. Denn obschon mein Vater vor vielen Jahren starb und ihn nicht kennenlernte, hat mein Sohn Recht. Kinder erinnern uns daran, dass wir in einer Traditionslinie stehen, die über den Tod hinaus Gültigkeit hat. Und als Erwachsener zum Elternteil zu werden, bedeutet nichts anderes, als ein Kind zu sein und zeitgleich ein Kind wachsen zu sehen.

Etgar Keret hat ein Buch geschrieben, das über diese Erfahrung berichtet. Es sind, daran lässt der Titel keinen Zweifel, sieben gute Jahre, die den Schriftsteller den Weg seines Sohnes ins Leben und den Weg seines Vaters aus dem Leben beobachten lassen. Er tut das mit einer gehörigen Portion Humor, die oftmals ins Derb-Übertriebene abgleitet und mit der ich wenig anfangen kann. Ist dies ein Schutzmechanismus, der uns gerade zu Vätern gewordenen Männern davor bewahrt, angesichts dieser völligen Umstellung der Lebensumstände, haltlos zu werden und die Fassung zu verlieren?

„Wie jeder wahre Abhängige hat er hinsichtlich seiner Freizeitgestaltung nicht die gleiche Anzahl von Optionen wie andere – zum Beispiel ein gutes Buch oder einen abendlichen Spaziergang oder die NBA-Playoffs. Für ihn gibt es nur zwei Möglichkeiten: eine Brust oder die Hölle. ‚Bald wirst du die Welt entdecken – Mädchen, Alkohol, illegales Glücksspiel‘, sage ich, um ihn zu beruhigen. Aber wir beide wissen, dass bis dahin nur die Brust existieren wird. Zum Glück für ihn und für uns hat er eine Mutter, die mit zweien davon ausgestattet ist. Worst-Case-Scenario: Wenn eine versagt, gibt es noch eine zum Ersatz.“

Klingt gut, locker-flockig geschrieben, aber eine sehr vereinfachte Sicht. Bei einem Milchstau haben alle in der Familie ein Problem: die Frau hat Schmerzen, das Kind schreit und der Mann sucht verzweifelt nach Quark im Kühlschrank.

Über die drei ersten Lebensjahre von Lev erfahren wir wenig, der Vater scheint weg weit, irgendwo unterwegs auf Lesungen und Literaturfestivals in der ganzen Welt. Wir lesen Geschichten, Anekdoten aus dem Leben eines Schriftstellers, die nicht selten eine unangenehme Ich-Bezogenheit ausatmen. Oder wir erleben den Autor über den Wolken als Vielflieger, versunken in Meditationen über den Inhalt der hochglänzenden Tax-Free-Magazine, wo er einen „unerklärlichen Anfall von Ernsthaftigkeit“ erlebt.

Glücklicherweise nehmen diese Anfälle zu. Je älter der Sohn wird, desto reifer, zärtlicher spiegeln sich im Buch Kerets Reflexionen über seine Doppelrolle als Vater und Sohn. Dabei geht der Humor nicht verloren, er wird feiner. Ich lese das als einen Annäherungsprozess, den ich als Vater gut nachvollziehen kann, als Leser nachvollziehen darf.

„Die Helden der Gutenachtgeschichten meines Vaters waren immer Trinker und Prostituierte, und als Kind hatte ich sie sehr, sehr gern. Ich wusste noch nicht, was ein Trinker und eine Prostituierte eigentlich waren, aber ich erkannte Magie, wenn ich sie sah, und die Geschichten meines Vaters waren voller Magie und Mitgefühl. Und jetzt, über sechzig Jahre später, stehe ich also hier, nicht weit von der Welt der Geschichten meiner Kindheit.“

Im Kapitel „Heldenverehrung“ nähert sich Keret seinem großen Bruder, es ist ein weiteres Beispiel für die leise Zärtlichkeit, mit der die Familie uns vorgestellt wird, „ohne die Stimme heben zu müssen.“ Diese Tonlage berührt mich.

Die Frage nach Abwesenheit ist vordergründig eine, die sich auf die Rollenverteilung innerhalb der Familie bezieht, das, was in der deutschen Gesellschaft heute unter dem Stichwort „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ diskutiert wird, zu selten von Männern. Kerets Buch vermittelt den spröden Eindruck, die Erziehung Levs sei hauptsächlich Sache seiner Frau.

Aber Abwesenheit hat hier eine weitere, tiefere Dimension. Kerets Eltern sind Überlebende der Shoah.

„Als Kind habe ich mir oft Polen vorgestellt. Meine Mutter, die in Warschau aufgewachsen war, hatte mir viele Geschichten über die Stadt erzählt, über den Jerusalem Boulevard (Aleje Jrozolimskie), wo sie geboren worden war und als kleines Mädchen gespielt hatte, und über das Ghetto, wo sie ihre Kinderjahre mit dem Kampf ums Überleben verbracht und ihre ganze Familie verloren hatte.“

„Während des Zweiten Weltkriegs versteckten sich mein Vater, seine Eltern und noch ein paar Menschen fast sechshundert Tage in einem Loch im Boden in einer polnischen Stadt. Das Loch war so klein, dass sie darin weder stehen noch sich hinlegen konnten, sondern nur sitzen.“

Ein Ort, an dem man stehen, sitzen und liegen kann, ist das nach Keret benannte Haus des polnischen Architekten Jakub Szczesny, das 2012 fertiggestellt wurde und mit 4,09 Quadratmeter als das kleinste Gebäude der Welt gilt. Es markiert als minimalistische Architektur und Mahnmal den ehemaligen Zugang zum Warschauer Ghetto, den Kerets Mutter nutzte, um Lebensmittel ins Ghetto zu schmuggeln. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts tat die polnische Regierung wenig, um die verbliebenen Baureste des Ghettos vor dem Zerfall zu schützen. Gedenktafeln und im Boden eingelassene Verläufe der Ghettomauer ermöglichten erst um etwa 2010, das Gedenken an das Ghetto zu visualisieren und im Stadtbild zu bewahren.

„Als ich aus dem Café zurückkomme, wartet am Eingang eine Nachbarin auf mich – eine Frau, die sogar noch älter ist als meine Mutter und Einmachgläser in Händen hält. Sie lebt auf der anderen Straßenseite, hat von dem schmalen Haus gehört und will den neuen israelischen Nachbarn mit hausgemachter Marmelade begrüßen.“

Eingedenk der perfiden Strategie der Deutschen, die Juden im Warschauer Ghetto zu Beginn der Deportationen im Juli 1942 zum Umschlagplatz zu locken – es wurde jedem, der dort freiwillig hingeht, Brot und Marmelade versprochen – ist diese hausgemachte Marmelade einer alten Frau aus Warschau eine irritierend wertvolle, vielleicht eine sich mit der Geschichte aussöhnende Metapher für An- und Abwesenheit.

Keret gelingt ein lebendiges Bild der israelischen Gesellschaft, die sich zwischen Bedrohung, Krieg und Hysterie, Modernität und tiefer, dem Autor suspekten, Religiosität bewegt. Als die Luftschutzsirene ertönt, wirft sich Familie Keret in den Straßengraben. Lev will nicht, bis der Vater das Sandwichspiel vorschlägt: Vater und Mutter sind die Brotscheiben, Lev der Belag (Pastrami: geräuchertes, rotes Fleisch!). So führt die Bedrohung zur Nähe, zur Anwesenheit, die sich das Kind fortwährend wünscht, gepresst zwischen Vater und Mutter, die ihre Körper als Schutzschilde anbieten.

 

Phạm Thị Hoài: „Sonntagsmenü“

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„Sonntagmenü“ der 1960 geborenen vietnamesischen Schriftstellerin Phạm Thị Hoài versammelt elf Kurzgeschichten, die 1995 in deutscher Erstausgabe erschienen. Dieter Erdmann übersetzte die Texte ins Deutsche.

Das sind Sätze, die sich selbstverständlich hinschreiben, aber schon ungenau sind, was daran liegt, dass wir in der deutschen Sprache keine differenzierten Ausdrücke für Kurzprosa haben. Die Kurzgeschichte orientiert sich an der short story und meint eine ganz bestimmte Art der Kurzprosa. Die hier versammelte Kurzprosa unterscheidet sich in Länge, Tonart und Inhalt so sehr, dass es nicht leicht ist, diese Sprünge mitzuspringen.

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Drago Jančar: „Die Nacht, als ich sie sah“

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Der slowenische Schriftsteller Drago Jančar, 1948 im Maribor geboren, nimmt ein historisches Ereignis des Zweiten Weltkriegs auf, um in seinem neuen Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ die Frage nach Schuld und Wahrheit zu stellen.

Zu Beginn des Jahres 1944 wird ein Ehepaar von Partisanen aus einem Schloss in Slowenien gebracht. Die beiden werden der Kollaboration mit den SS verdächtigt. Leo Zarnik stirbt an Schlägen und Folterungen, Veronika, diese junge, attraktive, lebenshungrige und unabhängige Frau mehrfach vergewaltigt und schließlich getötet.

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Marjane Satrapi: „Persepolis. Eine Kindheit im Iran“

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Marjane Satrapi, 1969 in Rascht geboren, ist iranisch-französische Comiczeichnerin, die mit ihrer gezeichneten Autobiografie „Persepolis“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts weltweit bekannt wurde. Die deutsche Ausgabe von 2004 wurde von Stephan Pörtner übersetzt.

Diese Graphic Novel ist ein mutiges Buch, nicht weil Satrapi die politischen Bedingungen im Iran benennt, sondern weil aufzeigt wird, wie diese Bedingungen durch ihre Familie hindurch gewirkt haben, wie Menschen zu Tode gekommen sind, die dem heranwachsenden Mädchen sehr nahe standen.

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John Mateer: „Der Narbenbaum“

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Natives and Aliens

John Mateer und sein Gedicht Verbreitung aus dem 2015 bei hochroth erschienenen Band  „Der Narbenbaum“ geben Anlass, über Einheimische und Fremde nachzudenken.

Das Gedicht stellt die ausschließlich in Australien beheimatete Banksia, eine Pflanzengattung innerhalb der Silberbaumgewächse in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Schnell finden sich im Internet Abbildungen der verholzten Zapfen und der durch die große Hitze der Buschfeuer aufgesprungenen Früchte des Fruchtstands. Jetzt weiß ich endlich, was ich vor Jahren in einer Bucht von Sydney aus dem Wasser fischte und nicht zuordnen konnte: den Rest einer Banksia integrifolia, auch Honeysuckle, White Bottlebrush oder in der Sprache der Gunaikurnai (Gippsland Region) Birrna genannt. Fälschlicherweise lag der Fund bis eben bei Muscheln und Schneckengehäusen.

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